„Die Wupper“: Roberto Ciulli inszeniert und spielt Else Lasker-Schüler in Düsseldorf

v.l.n.r. Luce Hoeltzener, Roberto Ciulli, Manon Charrier. Foto: Sebastian Hpppe/Düsseldorfer Schauspielhaus/Theater an der Ruhr

Luce Hoeltzener (li.), Roberto Ciulli, Manon Charrier.
Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus/Theater an der Ruhr

Roberto Ciulli wohnt auf der Bühne. Wenn das Licht ausgeht, wird er sich irgendwo dort schlafen legen, stelle ich mir vor. Bestimmt trinkt er auch morgens hier seinen Espresso. Auf jeden Fall sitzt er schon da, wenn die Zuschauer bei der Premiere „Die Wupper“ den Zuschauerraum des Düsseldorfer Central betreten, der Ausweichspielstätte des renovierungsbedürftigen Schauspielhauses.

Zwei junge Mädchen sitzen zu seinen Füßen. Ciulli erzählt wie ein Märchenonkel aus dem Leben von Else Lasker-Schüler. Aus ihrem Schauspiel von 1909 haben Ciulli und sein Dramaturg Helmut Schäfer vom Theater an der Ruhr in Mülheim eine biographische Collage entwickelt, die jetzt in Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus herauskam.

„Eine Performance“ heißt der Abend im Untertitel und er ist raffiniert gebaut. Denn wir hören das Stück als Hörspiel vom Band (Regie der Hörspielfassung: Jörg Schlüter) während die Schauspieler eine Art Pantomime dazu geben. Diese ist aber in vielen Szenen bewusst statisch gehalten, so als blickte man auf alte Familienfotos aus der Zeit um die Jahrhundertwende: Wie die Industriellenfamilie Sonntag beim Tee sitzt, im Stuhlkreis wie in einer Therapiegruppe. Einzelne Ausbrüche sind wohlkalkuliert eingesetzt, zum Beispiel die Kopulation im Kontor, die der Zuschauer aber nur als orgiastisches Gebrüll von Dr. von Simon (Peter Kapusta) wahrnehmen kann: Die berühmte Szene aus dem Film „Harry&Sally“, nur mit umgekehrten Vorzeichen, lässt grüßen.

Nur die drei Narren des Stücks, der Pendelfrederech (Steffen Reuber), die Lange Anna (Klaus Herzog) und der gläserne Amadeus (Simone Thoma), also Exhibitionisten, Transvestiten und Krüppel dürfen sein, wie sie wollen: Irre lachen, Unsinn reden, auf dem Vogelkäfig Geige spielen. Wie ein Chor kommentieren sie das Geschehen in der Fabrikanten-Familie. Heinrich (Achim Buch/Thiemo Schwarz), der Älteste, kann die Finger nicht von kleinen Mädchen lassen – das treibt ihn später in den Selbstmord. Eduard (Albert Bork) hat Tuberkulose, seine Schwester Marta (Katrin Hauptmann) liebt den Arbeitersohn Carl mit Hang zur Theologie (Fabio Menéndez), heiratet aber den Geschäftsführer der Fabrik, der eigentlich hinter dem Dienstmädchen Berta (Bettina Kerl) her ist. Das wird von Madame Sonntag (Rosemarie Brücher) verprügelt, die so den Frust über missratene Söhne und die nichtsnutzige Tochter abreagiert. Und währenddessen hört man das melodische Klappern der Webstühle wie fernes Grillenzirpen.

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus/Theater an der Ruhr

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus/Theater an der Ruhr

Roberto Ciulli spaziert indes als Else Lasker-Schüler (ELS) im Glitzer-Abendkleid mit Hütchen und altmodischem Kinderwagen durch die Szenerie. ELS erinnert das Schicksal der Familie Sonntag wie ihre eigene Kindheit in Wuppertal; denn hier wuchs die Bankierstochter auf, hier beobachtete sie Bürger und Proleten. Vor dem Faschismus floh die Lyrikerin in die Schweiz, dann nach Israel. Ihre Bücher wurden in Nazi-Deutschland verbrannt, sie starb verarmt am Ende des Krieges in Jerusalem. Ciulli flötet und zwitschert, spricht mit den Vögeln und streut Körner für sie auf die Bühne. In ihren letzten Jahren soll die Dichterin auf der Straße in Phantasiesprachen geredet haben, darauf spielt die Szene an.

Überhaupt ist die Inszenierung sehr poetisch; sie setzt Längen gezielt ein, verlangsamt manches Mal den Rhythmus, um Emotionen, Sehnsucht, aber auch Schmerz schweben und wirken zu lassen. Das hält nicht jeder Zuschauer aus; in unserer kommunikationsbeschleunigten Zeit ist man diese Art dramatische Achtsamkeit kaum mehr gewohnt. Zugleich lässt sich der unverwechselbare Stil des Theaters an der Ruhr, der immer avantgardistische Sprengkraft besaß und leider von zahlreichen Moden überholt wurde, hier nochmals erleben. Fast ein Anachronismus, aber ein sehr charmanter.

