Wie Heimat zu erfahren und zu schildern sei: Judith Kuckarts Dortmunder Hörfilm „Hörde mon Amour“

Blick auf die Siedlung Am Sommerberg/Am Winterberg in Dortmund-Hörde. (Screenshot aus dem besprochenen Film / © Judith Kuckart)

Dortmund vergibt bekanntlich (und endlich) ein Literaturstipendium. Das temporäre Amt, das andernorts meist Stadtschreiber(in) heißt, nennt sich hier Stadtbeschreiber*in. Die literarisch etablierte Judith Kuckart hat den Anfang gemacht. Ihr Dortmunder Aufenthalt begann im August und dauert bis Ende Januar 2021. Leider wurde auch ihre Tätigkeit von Corona eingeschränkt. Anders als vorgesehen, hat sie keine theatrale Umsetzung ihrer Ortserkundungen verwirklichen können, sondern einen rund einstündigen „Hörfilm“ produziert. Es ist ein „Heimatfilm“ ganz eigener Art.

Die 1959 in Schwelm geborene Judith Kuckart hat als Kind – aus traurigen familiären Gründen – „vier oder fünf Sommer“ im Dortmunder Ortsteil Hörde verbracht und kennt also noch das Alltagsleben in der früheren Stahlwerksgegend. In jenen Jahren war sie etwa 9 bis 14 Jahre alt. „Hörde war eine Schule fürs Leben“, sagt sie. Und Hörde sei für immer Teil ihrer „inneren Landschaft“. Ein „Downtown“ Dortmund, also eine zentrale Innenstadt, habe es für sie damals nicht gegeben. Folglich trägt der Film den Vorort liebevoll im Titel: „Hörde mon Amour“.

Westfälische Witterung

2017, als der Kongress der Autorenvereinigung PEN in Dortmund stattfand, hatte die heute in Berlin lebende Judith Kuckart Gelegenheit, erneut westfälische Witterung aufzunehmen. Zwar hat sie für die Stipendienzeit in der Nordstadt am Dortmunder Borsigplatz gewohnt, sich aber auf den Spuren ihrer Kindheitserinnerungen weit überwiegend wieder „auf den Hügeln von Hörde“ umgetan. Das 1340 gegründete (und 1928 nach Dortmund eingemeindete) Hörde hat schon immer ein gewisses Eigenleben geführt und lange Zeit mit Dortmund auf Kriegsfuß gestanden. Auch daraus bezieht der ebenso eindringliche wie wohltuend ruhige Film untergründige Spannungsmomente.

Die Autorin und Dortmunder Stadtbeschreiberin Judith Kuckart – hier in Berlin, März 2019. (Foto: Burkhard Peter)

Äußerst langsam und behutsam tastet die Kamera (Martin Rottenkolber) Einzelheiten ab, die Erinnerung in sich bergen (könnten): die Siedlung „Am Sommerberg“/„Am Winterberg“ im vogelperspektivischen Überblick; sodann geht’s Fassade für Fassade an verwitterten Häusern entlang. Auch sieht man eine typische Wohnung daselbst mit allen Einzelheiten, die nicht gerade auf Wohlstand hindeuten und wirken, als seien sie rücklings aus der Zeit gerutscht. Hinzu kommt ein verfallenes, inzwischen auch verwunschenes früheres Schwimmbad („Schallacker“), dessen Areal zur Stätte des Urban Gardening mutiert ist. Lauter wehmütige Ansichten von zumeist menschenleeren Orten. Kein Wunder, wenn dabei Kopfkino entsteht, zumal als Bezugspunkt ein kartographierter, aber nicht existierender Phantom-Ort bei New York aufgerufen wird, der zur Kultstätte für Jugendliche von weither geraten ist. Auch Hörde ist nicht zuletzt ein imaginäres Gelände.

„Schäbiges Paradies“

Nicht in den Bildern, wohl aber in den Texten dieses „Hörfilms“ scheint auf, wie sehr hier einst das pralle, wenn auch oft etwas ärmliche Leben sich begeben hat. Im besagten Schwimmbad, so heißt es, sei gleichsam alles Lebendige geschehen, es seien auf den Liegedecken in diesem „schäbigen Paradies“ auch Kinder gezeugt worden. Mittlerweile gibt es einen machtvollen und scharfen Kontrast, ein ganz anderes Hörde, das gleichfalls, wenn auch eher schaudernd, ins Auge gefasst wird: die Gegend rings um den künstlich erstellten Phoenixsee mit ziemlich seelenlosen Neubauten zu exorbitanten Preisen. Dies sind keine Kindheitsräume mehr, aber vielleicht Orte für unstete „Wandermenschen“, die allüberall ihresgleichen finden.

Judith Kuckart erinnert sich hingegen lieber an die Jahre um 1968, als die Frauen in der Hörder Siedlung ganztags im Morgenmantel umher gingen, die bescheidenen Haushalte führten und Kinder versorgten, während die Männer bei Hoesch malochten oder in der Kneipe zechten. Eine 1979 aus Jamaika zugewanderte Frau bedauert den späteren Wandel gleich zu Beginn des Films: Früher sei ihr der Lichtschein des Hochofenabstichs stets wie eine wärmende, tröstende Sonne erschienen, später sei hier und in anderen Stadtteilen jedoch „alles den Bach runtergegangen“. Um in Hörde herzlich und herzhaft heimisch zu werden, muss man wahrlich nicht dort geboren sein.

