Momente großen Gesangs: Elīna Garança wird in der Philharmonie Essen gefeiert

Elīna Garança (Foto: Christoph Köstlin)

Perfekt, schlichtweg perfekt: Wie Elīna Garança die Arie „Mon cœur s’ouvre à ta voix“ aus Camille Saint-Saëns‘ „Samson et Dalia“ fließen lässt, erinnert an die größten Mezzosoprane der Gesangsgeschichte. Der Liederabend der Wiener Kammersängerin in der Philharmonie Essen wurde zum Ereignis.

Begonnen hat die lettische Sängerin im ersten Teil ihres Konzerts mit einem Liedprogramm. Von erinnerter, verschwiegener, verlorener Liebe sprechen die fünf Lieder von Johannes Brahms, denen sie Robert Schumanns Zyklus „Frauenliebe und Leben“ folgen lässt. Garança verbindet den dunkel leuchtenden Klang ihrer Stimme mit einer nie übertriebenen, aber auch nie dem schönen Ton opfernden Artikulation. Der diskret hoch über das Podium projizierte Liedtext ist in den meisten Fällen nicht nötig, hilft aber dem Verständnis und bewahrt vor dem Herumblättern im Programm. Ein Gewinn.

Garança gestaltet als Liedsängerin eher mit den Nuancen ihres abgerundeten Timbres als mit überdeutlicher Wortformung. So könnte der eine oder andere Konsonant prägnanter ausgesprochen sein. Aber wie sie in „Liebestreu“ eine fein nuancierte Dynamik einsetzt, um die Schlüsselworte „Lieb“ und „Treu“ zu akzentuieren, zeugt von eloquenter Gesangskunst. So färbt sie den Schlusssatz „Meine Treue, die hält ihn aus“ mit heroischem Ton zu einem trotzig-verzweifelten Bekenntnis.

Nächtlich duftende Stimmung

Kritik en detail trifft auf höchstes Niveau: „O wüsst ich doch den Weg zurück“ wird bei Elīna Garança zum poetisch sehnenden Zurückträumen in eine selige Kindheit. Dafür findet sie den zärtlich verhaltenen Ton. Aber wenn in der vierten Strophe zum zweiten Mal der Weg ins Kinderland beschworen wird, könnte die Vision eine Spur verhaltener, träumerischer erklingen. Dafür lässt sie die nächtlich duftende Stimmung der „Sapphischen Ode“ in verschattetem Timbre durch die Klänge wehen, ist sich am Schluss der erhabenen Größe des Moments bewusst. Und wenn in „Geheimnis“ die Blütenbäume flüstern, leuchtet die „Liebe süß“ am Ende schwärmerisch auf.

In solchen Momenten hat auch Garanças Klavierpartner Matthias Schulz innige Momente der Poesie und des Bei-Sich-Seins. Es kommt nicht oft vor, dass ein Intendant und Theatermanager – der Intendant der Berliner Staatsoper übernimmt 2026 das Opernhaus Zürich – eine Sängerin dieses Ranges begleitet. Aber Schulz hat am Mozarteum Salzburg Klavier studiert und offenbar seine pianistischen Fertigkeiten weiter gepflegt. Dass er Grenzen hat, wird in Schumanns „Arabeske“ op. 18 aber auch klar: Alle Sorgfalt der Artikulation und des Tempos verhindern nicht, dass die melodische Anmut oder die Frische der Bewegung in den „Kinderszenen“ op. 15/1 ein wenig matt bleiben.

Schumanns „Frauenliebe und Leben“ ist der Sängerin besonders ans Herz gewachsen, erzählt sie. Ihre Mutter, ebenfalls ein Mezzosopran, habe den Zyklus öfter gesungen. Elīna Garança kann „Seit ich ihn gesehen“ so zärtlich weltenthoben singen, dass der atemraubende Wirrwarr der Gefühle des frisch verliebten Mädchens im Klang der Stimme offen liegt. Die optimistisch verklärende Betrachtung des „Herrlichsten von allen“ strahlt in schimmerndem Mezzo-Gold auf. Ihr enthusiastischer Ton, die drängende Bewegung in der Stimme stellen den inneren Aufruhr unmittelbar dar, ohne dass Garança die Noblesse ihres Tons an künstliche Färbungen oder deklamatorische Schärfen verraten müsste. Berührend das tonlose Piano am Ende des letzten Liedes: Da hat sich ein Mensch wirklich in sein Innerstes zurückgezogen und ist „nicht lebend mehr“.

Oper in Feuerrot

Nach der Pause – wie es in Italien bei Gesangsrezitals stets erwartet wird – der Block mit den großen Arien, jetzt in feuerroter Robe. Zunächst heiße Liebesflammen aus Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“, gesungen mit saftiger Tiefe, einem phänomenalen Sprung über den Registerwechsel nach oben, einer blühenden Expansion, aber auch angestrengter Höhe. Dann die Arie der Dalila mit ihrer schmeichelnd-sinnlichen Glut in einem goldflüssigen Ton, der nicht freier, gerundeter, erfüllter erklingen könnte. Schließlich „Voi lo sapete“ aus „Cavalleria rusticana“, leidenschaftlich und wortsensibel, aber so edel geformt, dass der wilde Verismo Pietro Mascagnis – zu hören etwa bei seiner sich verausgabenden Uraufführungs-Santuzza Lina Bruna Rasa – nobel geglättet erklingt.

