Imaginäre Begegnungen zwischen Ikonen der Geistesgeschichte – Herfried Münklers Buch „Marx, Wagner, Nietzsche“

Herfried Münkler ist einer der bekanntesten Professoren Deutschlands. Wann immer über ideologische Verwerfungen, historische Katastrophen und aktuelle Kriege diskutiert wird, ist seine Meinung gefragt. Ob „Die Deutschen und ihre Mythen“ oder „Der Große Krieg“ – die Bücher des Politik-Wissenschaftlers stehen auf der Bestseller-Liste. Jetzt hat Münkler drei Ikonen der deutschen Geistes- und Kultur-Geschichte vereint: „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch.“

Die ambivalenten Biografien der drei Geistesgrößen, ihre Alltagssorgen und Geldnöte, ihre politischen Analysen, musikalischen Revolutionen, philosophischen Innovationen: alles scheint längst bis ins letzte dunkle Geheimnis und verwirrendste Detail ausgedeutet. Gesellschaftsanalyse und Kapitalismuskritik von Marx; die Idee des kunstreligiösen Gesamtkunstwerks von Wagner; die Vorstellung von individueller Freiheit und Umwertung aller Werte durch den von Kunst beseelten Übermenschen von Nietzsche: tausendfach durch dekliniert. Das weiß natürlich auch Münkler. Deshalb verwickelt er die drei in ein imaginäres Gespräch.

Für Marx war Bayreuth ein „Narrenfest“

Aber Marx und Wagner sind einander nie begegnet. Nur einmal hat sich Marx, als er 1876 auf dem Weg zur Kur nach Karlsbad war und bei einer Zwischenstation in Nürnberg kein Zimmer bekommen konnte, fürchterlich geärgert, weil die Stadt – wie Marx ätzte – überschwemmt sei von Leuten, „die sich von dort aus zu dem Bayreuther Narrenfest des Staatsmusikanten Wagner begeben wollten.“ Am Kurort angekommen, schreibt Marx an seinen Freund Engels: „Allüberall wird man mit der Frage gequält: Was denken Sie von Wagner?“ Marx dachte nichts über Wagner, er war ihm völlig schnuppe. Der Musikgeschmack von Marx war zu konventionell, um die kompositorischen Neuerungen Wagners auch nur ansatzweise erfassen zu können.

Auch das individualpsychologische und kunstphilosophische Werk Nietzsches hat Marx weder zur Kenntnis genommen noch irgendwo kommentiert. Bei Wagner und Nietzsche liegt der Fall anders: Nietzsche hat Wagner erst glühend verehrt und in ihm den Retter des dionysischen Geistes gesehen, der einen neuen Kunst-Kult erschaffen und Deutschland zu einem aus antiken Ruinen wieder auferstandenen Griechenland machen könnte. Dass sich Nietzsche später von Wagner entfremdete, von seinem großbürgerlichen Lebensstil und seinem Antisemitismus angeekelt war, steht auf einem anderen Blatt.

Posthume Verfälschung der Werke

Münklers Buch ist der Versuch, Marx, Wagner und Nietzsche vom Kopf auf die Füße zu stellen, aufzuzeigen, dass Marx mit dem Realen Sozialismus nichts am Hut gehabt hätte und von Stalins Schergen an die Wand gestellt worden wäre; dass Wagners Antisemitismus zwar etwas Verwerfliches und Nietzsches Kunst-beseelter Übermensch etwas Wahnwitzes hatte, dass beide aber im Grabe rotieren würden, wenn sie wüssten, dass der eine zum Lieblings-Musiker von Hitler und der andere zum Vordenker des Faschismus vergewaltigt wurde.

Münkler konzentriert sich auf so genannten „Knoten“, Punkte, in denen die Biographien der drei sich berühren, Ereignisse, die für alle drei von besondere Bedeutung sind. Einer dieser „Knoten“ ist Bayreuth 1876, wo der vorbei reisende Marx sich über die vielen Wagner-Fans ärgerte und Nietzsche sich von Wagner nicht genügend gewürdigt fühlte, enttäuscht von den Festspielen abreiste und fortan zum Wagner-Hasser mutierte.