Wo wir uns sicher bewegen können

Fixsterne in Kuckarts Hörder Kindheitssommern waren mehrere Tanten, die dort gelebt haben. Eine von ihnen ist mit 24 Jahren gestorben, ihr kurz vorher geborenes Baby hielt sie bis zuletzt fest umklammert. „Oma Schüren“ (in Dortmund heißen Großeltern familiär häufig nach dem Stadtteil) ist gegen Ende einer Kinovorführung in der – bis heute als letztes Vorort-Lichtspielhaus existierenden – „Postkutsche“ in Aplerbeck gestorben. Heute kann niemand mehr sagen, welchen Film die Großmutter zuletzt gesehen hat.

Man ahnt, dass der Ton zum Film sich keineswegs in „Dönekes“ erschöpft, sondern wesentlich tiefer lotet, manchmal ganz unversehens. Nach und nach stellt sich mit zunehmender, freilich allemal sanfter Dringlichkeit die Frage, was eigentlich „Heimat“ sei und wie von ihr zu erzählen wäre. „Heimat ist der Raum, in dem wir uns immer sicher bewegen können“, heißt es an einer Stelle. Ob es zugleich ein konkreter Ort ist, steht allerdings dahin. Überhaupt ergeben sich viele Fragen: Ist die Heimat ein Ort oder ein Gefühl? Kann man sesshaft werden in der Sehnsucht nach Heimat? Kann man eine Heimat gründen oder entwerfen? Kann Sexualität eine Heimat sein? Und so fort. Hier lagert Stoff fürs eine oder andere weitere Buch im Sinne des „autofiktionalen“ Erzählens, der Selberlebensbeschreibung, angereichert mit fiktionalen Elementen, wie sie seit einiger Zeit wieder vermehrt Teile der Literatur prägt (und nicht die schlechtesten).

Um das Erzählte noch genauer zu verankern, versichert sich Judith Kuckart der Kenntnisse einiger langjährig ortsansässiger „Heimatexpert(inn)en“. Jede(r) von ihnen trägt ureigene Bruchstücke zum Mosaik der Heimatlichkeit bei. Und nein: Das berühmte Diktum von Ernst Bloch („…so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“) kommt an keiner Stelle vor.

„Hörde Mon Amour“. – „Hörfilm“ von Judith Kuckart, 2020. Zu sehen auf dem YouTube-Kanal des Dortmunder Literaturhauses: 

https://www.youtube.com/watch?v=v9iAHql-NJI

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Im Mai 2021 soll Anna Herzig übernehmen

P.S.: Als nächste Dortmunder Stadtbeschreiberin wird – vermutlich ab Mai 2021 – Anna Herzig aus Salzburg in der Stadt sein. Sie hat keine Dortmunder Kindheitserfahrungen, will aber hier an ihrem Roman „Die Auktion“ weiterarbeiten, der in einem Intercity zwischen Wien und Dortmund spielt…




Vor jeder Haustür ein Paket mit Erinnerungen – auf Kurzbesuch in der alten Heimat Dortmund

Auch mit Erinnerungen verbunden: Impression der von Hilde Hoffmann-Schulte gestalteten Glasfenster einer Dortmunder Kirche. (Foto: © Marlies Blauth)

Unsere Gastautorin, die Künstlerin und Lyrikerin Marlies Blauth, die seit vielen Jahren bei Düsseldorf lebt, über einen Besuch in ihrer Heimatstadt Dortmund:

Mein Steuerberater wundert sich, lächelt, weil ich immer – also einmal im Jahr – mit dem Bus komme. Er hat nämlich sein Büro ganz in der Nähe meines Elternhauses (in dem längst jemand Anderes wohnt), also knapp 100 Kilometer von meinem aktuellen Wohnort entfernt. Ziemlich aufwändig, das alles.

Diese Fahrt „nach Hause“ genieße ich aber jedesmal, zelebriere sie fast.

Die Sonne scheint auf das Dach des Hauses, in dem meine erste riesengroße Liebe wohnte. Ich winke, in Gedanken oder vielleicht auch ein kleines bisschen wirklich. Dann, an der nächsten Haltestelle: Aussteigen.

Ein knapper Kilometer Fußweg, ich nehme meine Kamera aus dem Rucksack und entdecke immer wieder neue Perspektiven, die meine Erinnerungen nochmal extra aufwecken: Mir wird wieder gegenwärtig, wie wir als Kinder auf Bäume kletterten, Verstecken spielten, ich zum Muttertag mal einen peinlichen krautigen Strauß pflückte (der auch nicht liebevoll gemeint war …); wie ich später dann mit einer Schulfreundin hier spazieren ging und wir uns den ganzen Nachmittag auf Latein unterhalten haben. Oder zu den Partyzeiten: Hier kamen wir morgens um fünf Uhr an, nach einem Fußmarsch von über drei Stunden. Nachts sind alle Katzen grau, aber die Stimmung ist eine besondere. Damals habe ich die erste und einzige Fledermaus in freier Wildbahn gesehen.