Das Finale sollte fröhlicher sein: Ruperto Chapí, Meister der spanischen Zarzuela, scheint seine charmanten Liebesgesänge der Garança auf die Stimme geschrieben zu haben, so edel, temperamentvoll und lebensfroh erklingen die beiden Stücke. Als Zugabe darf die Habanera der „Carmen“ nicht fehlen – wie bei der großen Teresa Berganza ohne Vulgarität, aber nicht so kühl dargeboten. Als sympathischer Gruß an ihre lettische Heimat eines der rund 600 Lieder und Liedbearbeitungen von Jāzeps Vītols, Gründer der lettischen Musikakademie, dem Institut, an dem Elīna Garança studiert hatte, bevor sie ihr erstes Opern-Engagement im thüringischen Meiningen unter der Intendanz der späteren Dortmunder Opernchefin Christine Mielitz angetreten hat. Herzlicher, langer Beifall.




Schamlose Klangfarben: Der Dirigent Klaus Mäkelä triumphiert mit Berlioz in der Essener Philharmonie

Klaus Mäkelä und das Orchestre de Paris in der Essener Philharmonie. (Foto: Sven Lorenz)

Klaus Mäkelä ist einer jener Shooting-Stars, die in der Klassik-Szene gerade willkommen sind. Denn die alte Garde der Dirigenten tritt allmählich ab und in der mittleren Altersgruppe sind charismatische Figuren rar.

Da steht er also zum ersten Mal am Pult der Essener Philharmonie, der 27 Jahre alte Finne Klaus Mäkelä, weltweit bei großen Orchestern gefragt und in vier Jahren Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouworkest. Man fragt sich: Ist es das Marketing, das die Aura erschafft? Oder baut der Ruf auf Ausstrahlung und Können auf? Bei seinem Kölner Debüt mit Mahlers Sechster am Beginn der Spielzeit 2022/23 hätte man Mäkelä gewünscht, mehr Zeit und Reife mitbringen zu können. Da lieferte er ein sinfonisches Hochglanzprodukt, das die existenziell aufwühlenden Tiefen der Musik überspielte.

Doch Hector Berlioz und seine „Symphonie fantastique“ zerstreuten nun den Verdacht, diese Dirigentenpersönlichkeit müsse sich erst noch ausformen. Da standen Präzision und Brillanz des Orchestre de Paris, das Mäkelä seit 2021 leitet, im Dienst der Sache. Und die heißt bei Berlioz: unbekümmerter Umgang mit der symphonischen Form, unerhörte Farben, ungeheure Rhetorik, ungeahnte Experimente in der Harmonik, von Robert Schumann einst als platt und verzerrt kritisiert. Der Deutsche hat Recht: Die gellende Gemeinheit des Hexensabbats steht – wie zwei Generationen später bei Mahler – nicht für die Raffinesse absoluter Musik, sondern für ein geradezu szenisch gedachtes Programm, dessen Radikalität viele entsetzte, aber andere wie Franz Liszt elektrisierte.

Fieberbrand mit Reserve

Alles beginnt mit einer gelösten Idylle: Mäkelä lässt den lyrischen Beginn sanft aufblühen, heimst erste Bewunderung ein für die fabelhaft abgestufte Mikro-Dynamik, an der sicher die Berlioz-Erfahrung des Orchestre de Paris ihren Anteil hat. Mäkelä hält klug die Reserven für die exaltierten letzten Sätze zurück, lässt den Fieberbrand des Berlioz’schen Opiumrauschs erst verhalten züngeln. Die heftigen Kontraste, die atemlose Rasanz haben zu warten. Der glühend aufgeladene Ton der Bässe oder das herrlich runde Blech: Sie haben ihre Höhepunkte noch vor sich.

Das Abmischen der Instrumentengruppen, das Verfließen der Farben, der intensive, mit vollem Bogen ausgekostete Klang der Streicher gelingen expressiv –ob sie sonor grundieren oder als dominierende Stimme hervortreten. Mäkelä evoziert mitreißende rhythmische Energie, kann das Orchester aber im Bruchteil eines Taktes zurückschalten in gelöstes Legato. Takt- und Rhythmuswechsel frappieren und lassen ahnen, wie Berlioz seine Zeitgenossen gefordert und überfordert hat. Der zweite Satz mit seinen Harfen-Effekten und seinem in verschiedenen Beleuchtungen schimmernden Walzer dirigiert er wie eine Opernszene, bedacht auf Rubato und pulsierenden Atem.

