Piraten bei Windstille – Matthias Zschokkes Stück „Brut“ im Dortmunder Schauspielhaus

Von Bernd Berke

Dortmund. Piraten? Hey-Ho, mit denen geht’s wild übers Meer. Wenn man nur dran denkt, hat die Phantasie schon Wind in den Segeln. Doch was sind das nur für Freibeuter, die wir in der Dortmunder Inszenierung von Matthias Zschokkes Seestück „Brut“ kennenlernen?

Mag sein, daß sie alle möglichen Abenteuer schon hinter sich haben, aber das muß lang her sein. Nun sitzen sie, mitsamt ihrer Kapitänin Tristana Nunez (Ines Burkhardt), die nicht mehr auf blutige Taten, sondern auf passende Worte sinnt, in irgendeinem gottverdammten karibischen Dschungel fest. Wenn sie später doch noch in See stechen, so fahren sie mit ihrem blinden Steuermann Azor (Günther Hüttmann) im Kreise, immer und immer wieder. In ihren Sätzen tauchen Formeln auf wie „Immer dasselbe“ und „Wir sind alle überflüssig“. Folglich sind die ständigen Pläne des Navigators Hornigold Glaser (Andreas Weissert) allemal sinnlos.

Gezückter Dolch und abgebissener Finger

Dabei scheint doch alles zu passieren, was zu einem Piratenstück gehört: Es kommt schon mal ein Sturm auf, es gibt Gefangene wie jenen Dichter Julio Sloop (Michael Fuchs), der an Bord in einen Mastkäfig gesperrt wird. Wir sehen Prügeleien, es werden Dolche gezückt, dem Schiffskoch Caflisch (Heinz Ostermann) wird ein Finger abgebissen, und Ermordete wirft man über die Reling ins Meer. Wie sagt doch das als Jüngling namens Selkirk verkleidete, allseits heillos begehrte Mädchen (Wiebke Mauss): „Ich bin zum Entern hier, nicht zum Denken!“ Na, also.

Aber nichts geschieht hier richtig. Es ist immer nur ein „Als-ob“ und hat keine Konsequenzen. Nicht nur das hölzerne Schiff (Bühne: Karin Fritz), auch die Handlung strudelt im Kreise. Unauflösliches Gemisch widersprüchlicher Emotionen: Es wird nicht etwa geküßt oder geschlagen, man müßte schon paradoxe Worte wie Kußschlagen und Liebmorden dafür erfinden. Und man könnte Zschokkes 1988 uraufgeführten Text als typisches Werk der „Postmoderne“ bezeichnen, sprich: Er besteht vornehmlich aus Mythen-Plünderung, Zitaten und Simulation, es herrscht darin die Windstille am vermeintlichen Ende der Historie.

Beschwörung der ewigen Wiederkehr

In Dortmund kann man dies unerschrocken, streckenweise auch mit Behagen über sich ergehen lassen; als fast filmisch „geschnittene“ Nummernfolge (Regie: Clemens Bechtel), die öfter Witz aus dem Kontrast der Sprachebenen schlägt. Da werden z. B. Piraten-Fragen wie unter Angestellten abgehandelt: Wenn Selkirk das Schlepptau zum Beuteschiff kappt, wird er/sie nicht etwa sieben Tage bei Wasser und Brot an den Mast gehängt, sondern vom Offizier Hallwax (Heinz Kloss) brav gebeten, sich doch nächstens besser mit dem Anführer abzusprechen.

Doch als (wie aus dem Traumreich) eine Fürstin (Siham Mosleh) auf den Planken erscheint, hört man orientalisch-beredsame Schmeichelei. Dann wieder macht sich Beckettsche Sprachlosigkeit breit. Insofern ist’s ein wechselvoller, hin und wieder auch sprachschöner Text. Er gibt sich gelegentlich naiv, ist aber wohl ziemlich durchtrieben. Schon der Titel „Brut“ ist ja nicht eindeutig: Spricht man ihn deutsch aus, so denkt man ans Brüten oder an verhaßte Nachkommenschaft, sagt man’s französisch („brüh“), so bedeutet es „roh“.

Mit seiner Beschwörung ewiger Wiederkehr setzt sich das Stück aber doch frühzeitig selbst matt. Und so bringt es ein engagiertes, aber notgedrungen etwas ratloses Ensemble gerade mal dahin, unser Interesse eben wachzuhalten. Es dämmert halt so dahin. Und dies ist nicht die Schuld der Schauspieler.

Ungewohnt dürrer, rasch verebbender Premierenbeifall.

Termine: 19. April, 4., 5., 8., Mai, jeweils 19.30 Uhr. Karten: 0231 / 16 30 41.




Die Zukunft als Vorwand: Lauter irrwitzige Verwicklungen im Revier des Jahres 2000

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Das Revier im Jahr 2000: Alles ist aus dem Ruder gelaufen. Die Bundesregierung stümpert mit Notverordnungen, in den Verkehrshinweisen wird empfohlen, das Ruhrgebiet „weiträumig zu umfahren“, denn dort rebelliert die Bevölkerung mit Fabrikbesetzungen und Plünderungen.

Fast alle, in vorderster Front die Frauen der Arbeitslosen, machen mit – bis auf die Männer vom Schlage Mani Mack. Der ist sogar drauf und dran, sich von einem Betrüger für „fünf Blaue“ (500 DM) eine vermeintlich goldene Arbeitszukunft im Musterländle Baden-Württemberg aufschwatzen zu lassen.