Und wir haben diskutiert: für oder gegen die Atomkraft, was ist mit der DDR, muss unser Staat sozial(istisch)er werden, geht es nicht überhaupt viel zu ungerecht zu. Ich komme an meiner Konfirmationskirche vorbei, in der ich fürchterlich öde Stunden verbracht habe, die mir wenig später aber eine der schönsten Zeiten meines Lebens ermöglicht hat – durch eine wunderbare, neu gegründete Jugendgruppe. Ganz in der Nähe rauchte ich meine erste (und einzige, halbe) Zigarette: Ich fand sie sehr lecker, sie ist mir sogar gut bekommen. Noch heute bin ich meiner 14-jährigen Altklugheit sehr dankbar: Warum Geld ausgeben, wenn die Eltern doch alles andere Schmackhafte zahlen? Und so blieb ich zeitlebens Nichtraucherin.

Hier wohnte der Klassenkamerad, der bestimmt ADHS hatte; damals noch ganz selten, niemand wusste darüber Bescheid. Dort war ein Mädchen zu Hause, mit dem ich gern befreundet gewesen wäre, das mich aber jahrelang gemobbt hat. Ich glaube, das wurde kräftig unterstützt durch die Eltern – deren Wunschfreunde für ihr Kind was hermachen sollten. Für mich waren es schwere Jahre, aber auch lehrreiche.

Überall in der alten Heimat, vor jeder Haustür, an jedem Weg, Baum und Strauch, sehe ich Pakete mit Geschichten liegen, die man nur öffnen muss. Und das mache ich, wie gesagt, einmal im Jahr – und so gern! Von manchem bin ich immer wieder überwältigt, bei anderem konstatiere ich froh, es ein für allemal abgehakt zu haben. So, wie es wohl allen Menschen geht.

Diesmal beherrscht und verändert Corona sogar meinen alljährlichen Ausflug. Nicht nur, dass er deutlich später stattfinden musste als gewohnt; mein Steuerberater arbeitet nun im Homeoffice, ganz woanders also, so dass mein Wandeln durchs Revier meiner Kinder- und Jugendzeit diesmal flachfällt. Die andere Adresse – wieder mit dem Bus, wieder Lächeln – liegt an einer Straße, wo ich vielleicht zweimal im Leben war.

Aber auch hier liegen Erinnerungsgeschichten.
Ganz in der Nähe wohnte eine meiner Nachhilfeschülerinnen (ich hatte nur einen männlichen Schüler, der war erwachsen und lernte Deutsch als Fremdsprache): Sowohl die wunderbare Zusammenarbeit als auch der sich einstellende Erfolg (Note 2) mag meine Entscheidung angeschubst haben, Lehrerin werden zu wollen: Es machte mir Spaß, Lernstoff so aufzubereiten, dass „man“ ihn kapiert. Und wenn das dann der Fall war, freute ich mich wie eine Schneekönigin. Zwar habe ich letztlich doch nie an einer Schule gearbeitet (sieht man von ein paar kleineren temporären Projekten ab), immerhin aber war ich 21 Jahre lang Lehrbeauftragte an einer Hochschule.

Und dann sehe ich plötzlich die Kirche an meinem Weg! Deren Glasfenster sind von Hilde Hoffmann-Schulte (1937 – 2014) gestaltet, einer Dortmunder Künstlerin. Ich war noch ganz jung, und sie kaufte damals ein Bild von mir. Soooo stolz war ich … und überredete meine Mutter, mit mir jene Kirche anzusehen, weil ich wissen wollte, wie meine Bilderkäuferin arbeitete. Meine Mutter mochte eigentlich keine Kirchenbesichtigungen, aber der längere Spaziergang mit mir reizte sie wohl doch. Und ich fand es klasse, eine Künstlerin zu kennen, deren Entwürfe so einige Kirchen und andere Gebäude mitprägten.

Natürlich komme ich diesmal nicht hinein in den Kirchenraum. Auch wenn sich manche Öffnungszeiten gebessert haben, so macht spätestens Corona wieder einen Strich durch diese Rechnung. Ich kann nur – mit und ohne Kamera – ein bisschen durch die Buntglasstücke „spieksen“, wobei meine Fotos der Künstlerin natürlich nicht gerecht werden (können). Oder vielleicht doch, ein bisschen jedenfalls – indem wir uns künstlerisch für einen Moment verbinden?

Damals war noch nicht abzusehen, dass auch ich Kirchenräume mitgestalten würde, mit meiner Kunst und von mir kuratierten Wechselausstellungen. So schließen sich Kreise.

Und ich danke jedem, der meiner Biografie ein Mosaiksteinchen zugefügt hat. Viele davon durfte ich in „meiner“ Stadt Dortmund aufsammeln. Meine Kurzbesuche frischen das auf, und ich bin glücklich, alles für einen Moment aufleben zu lassen.