Im vierten Satz mit seinem unheimlich grellen Fagott-Marsch brechen dann die Gewalten herein, gefordert von Mäkeläs imperialen Gesten, seiner niedersausenden Faust, dem Aufstampfen mit dem Fuß. Dennoch drängt sich nie der Eindruck bloßen Effekts auf. Infernalischer Lärm und unwirkliches Filigran im Hexensabbat des letzten Satzes sind nicht unkontrolliert entfesselt. Sie folgen mit ihrer ganzen schamlosen Ausnutzung der Klangfarben einer wohlüberlegten Dramaturgie. Für Mahler mag Mäkelä noch manche Erfahrung sammeln müssen – mit Berlioz und dem phänomenalen Pariser Orchester legt er nahe, dass sein Ruf der Persönlichkeit entspricht. Zu hoffen ist, dass man von dem jungen Mann nach diesem Debüt auch in Essen noch hören wird.

Vom Schaum der Ekstase kaum ein paar Flocken

Janine Jansen und Klaus Mäkelä. (Foto: Sven Lorenz)

Vor der Pause ging es weit gesitteter zu: Jean Sibelius‘ Violinkonzert entbehrt zwar nicht der schwärmerischen Leidenschaft, aber selbst die prägnanten rhythmischen Passagen und die Ausbrüche des Orchesters im letzten Satz bleiben hinter dem Höllenritt von Berlioz zurück. Mäkelä emanzipiert das Orchester zu einem dynamisch wunderbar dosierten, mit kostbaren Farben spielenden Partner der Solistin. Doch die Geigerin Janine Jansen zeigt kein Interesse, ihre schlanke, bisweilen zu Blässe neigende Tongebung expressiv aufzuladen. Das „Espressivo“ will sich in ihrem abgemagerten Ton nicht einstellen, die schwer lastende, leidenschaftliche, mit edlem Sentiment getränkte Melodik des Adagio will Jansen entfetten, aber das löbliche Vorhaben verdünnt den Klang und überzeugt nur in den leisen Momenten. Im Finalsatz fliegen vom Schaum der Ekstase kaum ein paar Flocken.




Kent Nagano und Kit Armstrong überraschen in Essen mit Berlioz und Liszt

Kent Nagano. Foto: Leda and St-Jacques/Sony Classical

Kent Nagano. Foto: Leda and St-Jacques/Sony Classical

Über dem Konzert stand nicht die glutvoll goldene Sonne Italiens, sondern das kühle blaue Licht des griechischen Gebirges. Kent Nagano und das Orchestre symphonique de Montréal durchleben in der Essener Philharmonie Hector Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ nicht als fiebriges Passionsstück. Sie richten den Blick auf die Exaltationen, Leidenschaften und Schmerzen dieser ur-romantischen Komposition, als säßen sie auf den Rängen eines Amphitheaters, während unten eine Tragödie spielt. Eine erhabene Tragödie, kein heißblütiges Melodram.

Kent Nagano hat einen höchst präzisen, höchst reflektierten Zugang zu solchen Werken. Er ist kein „Bauch“-Musiker, der sich in die elegischen und grotesken, die hochfahrenden und depressiven Seiten hineinwirft, die Berlioz in fünf Sätzen aufblättert. Er betrachtet diese Seelen-Landschaft nicht, als habe sie Eugene Delacroix mit sattfarbigem Schwung auf die Leinwand geworfen, sondern als habe – sagen wir einmal – der Goethezeit-Maler Jakob Philipp Hackert eine ordentlich gegliederte, kühl beleuchtete Landschaft gemalt.

Oder, musikalisch gesprochen: Bei Nagano führt eher der lichte, erhabene Tonfall des von Berlioz hochverehrten Christoph Willibald Gluck Regie, nicht der brodelnde Hexenkessel eines Franz Liszt. Frisch und durchsichtig wirkt der Klang des Orchesters aus Montréal. Hier interessieren Entwicklungen, Dissoziationen von Klang und Form, Reibungen und Verschränkungen des Materials. Kochende Emotionen, Wahn und Rausch, Bizarres und Magisches treten unter diesem nahezu perfekt gestalteten Klanggewand nicht offen hervor: Es scheint, als verhülle ein kostbar-leicht gewebter Stoff ihre brutale Unmittelbarkeit.

Wer sich auf diesen distanzierten Zugang zu Berlioz einlässt, muss zunächst Askese üben: Das Idyllische und das Fiebrige im zweiten Satz haben keine Farbe. Der „Szene auf dem Lande“ fehlt der melancholisch träumende Duft, den eine spannungsreiche Agogik, das Spiel mit Pause, Fermate und melodischem Bogen erzeugt. In der psychedelischen Wahnwelt des Finalsatzes sind weder die klanglichen Extreme etwa von Klarinette und Fagott ausgereizt, noch spielt das – ausgezeichnet disponierte – Blech mal so richtig „dirty“.

