Geisterhafte Unwirklichkeit des Materials: Gips-Arbeiten Henry Moores in Wuppertal

Henry Moore: Working Model for Reclining Figure Bone Skirt, 1977. Foto: Henry Moore Foundation

Henry Moore: Working Model for Reclining Figure Bone Skirt, 1977. Foto: Henry Moore Foundation

Henry Moore (1898 bis 1986) ist vor allem durch seine eleganten, expressiven Bronzeplastiken bekannt geworden. Dass er auch Arbeiten in Gips anfertigte und dieses Material am Ende seines Schaffens immer mehr schätzte, ist Kunstfreunden kaum bewusst. Erstmals in Deutschland zeigt der Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal nun eine größere Auswahl von Moores Gips-Skulpturen.

Die empfindlichen Kunstwerke sind mit Unterstützung der Henry Moore Foundation von Großbritannien nach Deutschland gekommen. Dreißig Arbeiten aus drei Jahrzehnten zeigen, wie Moore die eigentlich als Vorstufen für Bronzeskulpturen dienenden Gipsmaquetten allmählich als eigenständige Originale betrachtete, sie nach dem Bronzeguss nachträglich kolorierte oder – etwa durch Reliefierung – weiter bearbeitete. Einige bildhauerische Ideen hat Moore sogar ausschließlich in Gips gestaltet. Diese wenig bekannten Arbeiten sind nicht in das systematische Werkverzeichnis seiner Skulpturen aufgenommen wurden.

Henry Moore: Three Quarter Figure Lines, 1980. (c) Henry Moore Foundation LH 797_037 Max

Henry Moore: Three Quarter Figure Lines, 1980. (c) Henry Moore Foundation LH 797_037 Max

In Wuppertal zeigt sich an den Gipsarbeiten, wie stark die vernarbten Oberflächen, auf denen jede eingeschnittene Linie sichtbar ist, ein Gefühl der Unmittelbarkeit hervorrufen. Moore erklärte dazu in seinem Todesjahr 1986: „Gips besitzt eine geisterhafte Unwirklichkeit im Gegensatz zur soliden Kraft der Bronze.“

Mit Gips fand Moore zu einer vollkommenen Freiheit beim Finden der Form. Er arbeitete mit dem feuchten, formbaren Gips, bearbeitete das ausgehärtete Material dann auch mit Feilen, Meißel, zahnärztlichen Instrumenten oder Alltagsgegenständen wie Käsereiben. Mit einer zurückhaltenden Kolorierung betonte er bisweilen bestimmte Formpartien.

Der Skulpturenpark Waldfrieden gruppiert sich um die gleichnamige Villa, die der Künstler und Architekt Franz Krause im Auftrag des Fabrikanten Kurt Herberts anstelle eines im Krieg zerstörten Baus zwischen 1947 und 1950 realisierte. Das Haus mit seinen einzigartigen organisch anmutenden Formen und das Gelände wurden 2006 vom Bildhauer Tony Cragg erworben. Das Haus ist heute Sitz der Cragg Foundation. Die Dauerausstellung im Park zeigt etwa drei Dutzend bedeutender Plastiken der Moderne und der Gegenwart.

Henry Moore: Three Way Piece No. 1, 1964. Foto: Jonty Wilde

Henry Moore: Three Way Piece No. 1, 1964. Foto: Jonty Wilde

Das Gelände und der Ausstellungsraum sind Dienstag bis Sonntag von 10 bis 19 Uhr geöffnet. Die Tageskarte kostet 10 Euro (ermäßigt 8 Euro); Studenten zahlen 6 Euro, Schüler und Kinder unter sieben Jahren haben freien Eintritt. Öffentliche Führungen gibt es samstags um 15 und sonntags um 11 Uhr.

Gut zu der laufenden Ausstellung im Skulpturenpark passt ein Besuch der Retrospektive zum Werk des seit 1977 in Wuppertal lebenden Bildhauers Tony Cragg im Wuppertaler Von der Heydt-Museum, die am 19. April eröffnet und bis 24. August gezeigt wird.

Info: Skulpturenpark Waldfrieden, Hirschstraße 12, 42285 Wuppertal, Tel.: (0202) 47 89 81 20, www.skulpturenpark-waldfrieden.de

 




Mütter als Landschaften – Arbeiten von Henry Moore in Marl

Von Bernd Berke

Marl. Zwei Themen ziehen sich wie rote Fäden durch das Werk von Henry Moore. Der berühmte britische Bildhauer formte immer wieder liegende Figuren, und er kam so häufig auf das Thema „Mutter und Kind“ zurück, daß man geneigt ist, darin eine Art Besessenheit zu sehen.

Um so erstaunlicher, daß noch kein einziges Museum auf die Idee gekommen ist, die Mutter-Kind-Darstellungen zum Leitgedanken einer Moore-Ausstellung zu machen. Insofern kann das Skulpturenmuseum „Glaskasten“ in der Revierstadt Marl jetzt mit einer Weltpremiere aufwarten.

Die Marler Ausstellung „Henry Moore: Mutter und Kind“ – sie umfaßt 28 Skulpturen, 27 Zeichnungen und 20 Graphiken – ist noch dazu einem immensen Zufall zu verdanken. Der „Glaskasten“ besitzt nur eine Moore-Zeichnung, einen Mädchenakt von 1923. Ausgerechnet diese Arbelt war der ansonsten hervorragend unterrichteten Henry-Moore-Foundation (Stiftung) noch unbekannt. Aus Dankbarkeit für den Marler „Fund“ sandte die Stiftung sämtliche Exponate für diese Ausstellung. Weitere Besonderheit: Altbundeskanzler Helmut Schmidt, seit langem Bewunderer Moores, wird auf ausdrücklichen Wunsch des Künstlers die Ausstellung am Samstag um 11 Uhr eröffnen.

Henry Moore hat das uralte Motiv „Mutter und Kind“, das in Form von Madonnen-Darstellungen auch zum Grundbestand der religiösen Kunst gehört, in einer ungeheuren Variationsbreite künstlerisch umgesetzt. Nicht immer geht es idyllisch zu: In der Skulptur „Mutter und Kind“ von 1953 etwa scheinen gezackte Köpfe einander zerhacken zu wollen, die Mutter setzt gar einen Würgegriff am Hals des Kindes an.

Meist aber werden Vorstellungen einer schützenden „Mutter Erde“ heraufbeschworen, bzw. solche von einem „schützenden Prinzip“, einer Zuflucht für die Kreatur schlechthin. Die Frauengestalten gleichen dann Landschaften mit bergenden Höhlenformationen, auf und in denen Kinder Schutz suchen oder herumtollen. Moore hat dabei jede nur denkbare Abschattung zwischen Nähe, Loslösung und Feindseligkeit zum Ausdruck gebracht.

Die Ausstellung dauert bis zum 13. Januar 1985, der Katalog kostet 20 DM.