Vom Dosenaufreißer bis zum Propeller – Schau zur Archäologie der Moderne in Herne

In Herne wie ein Kleinod präsentiert: Dosenring vom Woodstock-Festival, 15. bis 18. August 1969. (Leihgeber: The Museum at Bethel Woods, Bethel (USA) / Foto: Bernd Berke)

Was glitzert denn da in der Vitrine? Ein ziemlich kleines Objekt. Wahrscheinlich kostbar. Mal näher rangehen. Nanu? Das ist ja ein ringförmiger Dosenaufzieher der gewöhnlichsten Sorte (mutmaßlich für Coca oder Pepsi); noch dazu angerostet, aber präsentiert wie ein Kleinod oder gar Kronjuwel. Dazu muss man allerdings wissen, dass das alltägliche Stück zu den materiellen Hinterlassenschaften des legendären Woodstock-Festivals (1969) gehört und vielleicht Rückschlüsse auf das Ereignis zulässt, das eine ganze Generation mitgeprägt hat. Und wer zeigt so etwas?

Nun, wir befinden uns im LWL-Museum für Archäologie und Kultur in Herne. Das Haus zählt zu den Vorreitern einer neueren Entwicklung im Ausgrabungs-Wesen. Seit immerhin rund 15 Jahren befasst man sich hier mit Archäologie der Moderne, also nicht mehr ausschließlich mit ur- und frühgeschichtlichen oder antiken Funden, sondern auch mit Dingresten der letzten 200 Jahre.

Ergänzung zu schriftlichen Quellen

Aber ist denn nicht die herkömmliche Geschichtswissenschaft für die letzten Jahrhunderte zuständig? Doch, gewiss. Das wird auch so bleiben. Doch die Archäologen glauben, dass ihre Fundstücke noch einmal andere Befunde erschließen können, die den Umgang der Menschen mit der Dingwelt in den Blick nehmen und das sonstige, schriftlich und visuell reichlich angesammelte Wissen womöglich ergänzen. Georg Lunemann, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), bringt es auf eine Formel: „Auch Schrott, Schutt und Müll können eine Geschichte erzählen.“ Wenn man sie denn mit archäologischem Rüstzeug zu bergen und zu deuten versteht. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders spricht von einem buchstäblich „handfesten Beitrag“ zur Geschichte. Ob alle Historiker diese Hilfestellung zu schätzen wissen oder sie als Einmischung in ihre Belange begreifen? Abwarten.

Viele Exponate aus westfälischen Grabungen

Wie breit das Spektrum ist, das sich da zu eröffnen verspricht, zeigt nun jedenfalls die große, in Deutschland bislang beispiellose Überblicks-Ausstellung mit dem bezeichnenden Titel „Modern Times“. Rund 100 Funde und Fundkomplexe aus der Zeit zwischen 1800 und 1989 sind zu sehen, darunter etwa die Hälfte aus westfälischen Grabungskampagnen. Eine eigens erstellte App und Leih-Tablets im Museum sollen die Geschichte(n) hinter den Objekten so ausführlich darstellen, wie es mit musealen Texten und Schautafeln nun mal nicht geht. Die Ausstellung gliedert sich in sechs Stränge, deren Titel eher willkürlich und assoziativ klingen: Innovation, Gefühl, Zerstörung, Besonderes, Zweck und Erinnerung. Wahrscheinlich könnten die meisten Objekte in mehrere Kategorien eingeordnet werden. Sei’s drum.

Diese Champagnerflasche aus den 1840er Jahren hat es wirklich in sich. (Foto: Bernd Berke)

Champagner vom 1840er Jahrgang

Eines der erstaunlichsten Exponate ist jene noch gefüllte Champagnerflasche von etwa 1840. Gleich 168 solcher Flaschen wurden 2010 in der Ostsee aus einem alten Schiffswrack geborgen. 50 Meter unter dem Meeresspiegel herrschten Temperatur- und Druckverhältnisse, die das edle Getränk konserviert haben. Es soll sogar noch trinkbar sein, versichern Fachleute. Freilich: Der Zuckergehalt, so ergab eine Analyse, sei damals ungefähr zehnmal so hoch gewesen wie bei heutigem „Schampus“. Also doch eher nicht trinkbar, zumindest nicht genussreich für jetzige Geschmäcker. Dennoch ist der Fund wertvoll. Er gibt eben Auskunft über die damalige Wein- und Champagner-Herstellung, über den Stand des Luxus und der Moden sowie über mutmaßliche Verschiffungswege. War die Fracht gar für den russischen Zarenhof bestimmt? Lieferscheine lagen nicht mehr bei…