Aber die Belohnung lässt auch nicht auf sich warten: Nagano weiß ja, was er tut, sein Tauschgeschäft zeitigt Früchte. Er führt konsequent weiter, was einst Lorin Maazel mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks schon einmal durchexerziert hat: Gegen alle Kritik an den formalen Dispositionen gibt er Berlioz vor dem Hintergrund Beethovens die Würde als Symphoniker zurück. Hier erklingt eben nicht romantische Stimmungsmusik, sondern trotz aller „idée fixe“ ein auch aus seiner Form heraus faszinierendes Werk. Und um diese Erkenntnis nicht durch den überwältigenden Effekt zu übertönen, übt Nagano überlegte Zurückhaltung. Die Münchner mochten ihn deswegen nicht – aber wer sagt, dass an der Isar das Urmaß musikalischen Denkens definiert wird?

Mit dem 21jährigen Kit Armstrong hat Nagano einen Partner für Franz Liszts Zweites Klavierkonzert gefunden, der es ihm in der Verweigerung des Naheliegenden gleich tut. Hei, wie könnten die Finger fliegen, wie könnte das Pathos prunken, wie könnte der mondäne Virtuose sein Publikum becircen! Nichts dergleichen bei dem sehr ernsten, einmal zu reif, dann wieder fast kindlich schüchtern wirkenden Armstrong: Wie absichtslos verwebt er die Arpeggien des Beginns aufs Delikateste mit dem Orchester.

Wie glücklich geben und nehmen sich die Musiker aus Montréal und der Solist die Motive und Stimmungen gegenseitig weiter. Wie geschmackvoll finden sich die kontrollierte Noblesse des Pianisten und der fein-sonore Ton des Solo-Cellos zu intimer Salonmusik zusammen. Hier wird eher über Liszt meditiert als Material lustvoll ausgestellt. Für jeden Freund saftigen Musizierens enttäuschend, wer aber subtile Zwischentöne und einen moderat-unkonventionellen Zugang liebt, wird reich beglückt. Auch in seiner Zugabe hält sich Kit Armstrong konsequent von virtuosem Auftrumpfen fern: eine zart sinnierende Liszt-Miniatur statt einer beifallheischenden Glanznummer.

Mit Claude Viviers „Orion“ bringt das Orchester einen Blick auf Kanadas zeitgenössische Musik mit: Der 1948 geborene Vivier studierte unter anderem in Köln bei Karlheinz Stockhausen, ließ sich von östlich-asiatischer Musik inspirieren und kam 1983 durch einen Mord in Paris ums Leben. Das knapp viertelstündige Werk, 1980 vom Montréaler Orchester unter seinem damaligen Chef Charles Dutoit uraufgeführt, setzt ausgiebig Schlagwerk ein, aber der Solo-Trompete ist vorbehalten, eine Melodie vorzustellen, die in sechs Abschnitten verarbeitet wird. Das klingt, wie es eben in den achtziger Jahren geklungen hat: tonal gezügelt, klangverliebt und in ahnungsvoller Ruhe meditierend. Ein Konzert, das in der Sicht auf Berlioz wie auf Liszt aufschlussreich ent-täuschte.




Romantischer Feuerkopf: Ein Berlioz-Programm mit Valery Gergiev in Essen

Hector Berlioz konnte kurzweilig und scharfzüngig erzählen. In seinen Memoiren schildert er, wie er einst auf den Pariser Grandes Boulevards François Adrien Boieldieu traf. Der Kollege, Autor hübsch-frivoler komischer Öperchen, bemühte sich zu erklären, warum Berlioz mit seinem Werk „La Mort de Cléopâtre“ beim Wettbewerb für den Rom-Preis gescheitert ist: zu neu, zu unerhört. Berlioz konterte, er hatte ja Seelennöte und Qualen darzustellen. Ein Argument, das der verbindliche Boieldieu, der mit seiner Musik angenehm und höchstens mit feiner Ironie unterhalten wollte, wohl nicht verstanden hat.

Valery Gergiev. Foto: Marco Borggreve

Valery Gergiev. Foto: Marco Borggreve

Trotz eines Abstands von bald 200 Jahren: Die Kantate, mit der sich Berlioz 1829 vergeblich um den begehrten „Prix de Rome“ bewarb, lässt spüren, wie irritierend ungewohnt, drastisch und direkt Berlioz Gefühle in Musik fasste: düstere Akkorde, originelle Rhythmen, beängstigende Ausgriffe an die Grenzen der Harmonik. Die ägyptische Königin Kleopatra beklagt, bevor sie sich von einer Schlange den tödlichen Biss geben lässt, den Glanz ihrer Vergangenheit, die Schmach ihrer aussichtslosen Lage und die Angst vor ihrem Schicksal nach dem Tode.