Knotenpunkte der Geschichte

Auch der deutsch-französische Krieg von 1870/71 ist ein „Knoten“, der Wagner in seiner Deutschtümelei bestärkte und von der Zerstörung des verhassten Paris träumen ließ, während Nietzsche sich erst freiwillig als Sanitäter meldete und später um das von der Pariser Commune zerstöre kulturelle Erbe fürchtete. Marx dagegen sah als Diagnostiker auf den Krieg und die Niederschlagung des Aufstands und entwickelte aus seinen Analysen eine neue Sicht auf die Rolle der deutschen Arbeiterklasse. Die Revolution von 1848/49 ist ein weiterer „Knoten“: Wagner hat als Hofkapellmeister zusammen mit seinem Anarchisten-Freund Bakunin auf den Dresdner Barrikaden gekämpft, Marx als Chefredakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“ die Politik mit journalistischen Mitteln begleitet: beide, Wagner und Marx, gingen nach dem Scheitern der Revolution ins Exil.

Für Nietzsche, damals noch ein Kind, blieb die Revolution folgenlos, sie war für ihn nie ein Thema. Der Antisemitismus ist ein „Knoten“ und Anlass, nach entsprechenden Belegen zu suchen, zu zitieren, wie Marx in privaten Briefen seinen Widersacher Lassalle wegen seines „jüdischen Aussehens“ beleidigte; Anlass auch, ausführlich zu diskutieren, ob Alberich im „Ring“, Beckmesser in den „Meistersingern“ und Kundry im „Parsifal“ als Juden-Stereotype anzusehen sind, und was es bedeutet, wenn Nietzsche die Juden als Urheber des „Sklavenaufstands in der Moral“ tituliert.

„Begleiter im 21. Jahrhundert“?

Münkler umkreist Themen wie die Wiedergeburt der Antike, Krankheit und Schulden, gescheitere Revolution und gelungene Reichsgründung, Bourgeoisie und Proletarier, die europäischen Juden und die Umsturzprojekte mittels Kunst und neuer Werte-Ordnung. Er fahndet nach Zitaten und biografischen Daten, versucht das Werk der drei Protagonisten zu entwirren, auf seinen unverfälschten Kern zurück zu führen und als Wegweiser vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart zu deuten. Eine Sisyphusarbeit.

Zum Schluss schreibt Münkler, „alle drei miteinander ins Gespräch gebrachten Denker (sind) im 21. Jahrhundert angekommen – und haben hier, nach hochideologischer Auslegung ihrer Werke im 20. Jahrhundert, wieder zu sich selbst gefunden. Einer Welt im Umbruch entstammend, können sie zu Begleitern im 21. Jahrhundert werden, ebenfalls eine Welt im Umbruch.“ Wie diese „Begleitung“ aussehen, welche Themen für die Lösung der heutigen Probleme wichtig sein könnten, das hätte man doch gern etwas genauer gewusst. Doch darüber schweigt sich der sonst so beredte Münkler leider beharrlich aus.

Herfried Münkler: „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“. Rowohlt Berlin 2021, 720 Seiten, 34 Euro.

 




Ein Fenstersturz mit unabsehbaren Folgen: Vor 400 Jahren begann in Prag der Dreißigjährige Krieg

Die Szene wirkt wie aus einem schlechten Film: Am Morgen des 23. Mai 1618 dringt ein Trupp radikaler Protestanten unter Führung des Grafen Heinrich Matthias von Thurn auf der Prager Burg in den Tagungsraum der vom Kaiser und König von Böhmen ernannten Bevollmächtigten – der sogenannten Regenten – ein.

Das Werk von Herfried Münkler über den Dreißigjährigen Krieg. Coverabbildung: Rowohlt Verlag

Das Werk von Herfried Münkler über den Dreißigjährigen Krieg

Dort kommt es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung, in deren Verlauf die beiden katholischen Regenten Jaroslav Borsita von Martinitz und Wilhelm Slavata samt dem Sekretär Philipp Fabricius aus dem Fenster in den 17 Meter tiefen Burggraben gestoßen werden – in der Absicht, sie zu ermorden.

Die Mode der Zeit verhindert den Tod der drei: Die schweren, weiten Mäntel bremsen den Sturz, die abgeschrägten Mauern der Burg lassen die Männer wohl eher hinabrutschen als im freien Fall auf den Boden schlagen. Dass die Opfer auf einem Misthaufen weich gelandet seien, ist jedoch eine Legende.

„Urkatastrophe der Deutschen“

Der „Prager Fenstersturz“ wird gemeinhin als Beginn einer 30jährigen Serie kriegerischer Auseinandersetzungen angesehen, die erst 1648 mit dem „Westfälischen Frieden“ endete. Bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs galt der Dreißigjährige Krieg als Urkatastrophe der Deutschen: Gewalt und Seuchen dezimierten die Bevölkerung von geschätzt 17 auf elf Millionen, die „kleine Eiszeit“ – es gab Jahre, da schneite es bis in den Juni – mit Missernten und Hungersnöten tat ein Übriges dazu.