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Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin. Der Text ist zuerst im eigenen Blog von Marlies Blauth erschienen, in dem auch einige Beispiele ihrer künstlerischen Arbeit zu sehen sind:

kunst-marlies-blauth.blogspot.com
© Marlies Blauth, 2020




Das Ruhrgebiet als Heimat – zwischen Grau und Grün, zwischen Solidarität und gelegentlicher Kulturferne

Der Dortmunder Phoenixsee mit Florianturm im Hintergrund. (Foto vom März 2016: Bernd Berke)

Ein weithin sichtbares Beispiel für den Strukturwandel im Ruhrgebiet: Teil des Dortmunder Phoenixsees mit Florianturm im Hintergrund. (Foto, März 2016: Bernd Berke)

Gastautor Heinrich Peuckmann über das Ruhrgebiet als Heimat:

Wenn auf der Kamener Zeche Monopol Kokskohle abgestochen wurde, rannte meine Mutter in den Garten und trug die zum Trocknen aufgehängte Wäsche ins Haus. Kurz darauf segelten nämlich Rußpartikel durch die Luft und wäre sie nicht schnell genug gewesen, hätte sie noch einmal waschen müssen.

Abends schimmerte der Himmel im Westen rosa und wir wussten, dies ist kein Abendrot wie an der Nordsee. Jetzt fließt bei Phoenix in Dortmund wieder flüssiger Stahl aus der Thomasbirne, dort, wo sich jetzt ein wunderbarer See erstreckt. Die Emscher, die in meiner Nähe entspringt, habe ich eines Tages lila gesehen. Giftig lila. Unglaublich, welche Abwässer in den armen Fluss gekippt worden sind. Und die wunderbaren Fußballspiele mit meinen Freunden fanden nie bei strahlendem Sonnenschein statt. Bei uns war es immer diesig.

Integration und Toleranz – sogar für Bayern

Das ist also meine Heimat und da kann ein normaler Mensch nur denken: weg hier, so schnell und so weit wie möglich. Aber ich bin immer noch hier. Was ist los mit mir? Liebe ich verstaubte Luft und eine zerstörte Umwelt? Nein, natürlich nicht. Denn diese Kindheitsbilder sind ja nur der eine Teil des Ruhrgebiets. Jener freilich, der außerhalb als einziges Bild zur Kenntnis genommen wurde und immer noch wird.

Aber das Ruhrgebiet ist mehr als das. Solidarität, oft beschworen, vor allem in den Sonntagsreden von Politikern, gibt es hier wirklich. Ich weiß, wenn ich irgendwann im Dreck liege, kommt jemand angelaufen, um mir zu helfen. Ob es mir nützt, ist eine andere Frage, aber versuchen wird er es.

Solidarität zeigt sich auch beim Umgang mit Migranten, mit den Türken etwa, die hier in großer Zahl leben. Bei uns gibt es keine „Ruhr-Pegida“, undenkbar, bis jetzt jedenfalls. Wir sind doch seit jeher Schmelztiegel. Als es losging mit Kohle und Stahl, sind die Arbeiter von überall hergekommen, aus Schlesien, Ostpreußen und – ja – aus Bayern. Bis heute gibt es hier Alpenvereine, Leute in krachledernen Hosen, die furchtbar schreien, was sie jodeln nennen, aber egal, wir ertragen das. Wie so vieles.

Das Stahlwerk abgerissen, der Phornixsee nur als Großbaustelle vorhanden: Aufnahme vom 18. September 2009. (Foto: Bernd Berke)

Nach dem Abriss des Stahlwerks war das Gelände des späteren Phoenixsees eine Großbaustelle. Aufnahme vom 18. September 2009, Blick vom Florianturm herab.. (Foto: Bernd Berke)

Geholfen bei der Integration hat übrigens der Fußball, was erklärt, weshalb er bei uns eine so wichtige Rolle spielt. Dieser oder jener kam aus Polen und katholisch war er auch noch, aber lass ihn in Ruhe. Der schwärmt für Borussia oder Schalke. Wenn ich heute türkischstämmige Jugendliche nach ihrem Lieblingsverein befrage, nennen sie einen aus dem Ruhrgebiet, dazu einen aus Istanbul. Was dann doch ein Problem aufzeigt. Halb geglückt die Integration, aber noch nicht ganz. Das bestätigt auch die wachsende Zahl an AfD-Wählern, auch wenn dahinter weniger Ausländerhass steckt als eine sich verschärfende soziale Situation. Während Dresden kaum Migranten hat, wir dagegen jede Menge, darunter auch welche, die unsere Freunde sind, ist das Problem bei uns mit deutlich weniger AfD-Wählern immer noch überschaubar.