Das London Symphony Orchestra entlässt Berlioz‘ klagende Klänge, seine fahlen Farben, auch sein dramatisches Dröhnen mit Sinn für die feuerköpfige Romantik des Franzosen in den weiten Raum der Essener Philharmonie. Die Musiker treffen unter Valery Gergievs hochkonzentrierter Leitung den dunkel-feierlichen Schicksalston ebenso wie die unerbittliche Steigerung. Auch wenn Berlioz von Debussy bis Schreker viele würdige Nachfolger gefunden hat: sein visionäres Genie in der Erfindung unerhörter Klänge fasziniert bis heute. So gepflegt und satt timbriert wie Karen Cargill die Cléopâtre sang, mag man sich heute noch wundern, wie wenig sich die Herren der Pariser Akademie auf diese expressive Musik eingelassen haben. Berlioz hat den Rom-Preis übrigens doch noch gewonnen: ein Jahr später mit seiner Kantate „La Mort de Sardanapale“.

Grandvilles berühmte Karikatur von Hector Berlioz als  Orchester-Feldherr, publiziert in "L’Illustration" 1845.

Grandvilles berühmte Karikatur von Hector Berlioz als Orchester-Feldherr, publiziert in „L’Illustration“ 1845.

Im selben Jahr, 1830, und im selben Konzert am 5. Dezember erklang zum ersten Mal ein Werk, das zu den Marksteinen der Symphonie des 19. Jahrhunderts gehört: die „Symphonie fantastique“. Mit diesem romantischen Fieberwahn in Musik zeigten Gergiev und das LSO, dass das Erbe des unvergessenen Dirigenten und grandiosen Berlioz-Pioniers Sir Colin Davis – er spielte mit dem Orchester den ersten Berlioz-Zyklus überhaupt ein – in würdigen Händen ruht. Das Gastspiel in Essen ist Teil einer umfangreichen Berlioz-Reihe, die in der Barbican Hall in London begann und das Orchester u. a. noch in die Salle Pleyel nach Paris führen wird.

Valery Gergiev, neben Daniel Barenboim der mächtigste Dirigenten der Gegenwart, bekennt sich zur Musik des Franzosen: „In Berlioz‘ Orchester können zwei oder drei Vulkane in einem Moment ausbrechen“, schwärmt er in einem Interview. „Und da ist auf seiner Palette diese außerordentliche Vielfalt von Farben.“ Schon vor vierzig Jahren, so sagt Gergiev, seien Berlioz‘ Memoiren sein Lieblingsbuch gewesen – lange bevor er auch nur davon träumte, eines Tages seine Musik zu dirigieren.

Ein Bekenntnis, das in einer passionierten Interpretation seine Wahrheitsprobe besteht: In einem sparsamen Dirigierstil, mit gefassten, manchmal ungeduldigen Gesten, aber ohne jedes Show-Getänzel lockt Gergiev aus dem Orchester ein Höchstmaß an Konzentration und klanglicher Präsenz. Er zieht die große Linie intensiv aus, er füllt Details mit Ausdruck. So bauen sich schon die scheinbar nur koloristischen Zwecken dienenden Pizzicati der Kontrabässe in der Einleitung zum dynamischen Spannungsbogen auf.

Die Musiker des Londoner Orchesters sind auf der Höhe ihres Könnens. Dass die Holzbläser an manchen Stellen klanglich zurücktreten, mag der Akustik geschuldet sein. Dort, wo sie süße und schreckliche Schauer hervorrufen sollen, sind sie auf dem Plan: elegisch wie das Englischhorn, grotesk wie die irre kreischende Klarinette in ihrem fratzenhaften Solo. In Tempo und knalliger Dynamik fordert Gergiev Äußerstes: Er feuert den Walzer an zu einem bizarr verrenkten Tanz, lässt den Hexensabbat in klirrender Schärfe und krachender Wucht explodieren, setzt aber auch bleierne Erstarrung und müde-benebelte Klangvisionen an der Pianissimo-Grenze dagegen.

Die „Waverley“-Ouvertüre, Berlioz‘ Opus eins, zu Beginn des Konzerts, ist nicht nur ein Zeugnis seiner intensiven Lektüre von Sir Walter Scott, sondern auch eines für die Wurzeln des Komponisten: Die persönliche Handschrift ist noch stark grundiert von Erinnerungen an die klassisch-erhabene Klangwelt von Cherubini und Spontini. Und in der Zugabe, dem Marsch aus „La Damnation de Faust“, hören wir, wie sich Berlioz mit den Wurzeln der deutschen Romantik verbindet – eine Liaison, die ihm den Weg zu einem Förderer und Bewunderer geebnet hat: Franz Liszt.




Wie Eberhard Kloke in Essens Philharmonie Miltons „Verlorenes Paradies“ in Szene setzt

Ein ausgewaideter Oldtimer als Verlustsymbol, dazu Mahlers Musik und Endzeitgedichte von Heiner Müller. Foto: Sven Lorenz

„Paradise lost“: Ein ausgewaideter Oldtimer als Verlustsymbol, dazu Mahlers Musik und Endzeitgedichte von Heiner Müller. Foto: Sven Lorenz

Ein Wiedersehen mit Eberhard Kloke im Ruhrgebiet. Der Denker und Dirigent, Projektentwickler und Regisseur, Komponist und Arrangeur gibt sich die Ehre in Essens Philharmonie. Mit einer nahezu monströsen Collage aus Text, Bild, Musik, Installation und Performance. Nun, es geht ja auch um etwas. Um den gefallenen Engel, die Ursünde und die Vertreibung aus dem Paradies. Um einen Disput mit dem Teufel über die Existenz Gottes. Um Idylle und Zerstörung, Romantik und Realität. Kurz: Bei Eberhard Kloke geht’s mal wieder ums Ganze.