Was und wie sie wohl im Protestcamp zu Gorleben gegessen haben? Das lassen weitere Vitrinenstücke in der Herner Schau zur Archäologie der Moderne ahnen. (Foto: Bernd Berke)

Was vom Protestcamp übrig blieb

Ganz anderer Themenkreis: Da gibt es beispielsweise – Jahrzehnte später ausgegrabene – Funde vom einstigen Protestcamp „Republik Freies Wendland“ aus Gorleben. Auch hierzu sieht man einige Relikte als Vitrinenstücke. Fast schon zum Schmunzeln, wie sich die Überbleibsel den verschiedenen Seiten zuordnen lassen. Die jeweils kurzfristig dorthin beorderten Polizeikräfte nahmen in Gorleben offenkundig eilige Mahlzeiten von Papptellern ein, während die campierenden Demonstranten sich auf längere Dauer mitsamt Kochstellen eingerichtet hatten und beispielsweise Livio-Speiseöl in Blechdosen mit sich führten. Keine grundlegend neue Erkenntnis zur historischen Sachlage, aber sozusagen doch eine Art zusätzlicher, lebensnaher Farbtupfer.

Erschütternde Relikte aus der NS-Zeit

Bis hierher ging es um Exponate, die relativ harmlos anmuten. Doch man wird in Herne auch durch Fundstücke erschüttert, die von Stätten des NS-Terrors stammen, so etwa von Erschießungsplätzen zwischen Warstein und Meschede oder vom Kriegsgefangenenlager Stalag 326 bei Stukenbrock (Ostwestfalen), wo russische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg gepeinigt wurden. Diese schrecklichen Fundstätten werden zu verschiedenen Zeitpunkten Thema flankierender Studio-Ausstellungen sein. Besonders nahe geht einem der Anblick persönlicher Hinterlassenschaften, wie etwa Frauenschuhe oder bunte Perlen. Das Leben hätte schön sein können…

Britischer Kampfflugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg. (Foto: Bernd Berke)

Probleme mit tonnenschweren Fundstücken

Während übliche archäologische Funde aus weit zurück liegender Zeit meist sehr kleinteilig sind (Gefäß-Fragmente, Schmuckstücke, Knochenreste), hat es die Archäologie der Moderne öfter mit deutlich größeren und manchmal tonnenschweren Kalibern zu tun. So gehören zur Herner Schau beispielsweise eine gußeiserne Säule aus zwischenzeitlich verschütteten Beständen der Firma Krupp, ein kapitaler Heizungs-Ventilator aus dem zerstörten kaiserlichen Berliner Schloss (als Zeugnis zur Technikgeschichte) oder ein in Essen aufgefundener britischer Flugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg, der ein Einschussloch aufweist. Dieser Umstand lässt wiederum vermuten, dass das Objekt in Deutschland als vermeintlicher Abschuss-Triumph der Wehrmacht öffentlich vorgezeigt worden ist. LWL-Chefarchäologe Prof. Michael Rind betont, dass derlei Dinge ungeahnte Herausforderungen im Hinblick auf Konservierung, Restaurierung und Lagerung bedeuten. Zu fragen wäre wohl auch, ob wirklich alles aufgehoben werden muss oder ob hie und da eine präzise Dokumentation der Funde genügt.

Urzeit des Videospiels

Jetzt noch eine Spezialität für Videospiel-Fans: Aus der Urzeit des Genres, den frühen 1980er Jahren, stammt die Spielkassette für Konsolen, die tatsächlich später ausgegraben wurde. Die vom Kommerz-Flop tief ettäuschte Firma hatte das gesamte Material in der Wüste von New Mexico verscharren lassen, um möglichst nie wieder daran denken zu müssen. Es ist einigermaßen kurios, dass diese einst so unliebsame Erinnerung jetzt in Herne wiederbelebt wird.

Unterwegs zur „klimaneutralen“ Ausstellung

Die Ausstellung hat schließlich noch einen anderen Aspekt. Es soll erkundet werden, wie „nachhaltig und klimaneutral“ eine solche Schau zu bewerkstelligen ist – angefangen bei wiederverwertbaren Stellwänden, Katalog auf Recycling-Papier und so fort. Das zukunftsweisende Projekt wird gefördert – im Rahmen des Programms „Zero – klimaneutrale Kunst- und Kulturprojekte des Bundes“. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders möchte sämtliche Möglichkeiten zur ressourcenschonenden Gestaltung ausloten, stellt aber vorsichtshalber klar, dass das schonendste aller Verfahren nicht in Frage kommt: „Keine Ausstellungen mehr zu machen, das ist keine Option“.

„Modern Times“. Ausstellung zur Archäologie des 19. und 20. Jahrhunderts. LWL-Museum für Archäologie und Kultur, Herne, Europaplatz 1.