 

Und wir können Ironie vertragen. Gut, wir verstehen sie nicht immer, das stimmt, aber wenn, dann können wir lachen. Sogar über uns selbst. Wer kann das schon? Dafür nehme ich sogar, schweren Herzens, die Kulturferne in Kauf. „Wat willze mit dat Buch?“

Anquatschen, wie wir das nennen, kann man im Ruhrgebiet jeden. Wir sind offen bis zur Treuherzigkeit. Und grün ist es geworden seit dem Ende von Kohle und Stahl. Oberhausen, eine Stadt mit Rekordverschuldung, gehört zu den grünsten Städten Deutschlands. Als ich eine Gruppe Schriftsteller durch Dortmund führte, habe ich zum Schluss gesagt, dass es einen Satz gibt, den wir nicht mehr hören wollen. „Das ist aber grün hier.“ Wir leben nicht mehr auf der Kohlenhalde, habe ich erklärt. Worauf eine Kollegin antwortete: „Dass es hier grün ist, wusste ich. Aber dass es sooo grün ist …“

Wie kommt es dann, dass ich in meinen Geschichten so gerne vom alten Ruhrgebiet berichte? Ich bin doch kein Nostalgiker, im Gegenteil, ich bin froh, wie schön der halb bewältigte Strukturwandel Teile des Ruhrgebiets gemacht hat. Das ist dann wohl Heimat, denke ich. Denn was sollte sie anders sein als die Erinnerung an eine geglückte Kindheit, selbst in Lärm und Staub?

 

 




Das Wort „Heimat“ ruft immer wieder Zweifel hervor

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über sein Verständnis von „Heimat“:

Wie lange hat es gedauert, bis ich zum Begriff „Heimat“ ein auch nur halbwegs unbelastetes Verhältnis gefunden habe!

Schwer erträgliche Heimattümelei an einem Souvenirstand in Bayern. (Foto: Bernd Berke)

Schwer erträgliche Heimattümelei an einem Souvenirstand in Bayern. (Foto: Bernd Berke)

Heimat, das war etwas, mit dem distanziert und kritisch umzugehen ist. Heimat, damit verband ich untrennbar den röhrenden Hirschen und die Trachtengruppe, Latent-Faschistoides oder den Hort dumpfer Aggression gegen alles Unbekannte und Fremde. Die Theaterstücke von Ödön von Horváth oder Marieluise Fleißer, Fassbinders „Katzelmacher“ oder Martin Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ (unlängst mal wieder auf DVD angeschaut) schienen mir der richtige Weg zu sein, Heimat ins Bild zu setzen.

Nur durch eine skeptische Sicht und niemals durch unreflektierte Inanspruchnahme schien mir dieser eigentlich verlockende Begriff – der ja so viel von Zugehörigkeit zu vermitteln schien – handhabbar und erlaubt zu sein. Wo ich irgendwo eine sogenannte Volksbelustigung betrachtete – sei es ein Schützenfest oder ein andere traditionelle oder folkloristische Lustbarkeit – schien es mir, als müsste dahinter unvermeidbar Unheil lauern, das diese „heile Welt“ zerstören würde: die erschreckenden Abgründe dieser da so fröhlich feiernden Menschen würden in Kürze zu Tage treten.

Zerbrochene Bierzeltbänke

Und so geschah es denn auch nicht selten im jungen deutschen Film der 60er/70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, wenn sich einer der Regisseure – Meister im Zertrümmern brav bürgerlicher Gemütlichkeit – solcherart Themen annahm. Zum Schluss hockte nur noch einer der trinkfesten Biedermänner desillusioniert neben den zerbrochenen Bierzeltbänken, sinnlos ins Leere stierend – und hinter ihm auf einer Weide würde ein flügellahmer Vogel versuchen, in den Himmel aufzusteigen. Alles andere als solche bissigen Einblicke, ob im Buch, im TV oder auf der Leinwand, konnte nur verlogene Idylle sein, wenn nicht Kitsch.

Impression aus der Dortmunder Innenstadt: ein Stück Ruhrgebiet - aber "Heimat"? (Foto: Bernd Berke)

Impression aus der Dortmunder City: ein Stück Ruhrgebiet – aber „Heimat“? (Foto: Bernd Berke)

Auf das Ruhrgebiet konnte ich den Begriff Heimat überhaupt nicht übertragen. Die noch von Kohle und Stahl demolierte Landschaft bot sich mir als das Gegenteil einer anheimelnden Flucht- und Rückzugsmöglichkeit dar. Im Ruhrgebiet konntest Du Dich nicht entspannt zurücklehnen und gefällig bis selbstgefällig betrachten, wie wohlgetan die Umgebung sich ausbreitet, in der du aufwachsen bist und lebtest.

Verzwickt im Ruhrgebiet

Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass man im Ruhrgebiet vor allem „Vorsicht“ walten lassen muss, allzu große Vertrauensseligkeit eher schädlich sein konnte. Und die weitverbreitete Ansicht, dass die Menschen hier geradeheraus sind und immer „sagen, was Sache ist“, konnte mir zeitweise Unbehagen einflößen. Denn was ist, wenn Du selbst nicht zu dieser zupackend-sympathischen Spezies gehörst, eher verträumt bist, verzwickt? Ich habe das Ruhrgebiet früher (heute bin ich etwas altersmilde geworden) nicht unbedingt als Heimat begriffen, sondern als Zuhause, mit dem man zurechtkommen muss. Mal recht, mal schlecht.

Also eher heimatlos (wie einstmals Freddy Quinn in besagtem Song) als heimattümelnd (wie später Karl Moik im Schrammel-TV).