„Paradise lost“ heißt sein Programm, konzipiert nach dem gleichnamigen Gedicht des Briten John Milton, der in epischer Breite schildert, wie der Mensch aus dem Garten Eden verjagt wurde. Wir wissen um die Konsequenzen. Und Kloke führt sie uns in seiner dreiteiligen Inszenierung vor Augen, meißelt sie uns bisweilen in die Ohren, ja lässt sie uns an einer Stelle sogar riechen. Liebe, Glaube, Hoffnung – alles dahin. Kein Trost, nirgends.

Es beginnt mit Peter Schröder. Als Rezitator vorgestellt, ist er weit mehr: wunderbarer Schauspieler, exzellenter Wortakrobat und hinreißender Dialogpartner seiner selbst. „Seltsame Dinge werden geschehen“, zitiert er eingangs Edgar Allan Poe, um dann mit Heiner Müller ein langes Leben im Wohlstand dem Paradiese vorzuziehen. Später wird Schröder uns in aller Textverständlichkeit und Plastizität Milton nahebringen. Oder aus Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ den Alptraum Iwans – das halluzinierte Gespräch mit dem Teufel – aufs Schönste rezitieren.

Musikalisch setzt Kloke auf Werke von Charles Ives, Berlioz, Edgar Varèse, Ivan Wyschnegradsky, Mahler und Berg. Kein Ohrenschmaus im klassisch-romantischen Kontext also, vielmehr hochkomplexe Bekenntnismusik. Mit Ives’ „Dich, Gott, loben wir“, einer großorchestralen, klanggeschichteten, polyrhythmischen und vom Chor unterstützten Anbetung scheint die Welt noch in Ordnung. Doch der Brite schuf das Werk im Angesicht des 1. Weltkriegs. In Klokes Konzeptkonzert ist es also ein Dokument eben jener Zerstörung, die die Vertreibung aus dem Paradies auslöste. Zwei Naturbilder werden projiziert, wie aus dem Albumblatt. Dann fangen sie Feuer, bleiben angekokelt zurück: allüberall Symbolik.

Das ist penibel inszeniert, nichts scheint dem Zufall überlassen. Kloke setzt auf die Kraft von Bild und Ton, von Sprache und Licht. Das wirkt so intellektuell wie berauschend, erkenntnisfördernd wie verstörend. Zwischenbeifall weist der Künstler soweit möglich zurück. Ein bisschen, so scheint’s, setzt sich dieser freigeistige Macher auch selbst in Szene.

Schauspieler Peter Schröder in Aktion. Foto: Sven Lorenz

Schauspieler Peter Schröder in Aktion. Foto: Sven Lorenz

Vor seiner konzisen, zunächst absurd scheinenden, dann aber umso sinnfälligeren Performance namens „Über die Grenzen des All“ (das zweite der fünf Altenberg-Lieder Alban Bergs) darf allerdings getrost der Hut gezogen werden. Mulch bedeckt den Boden, gewissermaßen als stummer Zeuge ewigen Werdens und Vergehens, inmitten des kleinen Saals ein ausgewaideter Oldtimer. Schauspieler Peter Schröder, in der Kluft eines Automechanikers, sorgt sich offenbar um dieses Gefährt, berührt es mit sanfter Hand, umrundet es. Eine Art Götzenanbetung scheint dies, und dazu zitiert Schröder Endzeitgedichte Heiner Müllers. Währenddessen die exzellente Sopranistin Kim-Lillian Strebel in schillerndsten Farben frühe Mahler-Lieder interpretiert, Gesänge von Liebe, Tod und dem großem Weltenweh. Das achtköpfige E-MEX-Ensemble liefert dazu Klokes Instrumentalfassung, ergänzt durch elektronische Zuspielung, die dieser Performance die Aura des Imaginären verleiht. Ein Kammerspiel von Verlust, Verfall, Verzweiflung.

Die Videoinstallation „Parsifal reloaded“ hingegen, mit zerrupfter, fragmentierter Musik aus Wagners Erlösungsdrama, dazu Bilder vom Verfall in der Zivilisation, gehört zu jenen „L’Art pour L’Art“-Gebilden, die kaum mehr als ein Schulterzucken auslösen. Da widmen wir uns lieber der Mahlerschen Wunderhorn-Magie, wenn Kloke und Kim-Lillian Strebel noch einmal die frühen Lieder im großorchestrierten Arrangement ausdeuten.