Heerhaufen und umherziehende Marodeure verwüsteten die Felder, brannten Gehöfte und Dörfer nieder, brachten Epidemien ins Land, vergewaltigten und töteten. Der Historiker Herfried Münkler, Verfasser eines grundlegenden neuen Buchs über diese Zeit, sagt, der Krieg habe im Verhältnis „weit mehr Todesopfer gefordert als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen“.

Münkler weist jedoch auch darauf hin, dass die Kriege, die zwischen 1618 und 1648 geführt wurden, nicht als Religions- oder Konfessionskriege gelten können: „Religion fungierte vor allem als Brandbeschleuniger für … politische Konflikte. Und diese Konflikte schafften wiederum die Möglichkeit, den religiösen Streit in äußerster Härte auszutragen“, sagt er in einem Interview. Die Besonderheit des Konflikts sei, so Münkler in der „Tagespost“, dass er sich „relativ früh und fast gleichzeitig mit der Konfessionsfrage verbindet“.

Der Aufstand in Böhmen war keine Volksbewegung

Der sogenannte böhmische Aufstand war keine breite Volksbewegung, sondern die Reaktion einer Minderheit Adliger auf die Politik der Habsburger: Der 1617 zum König von Böhmen gewählte Ferdinand versuchte, das Land zu rekatholisieren. Zwar hatte er die Privilegien der Protestanten bestätigt, die Politik vor Ort aber wurde als Schikane empfunden, gegen die sich immer mehr Widerstand formierte. Zudem hegte Ferdinand ein tiefes Misstrauen gegen die Stände. Die Schließung und der Abriss zweier evangelischer Kirchen 1617 führten zum Protest protestantischer Adliger, woraufhin der König weitere Versammlungen verbot.

Herfried Münkler. Foto: Rowohlt/Reiner Zensen

Der Autor Herfried Münkler (Foto: Rowohlt/Reiner Zensen)

Der Konflikt weitete sich aus, als die protestantische Opposition ein „Direktorium“ als Übergangs-Landesregierung wählte und begann, unter Führung des Grafen Thurn eine Armee aufzustellen. Die Habsburger reagierten zunächst planlos und ihre militärischen Kräfte unter Karl Bonaventura Bucquoy waren zu schwach, um sich durchzusetzen. Während Ferdinand in Frankfurt zum deutschen Kaiser gewählt wurde, schlossen sich die fünf böhmischen Kronländer (Böhmen, Mähren, Schlesien und die beiden Lausitzen) zu einer Konföderation zusammen, erklärten die Wahl Ferdinands zum König von Böhmen für widerrechtlich und wählten am 26. August 1619 den 23jährigen Friedrich V. von der Pfalz zum König.

Keine Unterstützung für den „Winterkönig“

Der Pfälzer hatte auf Unterstützung seines Schwagers, des Königs von England, und der protestantischen Union gerechnet, wurde aber bitter enttäuscht. Von seinen neuen Untertanen verstand er weder die Katholiken noch einen Teil der in zahlreiche Splittergruppen zerfallenden Protestanten. Seine streng reformierten Pfälzer Begleiter zogen sich den Unmut der Böhmen zu, als sie im Prager Veitsdom Kunstwerke zerstörten und Heiligengräber schändeten. Inzwischen beschlagnahmten die böhmischen Konföderierten katholische Besitztümer und erhöhten die Steuern erheblich, um ihre Militärausgaben zu finanzieren. Ein Vorstoß auf Wien im Winter 1619 scheiterte.

Jetzt sammelte der neu gewählte Kaiser Ferdinand seine Kräfte: Er sicherte sich die Unterstützung von Herzog Maximilian von Bayern. Im August 1620 nötigte Ferdinand den mit den Böhmen verbündeten österreichischen Ständen eine Kapitulation ab, dann marschierten die kaiserlichen Truppen unter Bucquoy und dem berüchtigten Johann T’Serclaes von Tilly in Böhmen ein. In der Schlacht am Weißen Berg am 8. November 1620, der ersten großen militärischen Auseinandersetzung des Dreißigjährigen Krieges, unterlagen Friedrich V. von der Pfalz und sein Heerführer Christian I. von Anhalt den Truppen der Katholischen Liga. Der Weg zur Entmachtung der Stände und zur Gegenreformation in Böhmen war damit frei. Friedrich V. verlor seine Erblande und die Kurwürde, die sich Maximilian von Bayern neben der Oberpfalz sicherte.