Nachbemerkung.
Ausnahme: Die Heimat-Saga von Edgar Reitz konnte ich akzeptieren. Die hatte aber auch nix mit dem Ruhrgebiet zu tun.




Deutschland im Herzen: Über den Heimat-Begriff

Die New Yorkerin Carol Kahn Strauss (vorne) mit (v.li.) TU-Rektorin Ursula Gather, MKK-Leiterin Gisela Framke und Bürgermeister Manfred Sauer.

Die New Yorkerin Carol Kahn Strauss (vorne) mit (v.li.) TU-Rektorin Ursula Gather, MKK-Leiterin Gisela Framke und Bürgermeister Manfred Sauer. (Foto: Thomas Kampmann/Dortmund Agentur)

Ihr Kopf ragt gerade über das wuchtige Rednerpult, hinter dem sie steht – eine elegante, ausgesprochen zierliche Frau mit markanter runder Brille und langen, perfekt frisierten Haaren. Und doch: Kaum dass sie den Mund aufmacht, hat sie ihr Publikum voll im Griff. Die New Yorkerin Carol Kahn Strauss, 72, strahlt ungeheure Präsenz aus – ihre Aura macht die Körpergröße mehr als wett.

Dass sie dort steht, in der Rotunde des Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte, über ihren Begriff von „Heimat“ spricht und die Einladung nach Dortmund gar als „Ehre“ bezeichnet – das ist alles andere als selbstverständlich.

Eltern und Großeltern mussten 1938 aus Dortmund fliehen

Denn Kahn Strauss lebt in New York, wo sie 1944 geboren wurde, nachdem ihre Eltern und Großeltern 1938 aus Dortmund fliehen mussten – eine angesehene jüdische Familie aus dem gehobenen Bürgertum, der Vater Rechtsanwalt, der Onkel Kinderarzt, der Opa Geschäftsmann.

Carol Kahn Strauss selbst war 20 Jahre lang International Director des Leo Baeck Institute in New York City, ein wissenschaftliches Archiv, das die Geschichte und Kultur deutschsprachiger Juden dokumentiert. Es zählt zu den führenden Forschungsinstituten zur Geschichte der deutschsprachigen Juden.

Ungewöhnlich ist schon diese Karriere einer Frau, die doch die Sprache, die Heimat ihrer Eltern mit gutem Recht ebenso hätte ignorieren, verdrängen, ja: verdammen können. Stattdessen hält sie nun, im Jahr 2016, einen Zeitungsartikel aus den New York Times in die Luft, geschrieben im September 2015. Die Korrespondentin hatte damals fast ganzseitig über die Willkommenskultur in Dortmund berichtet, als hunderte Menschen die Flüchtlinge am Bahnhof mit Applaus und Hilfe-Angeboten begrüßten. Sie sei stolz gewesen, als sie das gelesen habe, sagt Carol Kahn Strauss: „Irgendwas ist da wohl in meiner DNA.“

Hölderlin, Kant und Heine im heimischen Regal

Doch die Verbundenheit mit Dortmund hat sich natürlich nicht genetisch vererbt – sondern durch bewusste Erziehung und Sozialisation. „Es war ,Hoppe hoppe Reiter’, es war Heinrich Heine, es war ,Die Blechtrommel’ und nicht ,The tin drum’, erzählt sie von ihrer Kindheit in den USA und spricht von den meterhohen und –langen Bücherregalen, die die Eltern ihr hinterlassen haben – Hölderlin, Kant, Heine, größtenteils noch in Sütterlin gedruckt. Man sprach deutsch, man pflegte die Erinnerung an die Heimat – ein Wort, für das es im Amerikanischen gar keine Entsprechung gibt.

„Meine Eltern konnten die Geschichte … breiter sehen“, sagt Carol Kahn Strauss zur Erklärung, nach Worten ringend, „sie sahen nicht nur den kleinen Ausschnitt der Nazi-Zeit.“ Als sie zehn Jahre alt war, fuhren ihre Eltern mit ihr das erste Mal nach Dortmund. Carol Kahn Strauss weiß sehr gut, wie ungewöhnlich diese Entscheidung ihrer Eltern war. „Ich habe auf der ganzen Welt viele deutsche Juden kennengelernt, die nach ihrer Flucht nie wieder deutsch sprachen, nie wieder in Deutschland waren.“

Auch die junge Carol wusste oder ahnte, dass Deutschland in der Welt der 1950er Jahre nicht besonders wohlgelitten war. Als der Direktor der Grundschule sie damals bat, für ein neu angekommenes Mädchen aus Deutschland zu übersetzen, behauptete sie gar, sie spreche kein deutsch. Als Jugendliche und junge Erwachsene riss die Verbindung zur Heimat ihrer Eltern fast gänzlich ab – „alle anderen Länder interessierten mich damals mehr“.

Die Geisteswelt als zweites Zuhause

Doch die Eltern hatten den Nährboden gelegt, hatten dem Kind die deutsche Sprache, Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaft nahegebracht und einen Stolz auf dieses Erbe vermittelt. Daran konnte Carol Kahn Strauss anknüpfen, als sie später Präsidentin einer jüdischen Gemeinde in New York wurde und wieder verstärkt deutsch sprechen musste. „Kinderdeutsch“ nennt sie heute ihre Sprache – reines Understatement. Sie spricht grammatikalisch nahezu perfekt, ab und zu hört man westfälische Einschläge heraus.