Die Sopranistin , Dirigent Eberhard Kloke und die Essener Philharmoniker. Foto: Sven Lorenz

Die Sopranistin Kim-Lillian Strebel, Dirigent Eberhard Kloke und die Essener Philharmoniker. Foto: Sven Lorenz

Kein Trost, nirgends? Vielleicht liegt er eben in der Schönheit der Musik. Die Essener Philharmoniker jedenfalls glänzen nicht zuletzt mit Bergs Liedern, diesen meisterlich kolorierten Aphorismen, von der Mezzosopranistin Ezgi Kutlu feinherb gesungen. Exzellent musizieren im übrigen Bläser und Schlagzeug in Varèses „Déserts“ – pointierte Rhythmik trifft auf harsche, gleißende Klänge.

Am Ende darf gesagt werden: Dieses Konzeptkonzert ist im großen und  ganzen gelungen. Dank exzellenter Interpreten lässt sich das Publikum konzentiert ein auf dieses ungewöhnliche Format. Bemerkenswert auch, wie souverän sich das Orchester in der Neuen Musik bewegt. Damit setzt es ein Zeichen, das bereits in die neue Saison ragt. Es ist aber auch eine Verbeugung vor dem jetzt scheidenden Philharmonie-Intendanten Johannes Bultmann. Der sich der Moderne verpflichtet fühlt. Und wir halten es einmal mehr mit Nietzsche: „Ohne Musik ist das Leben ein Irrtum“.

Der Text ist zuerst in kürzerer Form im Westfälischen Anzeiger (Hamm) und in der WAZ (Essen) erschienen.




Festspiel-Passagen IX: Lust am Neuen und Seltenen

Während Händel mittlerweile im Repertoire der Opernhäuser eine wichtige Rolle spielt, gibt es bei anderen Komponisten von Weltgeltung noch einiges zu entdecken. Unermüdliche Arbeit für Gioachino Rossinis breit gefächertes Opernschaffen leistet seit Jahren das Rossini Festival in Bad Wildbad. Intendant Jochen Schönleber legt besonderen Wert auf Sänger, die den zum Teil exorbitanten Ansprüchen Rossini’scher Partien entsprechen. In den vergangenen Jahren hat das Festival manchem jungen Belcantisten zum Durchbruch verholfen.

In Rossinis kurzer Farce „Adina ossia Il Califfo di Bagdad“ ließ vor allem eine Nebenrolle aufhorchen: Christopher Kaplan als Ali – Mitglied des Jungen Ensembles der Semperoper Dresden – verbindet darstellerische Präsenz mit einem wohlgeformten Tenor. Auch Rosita Fiocco würde man gerne wieder hören, auch wenn die Koloraturen noch etwas schwer im Ansatz gebildet sind. Antonio Petris‘ Regie bemühte sich ohne Erfolg, dem Werk eine interessante Seite abzugewinnen. Ausnahmsweise mal ein Rossini, der für die Bühne zu Recht vergessen werden kann.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

2013 wird solches wohl nicht der Fall sein: So wie in diesem Jahr Rossinis „Semiramide“ steht dann das monumentale Abschlusswerk von Rossinis Opernschaffen im Programm: „Guillaume Tell“, konzertant und so vollständig wie möglich. Ein geradezu vermessenes Vorhaben; eine Herausforderung, der man sich in den Staatsopern-Sphären von Berlin oder München bisher nicht zu stellen wagte.

Auf keinen Fall wieder in die Geschichte zurücksinken sollte die andere Rarität des Wildbader Festivals 2012: „I Briganti“ ist eine nach Schillers „Räubern“ entworfene Oper Saverio Mercadantes. Uraufgeführt 1836 in Paris, war sie ein von Rossini unterstützter Versuch, Paris für diesen damals in Italien weithin bekannten Kollegen zu gewinnen. Ein Projekt, das trotz exquisiter Sängerriege scheiterte: Mercadantes konservativer Ansatz, zu sehr dem italienischen „Melodramma“ verpflichtet, konnte sich gegen die moderne Oper Giacomo Meyerbeers nicht durchsetzen.

Wildbad versuchte, das Stück erstklassig zu besetzen. Unter der wenig geschmeidigen, metrisch oft schematischen Leitung von Antonino Fogliani boten die Virtuosi Brunenses aus Brünn kaum mehr als eine solide Unterstützung der Solisten. Der hoch gelobte Tenor Maxim Mironov war als Ermano den virtuosen Anforderungen seiner Partie gewachsen, aber die Stimme hat Stetigkeit und warmen Klang zu gewinnen. Petya Ivanova als Amelia agiert wie eine Diva der fünfziger Jahre; ihre Stimme verliert im Lauf des Abends den Kontakt zum Körper, wird hart, dünn und im Klang prekär.

Bruno Praticó, der alte Haudegen, zeigt, wie es geht: Als alter Graf Moor entfaltet er im Duett mit seinem Sohn Ermano wundersam die Aura des technisch zuverlässigen Singens mit schier endlosen Bögen und sprechendem Klang. Die Regie ließ die Akteure alleine, die sich mit allen Peinlichkeiten abgelebter Opern-Gepflogenheiten über Wasser hielten und ständig auf den Dirigenten starrten. Mercadantes Oper aber sollte wegen ihrer dramatischen Anlage und ihrer feurig-sensiblen Musik einen Weg zu weiteren Inszenierungen finden.