Geschürt von Extremisten auf beiden Seiten

Der Konflikt war freilich nicht zu Ende. Noch war ein „Dreißigjähriger Krieg“ nicht absehbar, aber die Kräfte des politischen Ausgleichs waren nicht in der Lage, die Eskalation zu stoppen. Der zunächst auf Böhmen und Teile Österreichs begrenzte Verfassungs- und Konfessionskonflikt wurde zum Krieg katholischer und protestantischer Mächte, geschürt von Extremisten auf beiden Seiten, Reformierten und Jesuiten. Er weitete sich aus zu einem europäischen Hegemonialkrieg, aus dem die Partei der Habsburger als der große Verlierer hervorgeht und sich europäische Groß- und Mittelmächte wie Frankreich, Schweden, aber auch Bayern und Sachsen stabilisieren und arrondieren.

Lektüre:

Herfried Münkler: „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe,  deutsches Trauma 1618-1648“. 976 Seiten. Rowohlt-Verlag Berlin. Hardcover 39,95, E-Book 29,99 Euro.

Peter H. Wilson: „Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie“. 1160 Seiten. Theiss Verlag. Hardcover 49,95, E-Book 39,99 Euro.




Nichts blieb, wie es war: Herfried Münklers umfassendes Werk über den Ersten Weltkrieg

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Es hätte ein deutsches Jahrhundert werden können – im positiven Sinn. Ob Wissenschaft, Technik, Medizin oder Industrie: Deutschland nahm 1914 in Europa durchaus eine Vorreiterrolle ein und erfuhr vielfältige Anerkennung.

Verheißungsvoll waren auch die Signale des südlichen Nachbarn, der k.u.k. Monarchie. Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand wollte den einzelnen Nationalitäten mehr Eigenständigkeit gewähren, um auf diese Weise den Vielvölkerstaat in eine sichere Zukunft zu führen. „Wo ist da also das Problem?“, drängt sich als Frage am Vorabend des 1. Weltkrieges auf. Wieso es dann doch zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ kam, um den amerikanischen Historiker George F. Kennan zu zitieren, analysiert der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler in seinem eindrucksvollen Werk „Der große Krieg“ und geht noch einige Schritte weiter.

Welche Folgen die Jahre 1914 bis 1918 für die Grenzen auf dem Globus hatten, wie die Menschen mit dem unsagbaren Leid umgegangen sind, was der Krieg für die politischen Systeme bedeutet hat und wie sich der Krieg auch als solcher maßgeblich verändert hat, sind Fragestellungen, die für den renommierten Professor an der Berliner Humboldt-Universität zwingend dazugehören, wenn er über den Ersten Weltkrieg schreibt. Schließlich sucht Münkler auch nach den Lehren, die aus dem Waffengang zu ziehen sind, und kommt gerade mit Blick auf die heutige Weltpolitik zu eher ernüchternden Erkenntnissen.

Aber der Reihe nach.

Wer und was hat den Krieg ausgelöst?

Hat nun der deutsche Militarismus, der Kriegsenthusiasmus der Bevölkerung, das Pulverfass Balkan oder die komplizierte Bündnispolitik auf dem europäischen Kontinent den Ersten Weltkrieg ausgelöst? Es spielten nach den Ausführungen von Münkler wohl alle aufgeführten Gründe eine maßgebliche Rolle – in Kombination mit einer Kette unglücklicher Umstände, so banal sich das auch anhören mag. Vor allem lässt sich das über das Attentat von Sarajewo sagen, bei dem der Erzherzog von dem serbischen Freiheitskämpfer Gavrilo Princip erschossen wurde. Zu den widrigen Zufällen gehört unter anderem, dass zunächst eine andere Fahrtroute geplant war, die dem Attentäter überhaupt nicht die Chance auf den Anschlag gegeben hätte.

Indem Münkler aber nicht nur auf die Kausalitäten des Kriegsausbruchs eingeht, sondern auch den Begriff des Militarismus und das Bild eines kriegsbegeisterten Volkes einer kritischen Würdigung unterzieht, entsteht ein sehr differenzierte Betrachtung der politischen Verhältnisse in Deutschland und in Europa. Denn militaristisch waren die Nachbarstaaten auch aufgestellt, macht der Autor deutlich, zum Teil sogar noch stärker.