„Fünf Blaue und ein Mann im Schrank“, vom Ruhrfestspiel-Ensemble im Recklinghäuser „Depot“ uraufgeführtes Stück von Jürgen Fischer, vermehrt nicht die Inflation der im Einheitsmuster gestrickten Ruhrgebiets-Revuen, bezieht dafür aber Anregungen vom italienischen Farcenschreiber Dario Fo. Keine Frage: Jürgen Fischer hat sich besonders von der Personenkonstellation in Fos „Bezahlt wird nicht“ inspirieren lassen. Das führt weg vom Revier-Klischee, mitunter aber auch weg vom Revier.

75 Minuten lang turbulente Verwicklungen ohne Verschaufpause, aber kaum einmal der Versuch einer konkreten Zukunftsschau ins „Revier 2000″. Letztere bleibt Vorwand für Kabinettstückchen und erschöpft sich in einer bloßen Vergrößerung, ja Vergröberung des heutigen Ist-Zustands.

Immerhin liefert der Text reichlich Spielmaterial für publikumswirksame Komik. Besonders die Szenen, in denen groteske Körperverwicklungen den aberwitzigen Verzweigungen der Handlung entsprechen, verraten intensive Probenarbeit und Lust am Detail (Regie: Wolfgang Lichtenstein). Beifall auf offener Szene erhalten vor allem Heinz Kloss („Mani“) und Petra Afonin („Angela“). Gekonnt auch die scheinbare Unbedachtheit, mit der die Darsteller immer wieder neben Rollen treten und gleichsam die eigene Künstlichkeit und Bedingtheit karikieren.

Der „Revierschwank mit beschränkter Hoffnung“ (Untertitel) verwehrt zwar am Ende eindeutige Antworten, hat aber zuvor schon so angelegentlich und pflichtschuldigst auf Solidarität sowie 35-Stunden-Woche verwiesen, daß dem Sinnverlangen Genüge getan ist.




Gute Geschäfts beim Weltuntergang

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Was auf der Erde vorgeht, mißfällt der übrigen Planetengemeinschaft. Ein Ungeziefer namens „Mensch“ soll sich auf dem blauen Ball eingenistet haben und nichts als Unfug treiben. Also beschließen Venus, Mars und Saturn unter Vorsitz der Sonne, einen vorbeisausenden Kometen auf die Erde zu hetzen, auf daß der unbotmäßige blaue Planet untergehe. Der Komet aber verliebt sich beim Anflug in sein Opfer und dreht im letzten Moment ab.

„Der Weltuntergang“, am Sonntagabend vom Ensemble der Ruhrfestspiele im ehemaligen Straßenbahndepot Recklinghausen aufgeführt, stammt von einem Autor, der jetzt allenthalben wiederentdeckt wird: Jura Soyfer, 1912 in Charkow als Sohn eines jüdischen Industriellen geboren, Emigration nach Wien, in den 20er Jahren einer der wichtigsten Satiriker in Österreich, 1939 im KZ Buchenwald mit 26 Jahren an Typhus gestorben.

Soyfers Weltuntergangs-Visionen, seinerzeit durch den Faschismus heraufbeschworen, sind für Recklinghausen aktualisiert worden. Nicht mehr die Hitlerei, sondern die Weltmächte und ihre Atomwaffenarsenale, so muß man wohl interpretieren, stellen nunmehr die virulenteste Bedrohung der Menschheit dar.

Nach dem planetarischen Vorspiel geht es um die Reaktionen, die die Entdeckung des herannahenden Kometen hienieden auslöst. Professor Guck ortet die Katastrophe als erster und findet gar ein Mittel, sie abzuwenden, doch davon will niemand etwas wissen. im Gegenteil: Es herrscht „business as usual“, die Geschäfte gehen besser denn je, es werden fleißig „Weltuntergangs-Anleihen“ gezeichnet, die Sorgen der Politiker und Diplomaten müssen sich somit nur noch auf die Erhaltung der freien Marktwirtschaft, der heimischen Wahlkreise und ihrer Tennisplätze richten.

Ein Prediger beschwört unterdessen eindringlich das nahende Ende, ruft zur Umkehr auf und offeriert dann Hosenknöpfe, die jegliches Inferno überstehen sollen. Und auch die Journalisten bekommen ihr Fett ab. Nicht das drohende Ende der Menschheit macht die Reporterin nervös, sondern der Drucktermin für ein Extrablatt, das 5 Minuten vor dem großen Knall erscheinen soll.

Das allgemeine Chaos wird adäquat in Szene gesetzt (Bearbeitung und Regie: Bernd Köhler). Die Zuschauer, wie auf zwei Stadiontribünen einander gegenübersitzend, zwischen, neben und über denen sich das Spiel als Musik-Revue der großen Dekadenz entfaltet, müssen ständig die Sitzhaltung wechseln. Schlagartig verlagert sich das Geschehen auf immer andere Spielflächen, dehnt sich auch schon mal auf die ganze Halle aus. Im Prinzip ist es sinnvoll, gerade dieses Stück nicht in einer herkömmlichen „Guckkastenbühne“ zu spielen. Im generellen Szenen- und Schauplatzwechsel gehen jedoch einige verhaltenere Szenen unter.

Die schauspielerischen Leistungen überzeugen. Heinz Kloss und Meinhart Zanger tun sich besonders hervor, speziell in einer gemeinsamen Szene als deutscher und amerikanischer Diplomat. Jürgen Mikol als Professor Guck vermeidet zu recht, einen spleenigen Wissenschaftler darzustellen. Seine Gesangseinlagen sind jedoch kein Ohrenschmaus.