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Weiter im Süden, in der Ostschweiz, brachten die siebten St. Galler Festspiele Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ auf die weiträumige Freilichtbühne vor der Kulisse der barocken Stiftskirche. Carlos Wagner inszenierte die „Legende dramatique“ als Welttheater mit Méphistophéles als Zirkusdirektor. Das wirkte nicht willkürlich bunt, sondern entspricht dem Charakter der Stücks.

Stellenweise verwies die Inszenierung den Zuschauer auf farbige Zeit-Panoramen und epische Großbilder, wie sie in Romanen von Charles Koster (Ulenspiegel), Victor Hugo (Der Glöckner von Notre Dame) oder Umberto Eco (Der Name der Rose) geschildert sind. Die Fantasie der Kostüme (Ariane Isabell Unfried) verhinderte peinliche Anklänge an Monumentalfilm-Ausstattungen; die Spielfläche (Rifail Ajdarpasic) mit ihren verschiedenen Ebenen und Plateaus ließ bewegungsreiches „Augenfutter“ zu. Dass er am Ende in einem Hamsterrad endet, lässt Méphistophéles ein wenig wie den betrogenen Teufel erscheinen: Sein Werk, Menschen – hier mit Hilfe von Marguerite als dienstbarem Geist – zum Bösen zu verführen, ist eine Sisyphusarbeit, die dank göttlicher Gnade und Barmherzigkeit zum vergeblichen Mühen verurteilt ist.

Berlioz‘ farbige und klanglich subtile Partitur eignet sich nicht für eine Freilicht-Produktion, bei der das Sinfonieorchester St. Gallen unter der Bühne sitzt und mittels Lautsprecher verstärkt wird. Da mag sich Dirigent Sébastien Rouland noch so um die Finessen mühen: Der Klang bleibt oft grob und eindimensional. In den Opern der letzten Jahre, von Gaetano Donizettis Sintflut-Rarität „Il Diluvio universale“ über die frühen Verdi-Opern „Giovanna d’Arco“ und „I Lombardi alla prima crociata“ – heuer in Erfurt bei den Domstufen-Festspielen wieder aufgenommen – war das weniger problematisch, weil deren Partituren nicht so visionär klanglich gearbeitet sind wie die Musik des französischen Orchester-Revolutionärs. Mit Verdis selten gespielter Oper „Attila“ steht Sankt Gallen im Juni/Juli 2013 – im 200. Geburtsjahr Verdis – wieder auf der sicheren Seite (Premiere am 21. Juni 2013).

In Nürnberg rückten die Internationalen Gluck-Opern-Festspiele zum vierten Mal einen Komponisten ins Blickfeld, der hohe akademische Ehren genießt, im Bühnenalltag aber nicht allzu häufig präsent ist. Dass es nicht an stiller Einfalt und edler Größe liegen kann, zeigte das Staatstheater Nürnberg mit einer bestürzend konsequenten Aktualisierung von Glucks „Ezio“. Das finstere Machtspiel verlegte Andreas Baesler – in Nordrhein-Westfalen durch Regiearbeiten in Gelsenkirchen, Essen oder Münster kein Unbekannter – in die Überdrussgesellschaft einer außer Rand und Band geratenen Wohlstandszeit.

Nürnberg Gluck Festspiele Logo

Erpressung, sexuelle Gewalt, Mord gehören zum Verhaltensrepertoire. Ein derart geschärftes, in die Gegenwart geholtes antikes Drama lässt nicht kalt. Zumal der Schauplatz passt: Hermann Feuchter und Lilith-Marie Cremer bauten in der Theater-Tiefgarage hölzerne Verschläge, bei denen nicht klar war, ob die Darsteller oder die Zuschauer Gefangene oder Gaffer sind.

Die Darsteller agierten auf gefährliche Weise präsent, und die Musiker der Accademia Bizantina, der Neuen Nürnberger Ratsmusik und der Nürnberger Musikhochschule gaben unter Leitung von Nicola Valentini Glucks Musik trotz der akustischen Probleme Schlagkraft und Kontur. Eine tiefsinnige Choreografie des immer erfolgreicher agierenden Nürnberger Ballettchefs Goyo Montero zum ewigen Mythos des Don Juan und eine konzertante Aufführung der Oper „Das Goldene Vlies“ des gebürtigen Nürnbergers Johann Christoph Vogel (1756 bis 1788) rundeten die Festspiele zu einer kurzen, aber entdeckungsreichen Zeit. Peter Theiler, bis 2008 Intendant des Musiktheaters im Revier, hat bisher immer wieder Opern für die Bühne wiederentdeckt. So bleibt zu hoffen, dass er seine Linie 2014 – im 300. Geburtsjahr Glucks – mit ebenso viel Lust am Neuen und Ungewöhnlichen fortsetzen wird.