Weitere Vorstellungen 29. Februar, 2. März und 20. März (jeweils 19.30 Uhr). Infos:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Am Ende aller Mythen – Roberto Ciulli inszeniert „Die Bakchen“ des Euripides in Mülheim

Von Bernd Berke

Jesus stirbt am Kreuz und preßt seine letzten Worte hervor: Unser ailer Seelen seien verhärtet. Wir verschlössen Augen und Ohren vor dem Leid.

Der Messias ist nicht allein. Ton ab, Kamera läuft; wie beim Gladbecker Geiseldrama? Doch dann zeigt sich, daß hier das Leben Jesu verfilmt wird. Die Kameras werden schließlich abgebaut, der Gottessohn steigt über eine Leiter vom Kreuz. Auch er ist nur ein Schauspieler. Kult und Mythen sind vergangen, sie existieren allenfalls noch auf Zelluloid.

So beginnt in der Mülheimer Stadthalle Roberto Ciullis Inszenierung des Euripides-Dramas „Die Bakchen“. Das Stück entstand etwa 406 v. Chr. Der Jesus-Auftritt zeigt mithin, wie überaus frei Ciulli abermals mit seiner Vorlage umgegangen ist. „Nach Euripides“ heißt es im Programmheft. Roberto Ciulli und Helmut Schäfer haben das Griechenstück mit Texten von Baudelaire, Pavese, Nietzsche und Hölderlin „angereichert“.

Ciulli hat erneut ausufernd-bildkräftige szenische Phantasie walten lassen. Der Fotorealist Howard Kanovitz hat mit antikisierenden Versatzstücken einen Traumraum aus Grüften und Grabsteinen entworfen – ein Bühnenbild beinahe im Geiste von Giorgio de Chirico, dessen Arbeiten das Programmheft füllen. In diesem unwirklichen Raum verlagert sich alles Geschehen ins Innerseelische, wird zum (Alp)-Traumspiel.

Der Rausch-Gott Dionysos will, von Asien kommend, Theben erobern. Einige Frauen sind – wie man hört, aber nicht sieht – seinem Lockruf schon gefolgt, haben die Webstühle verlassen und geben sich orgiastischen Riten hin. Es sind die „Bakchen“ (Bacchantinnen). Thebens Machthaber Pentheus (knittrig auf verlorenem Vernunft-Posten: Volker Roos) ist die Gegenfigur. Der Rationalist sieht die Felle der Ordnung davonschwimmen. Er nimmt Dionysos, der Menschengestalt angenommen hat, gefangen. Doch der Gott stellt Pentheus eine furchtbare Falle, die rasenden „Bakchen“, darunter Pentheus‘ Mutter, reißen ihn in Stücke. Auch davon erfährt man nur durch einen „Botenbericht“. Bis heute ein Rätsel: Wollte Euripides der Vernunft oder dem Rausch das Wort reden? Geht es gar darum, daß das Rauschhafte nicht verdrängt werden darf, wenn es nicht zerstörerisch wiederkehren soll?

Ciulli jedenfalls macht über weite Strecken kein großes Drama daraus: Sein „Dionysos“ (Hannes Hellmann) ist nicht magisch-göttlich, sondern ein etwas überdrüssiger „Typ“ mit wallendem Langhaar. Seine Wein-Seligkeit wirkt nicht sehr lustvoll. Er schleppt die Flasche eher wie ein „Penner“ mit sich herum. Auf dem Todestrip ist er auch noch. Sein erster Monolog („Der frohe Tote“), in dem er sich den Raben und Würmern zum Fraß anbietet, stammt von Baudelaire. Die Götter müssen verrückt sein.

Nach dem Ende aller Tragödien folgt die Farce: In einer langen Szene geht es zu wie auf dem Jahrmarkt. Schwebende Jungfrau, Kasperltheater, King-Kong-Affe, Orient- und Feuerzauber. Da wirkt Dionysos‘ Befreiung aus Pentheus‘ Ketten wie der Auftritt eines Kirmes-Entfesselungskünstlers, sein Ringkampf mit Pentheus hat etwas von Boxbuden-Atmosphäre.

Nach der Pause: Pentheus‘ Mutter Agaue (Veronika Bayer) will ihren Wahn aufrecht erhalten, sie habe einen Löwen und nicht ihren eigenen Sohn zerfleischt. Ihr Vater Kadmos schlägt sie, will ihr die Wahrheit einbleuen. Die Szene wiederholt sich, es könnte endlos so weitergehen. Ein ewiger Kreislauf aus Schuld und Lüge. Dionysos schläft darüber ein, Wein rinnt aus seiner Flasche. Die Mythen sind vergangen.