Deutschland war nie ihr Zuhause, und es war nach 1938 auch nicht mehr das Zuhause ihrer Eltern. Doch eine Heimat ist es gleichwohl geblieben. Denn auch Bildung, auch die Geisteswelt kann eine Heimat sein – diese Botschaft nahm das Publikum am Ende mit. Ein Heimatbegriff, der womöglich mehr bedeutet, schwerer wiegt, fester bindet als die bloße Zugehörigkeit zu einem Land, in dem man zufällig geboren wurde und das man dank glücklicher Umstände nie verlassen musste.

Die Veranstaltung „Stadtgespräche im Museum“ ist eine Kooperation zwischen MKK Dortmund und TU Dortmund. In der Reihe geht es derzeit um das Thema „heimaten – Konstruktionen der Sehnsucht“: Aus verschiedenen Blickwinkeln befassen sich die Referentinnen und Referenten mit dem Begriff Heimat, passend zur großen Sonderausstellung „200 Jahre Westfalen. Jetzt!“ im Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK).




Vom Verlust der Heimat – Annika Scheffels Roman „Bevor alles verschwindet“

A.Scheffel, bevor alles verschwindet In letzter Zeit befassen sich offenbar auffällig viele Werke mit der Frage nach Heimat. Zufall oder deutliches Zeichen unserer rastlosen Zeit, in der Mobilität oft genug als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird? „Heimat ist auch keine Lösung“ lautete unlängst der Titel eines großartigen Theaterstücks im Bochumer Schauspielhaus. Unweigerlich musste ich diesen Satz denken, als ich den neuen Roman von Annika Scheffel „Bevor alles verschwindet“ gelesen habe.

Annika Scheffel erzählt vom letzten halben Jahr eines Dorfes, welches auf die Flutung wartet. Einem Staudammprojekt muss das Dorf weichen, ein Naherholungsgebiet soll entstehen. Die meisten Dorfbewohner sind schon weg, im neuen Ort, der bald einen großartigen Blick auf einen See zu bieten hat. Den See, der dann ihre einstige Heimat verschluckt haben wird. Im alten Dorf selbst harren Jahre nach der Ankündigung nur noch wenige Bewohner aus, die „Realitätsverweigerer“, wie die Verantwortlichen sie nennen. Die Verantwortlichen, das sind die fahlen Herren der Staudamm-Gesellschaft, die den bevorstehenden Untergang mit roter Sprühfarbe auf den abzureißenden Häusern markieren.

Die verbliebenen Bewohner haben „Angst bis zum Himmel und darüber hinaus“. Sie wissen, dass sie sich in der neuen Heimat fremd fühlen werden, sie sich ein neues Leben in der Heimatlosigkeit aufbauen müssen. Für einige von ihnen ist Heimat da, wo sie Freunde und Angehörige begraben haben, wo sie selbst dereinst begraben sein wollten. Nicht von ungefähr spielt im Roman der Friedhof, der auf seine Einbetonierung wartet, eine bedeutende Rolle.

Sie schmieden unbestimmte Pläne für finale Protestaktionen, doch über mehr als Halbherzigkeit kommen sie nicht hinaus. Dafür sind sie selbst zu sehr mit ihren eigenen Dämonen beschäftigt. Was sie eint, ist auch das Schweigen über vergangene Sünden, das Wissen übereinander, aber keiner von ihnen hat die Kraft, diese Gemeinsamkeiten in einen echten Protest zu lenken. So muss das ein Tier übernehmen, der blaue Fuchs, den nicht alle sehen können, der dafür aber die Verantwortlichen beißt. Die Rolle des stoisch Ertragenden spielt Milo, den auch nicht alle sehen können, der aber immer da auftaucht, wo ein Mensch alleine seine Last nicht mehr tragen kann.

Das Jahrhundertfest lässt man die Verbliebenen noch feiern. Außer den letzten Bewohnern kommen nur Gaffer und Dokumentarfilmer. Von denen, die schon am neuen Ort leben, lässt sich keiner blicken. „Wer einmal geht, so sagen sie, kehrt nicht mehr zurück“. Die halbherzig geplanten Protestaktionen sind ein letzter vergeblicher Aufschrei, der wirkungslos verpufft, die – auch tödlichen – Opfer, die gebracht wurden, sie waren umsonst. Die Flut kommt, das Wasser stürzt, der Ort ist Vergangenheit.