Sicherlich gab es Strömungen, die einen Krieg herbeisehnten, aber war das die Mehrheit des Volkes? Wenn man aber nun schon in einen Krieg hineingeraten ist, sich dann aber nach wenigen Monaten abzeichnet, dass er nicht zu gewinnen ist, warum hat niemand der Kriegstreiberei ein Ende bereitet, überlegt Münkler. Es war vor allem – nach seinen Forschungsergebnissen – eine sehr eigenartige Personen- und Machtkonstellation, die verhinderte, dass ein Kaiser, dessen Kriegswille bis heute umstritten ist, und ein Kanzler, der bis zuletzt auf Frieden setzte, sich nicht gegen einen Generalstab durchsetzen konnte, der auch nicht in Gänze als kriegslüstern zu charakterisieren ist. Das Verhalten aller Beteiligten, so wie es Münkler beschreibt, erinnert an einen Satz von Karl Valentin, den man wie folgt abwandeln könnte: „Mögen hätten wir schon wollen, aber dürfen habe wir uns nicht getraut“.

Eigentlich gab es nur Verlierer

Am Ende des Krieges gab es zwar offiziell Gewinner, doch nach Ausführungen des Politikwissenschaftlers eigentlich nur Verlierer. Frankreich hatte in Relation betrachtet die meisten Verluste an Soldaten zu beklagen, Großbritannien sein Kolonialreich verloren und Italien das Ziel verfehlt, eine bedeutsame Stellung zu erringen. Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gab es nicht mehr, ebenso wenig das Osmanische Reich, und die neuen Staaten in Südosteuropa entpuppten sich als eher fragliche Gebilde. Deutschland war ein Schatten seiner selbst geworden – mit der Bürde, für den Krieg verantwortlich zu sein.

Der Begriff der Urkatastrophe meint aber noch mehr als eine Verschiebung der Machtverhältnisse und eine neue Landkarte für weite Teile der Welt. Mit den Stellungskriegen, dem Einsatz von Giftgas, Stacheldrahtverhauen, Panzern und Flugzeugen erreichte der Krieg bislang ungeahnte Dimensionen an Brutalität, schreibt Münkler. Überdies musste auch die Zivilbevölkerung in einem Ausmaß Not und Hunger leiden, das man bislang nicht gekannt hatte. Authentizität verleiht Münkler er seinen Schilderungen auch dadurch, dass er unter anderem Schriftsteller wie Ernst Jünger, Thomas Mann oder Arnold und Stefan Zweig zu Wort kommen lässt, die ihre Erlebnisse in Büchern verarbeitet haben.

Waffengänge ohne wirkliches Ziel

Apropos Literatur: Der Politikwissenschaftler befasst sich eingehend damit, wie Schriftsteller der damaligen Zeit den Krieg bewerten und ihm neue Deutungen gegeben haben. Denn ein Kriegsziel sei schon sehr schnell abhanden gekommen, wenn es überhaupt je ein solches gegeben habe, erklärt der Autor. Nach seinen Ausführungen war das die Geburtsstunde der Helden, die in der Schlacht kämpften und an denen sich die Bevölkerung ein Beispiel nehmen sollte.

Eine Zäsur bildete der Erste Weltkrieg schließlich auch, weil die USA sich schon sehr bald als eine Weltmacht gerierten und in Russland ein ganz neues Herrschaftssystem entstand, nicht zuletzt durch deutsche Hilfe. Die Regierung ließ bekanntlich Revolutionär Lenin durchs Land gen Osten reisen, um den Kriegsgegner Russland zu schwächen.

Angesichts der Tragweite, die dem Weltkrieg und seinen Folgen zukommt, ist es mehr als unverständlich, dass in Deutschland die Jahre 1914 bis 1918 nur noch ein Fall für Historiker sind und politikwissenschaftlich keine Relevanz mehr besitzen, wie es Münkler ausführt. Es bietet sich zum Beispiel an, darüber zu reflektieren, ob wirtschaftliche Verflechtungen Kriege verhindern, wie es in aktuellen politischen Debatten häufig zu hören ist. Der Politikwissenschaftler stellt heraus: Auch vor dem Ersten Weltkrieg gab es zwischen den späteren Gegnern intensive ökonomische Beziehungen Und: Der Adel in den Monarchien bestand aus nahen Verwandten.

Herfried Münkler: „Der große Krieg. Die Welt 1914-1918“. Rowohlt-Verlag, 924 Seiten, 29,95 Euro.