Im Roman wie auch so oft im Leben sind diejenigen die Verlierer, die an einer Heimat im Sinne eines unveränderlichen Wohnorts festhalten. Vordergründige Gewinner sind die fahlen Herren, die Verantwortlichen. Unwillkürlich denkt man bei diesen Herren an die grauen Herren aus Michael Endes „Momo“. Damals stahlen sie die Zeit, heute direkt die Welt. Dennoch ist „Bevor alles verschwindet“ weder Märchen, noch Gleichnis, noch politisches Statement. Was Annika Scheffel liefert, ist trotz des Auftretens eigener Fabelwesen, trotz des zwischenzeitlichen Versuches eines magischen Realismus eher eine Zustandsbeschreibung des äußeren Geschehens und eine Erkundung des Inneren der letzten verbliebenen Bewohner. Weil diese nicht wissen, was sie bekommen werden, halten sie an dem fest, was sie haben. Auch wenn dies lange nicht mehr das ist, was es mal war.

Die Autorin nähert sich ihrem Thema mit großem Respekt. Ihre Sprache ist flüssig, angenehm zu lesen, aber nicht einfach. Sie erzählt ganz ruhig, lässt Entwicklungen zu und überfrachtet ihren Roman nicht mit den mystischen Anspielungen, das dosiert sie sehr genau. „Bevor alles verschwindet“ weckt viele Emotionen. Stimmungen erzeugen – das ist etwas, was die Autorin sehr gut kann.

Dennoch leidet der Roman immer wieder an Längen. Ab und an denkt man schon, dass man es so genau jetzt auch wieder nicht wissen wollte. Gerade, wenn es um David geht, den Sohn des Bürgermeisters, der von seinem verzweifelten Vater in den Wahnsinn getrieben wird, führen diese Längen zu Desinteresse. Manchmal erzählt Annika Scheffel allzu ruhig und rutscht dadurch ins Unbeteiligte ab. Es gibt einige Stellen im Buch, die von Eltern erzählen, die ihren Kindern zuviel zumuten und ihnen die Zukunft verbauen. Hier wird soviel Fatalismus impliziert, dass man auf die Idee kommen könnte, diese Haltung wäre eben einfach so und nicht zu ändern.

Der Roman lässt seinen Leser traurig zurück, aber nicht ratlos. Und genau das ist es, was das Buch lesenswert macht. Was bleibt, ist zwar die Erkenntnis, dass manches unwiederbringlich verloren geht und man einfach nichts dagegen machen kann. Doch es bleibt noch eine zweite Erkenntnis: Die, die vorwärts schauen, die bereit sind, den Begriff Heimat für sich neu zu definieren, sie haben eine Zukunft, eine Chance. Prolog und Epilog des Buches gehören Jula. Jula zählt zu den Jüngeren der letzten Bewohner, sie hatte nicht nur den Verlust ihrer Heimat, sondern auch den ihres Zwillingsbruders zu beklagen. Jula zumindest scheint Jahre später ihren Platz, ihre Heimat gefunden zu haben. In sich selbst und an der Seite eines Mannes, den sie liebt. Und das ist doch gar keine so schlechte Lösung.

Annika Scheffel: „Bevor alles verschwindet“. Roman. Suhrkamp Verlag, 411 Seiten, € 19,95




Ein Nachtwächter mit Rübenkraut in der Mütze

Manche Traditionen sehen wir heute nur noch als romantische Folklore, obwohl sie ursprünglich einen sehr praktischen und wichtigen Grund hatten. Dazu gehören auch die Nachtwächter – ein Begriff, der heute gelegentlich nur noch als Schimpfwort benutzt wird.

„Die Aufgabe des Nachtwächters war es, nachts durch die Straßen und Gassen der Stadt zu gehen und für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Er warnte die schlafenden Bürger vor Feuern, Feinden und Dieben. Er überwachte das ordnungsgemäße Verschließen der Haustüren und Stadttore, und häufig gehörte es auch zu den Aufgaben des Nachtwächters, die Stunden anzusagen.“ So beschreibt Wikipedia die historische Aufgabe.

Tourismusexperten haben seit Jahren den Werbeeffekt eines Nachtwächters entdeckt. Führungen mit entsprechend verkleideten Personen sollen Besucher der jeweiligen Stadt amüsieren. In Bad Bentheim zum Beispiel übernimmt eine Frau diese Rolle, und es gibt kaum eine Stadt zwischen Rothenburg und Rheine, die nicht eine Nachtwächter-Führung aufzubieten hätte.

Eine ganz andere Geschichte und Funktion hat der Nachtwächter in Ennepetal. Jeweils zur Kirmes im Juni wird ein in Fragen der Heimat verdienter Bürger als „Ehrennachtwächter“ ausgewählt, der dann mit Hellebarde, Laterne und Horn ausgestattet und im Blaukittel der Ambossschmiede gekleidet an der Spitze des Kirmeszuges durch die Stadt gefahren wird.

Diese Tradition geht auf einen ganz bestimmten Nachtwächter zurück, der von 1886 bis 1906 im heutigen Stadtteil Voerde seinen Dienst versah und der als besonders lustiges Original in Erinnerung blieb. Willi Koch, so hieß der trinkfreudige Mann, bekam später sogar ein bronzenes Denkmal gesetzt. Weil er einmal eine mit Rübenkraut gefüllte Mütze auf den Kopf gesetzt bekam, gibt es heute noch zur „Voerder Kirmes“ und bei den Treffen der ehemaligen Ehrennachtwächter jeweils den Schlachtruf „Kruut Voerde“ zu hören.