Ab 8. September 2023 bis zum 18. August 2024. Di / Mi / Fr 9-17, Do 9-19, Sa / So / Feiertage 11-18 Uhr. Tel.: 02323 / 94628-0. Katalog (632 Seiten) für 34,95 Euro im Museumsshop.

www.lwl-landesmuseum-herne.de
und
https://www.sonderausstellung-herne.lwl.org/de/

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Ähnlich gelagerte Schau im Essener Ruhr Museum

Archäologie der Moderne scheint wirklich im Schwange zu sein. Just in diesen Tagen wirbt das Essener Ruhr Museum auf Zollverein (Gelsenkirchener Straße 181) für seine offenbar ähnlich gelagerte Schau „Jüngste Zeiten. Archäologie der Moderne an Rhein und Ruhr“, die vom 25. September 2023 bis zum 7. April 2024 in der Kohlenwäsche zu sehen sein soll. Öffnungszeiten: Mo-So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Katalog (304 Seiten) 29 Euro. www.ruhrmuseum.de

Herne und Essen geben Eintritts-Rabatte bei Vorlage eines Tickets der jeweils anderen Ausstellung.




„Lyriksalven pflügen sich kometenhaft ins Gedächtnis“ oder: Höhenflüge beim Poetry Slam

Nur mal so als Beispiel fürs Genre: Sebastian Rabsahl, deutschsprachiger Meister im Poetry Slam 2008, bei einem Slam-Auftritt in Kiel, 2016. (Foto: Wikimedia Commons, © Ichwarsnur / Marvin Radke) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en

Es ist schon sehr lange her, doch erinnere ich mich gut, wie uns schon in den Einführungs-Veranstaltungen des Germanistikstudiums eingeschärft wurde, doch bitte Worte wie „Dichtung“ und „Dichter“ (vom Gendern war noch keine Rede) nicht weiter zu verwenden. So erhaben und feierlich sollte es nicht mehr zugehen, denn derlei Tremolo-Stimmung war oft genug missbräuchlich verwendet worden.

Daher die im Grunde nachvollziehbare Kehrtwende. Schlicht und einfach „Texte“ sollte es fortan heißen; ganz gleich, ob es nun um Lyrik von Hölderlin und Rilke oder einen Artikel der „Bild“ ging. Mit solch nüchterner Nivellierung ging vielleicht auch eine – einstweilen noch unbeabsichtigte – unterschwellige Einebnung, wenn nicht gar Wertminderung schriftstellerischer Schöpfungen einher. Wenn eh alles eins ist, kann ja auch alles Literatur sein. Und überhaupt: „Jeder Mensch ist ein Künstler“, so lautete ja jene oftmals falsch verstandene Beuys-Parole, die seither im Schwange war.

Es war wohl e i n e der Voraussetzungen für den Aufstieg dessen, was wir seit einiger Zeit als popkulturelle Haupt-Erscheinungsform von Literatur kennen: Poetry Slam. Wörtlich könnte man’s ungefähr mit „Dichtungs-Kracher“ übersetzen. Aber das scheint in Zeiten, in denen sich nahezu alle als perfekt Englisch-Sprechende gerieren (haha!), wohl herzlich überflüssig zu sein.

Poetry Slam also. Gern in Form einer Stand-Up-Comedy-Darbietung (ähnlich wie beim Impro-Theater), in jedem Falle bühnentauglich. Das Publikum muss trampeln und johlen, sonst war es eigentlich nix. Na gut, manchmal darf es auch ein wenig ergriffen sein. Selbst Bewerbungen um Stadtschreib-Posten sollten tunlichst Hinweise auf „Skills“ in Poetry Slam und allfällige Diversität enthalten, sonst sinken die Chancen erheblich.

Die Urheberinnen und Urheber sitzen nicht mehr (oder allenfalls nebenbei) im stillen Poesie- oder Prosa-Kämmerlein und schreiben empfindsam vor sich hin, sondern betreten am liebsten gleich die Bretter und hauen ihre Zeilen beherzt ‚raus. Keine Frage, dass es dabei auch etliche Könnerschaft zu bewundern gilt. Doch es sind inzwischen dermaßen viele Slammer(innen) unterwegs, dass auch viele Dilettierende unter ihnen sind, ja sein müssen. Wie auf jedem anderen Gebiet menschlichen Schaffens auch. Was willst du denn mal werden: Influencender oder Slammerin?

Hehre Kunst der Überleitung: Just heute erreicht uns eine über die Maßen wortmächtige Pressemitteilung aus der Ruhrgebiets-Gemeinde Herne, Absender ist die Organisation WortLautRuhr. Sozusagen mit Pauken und Trompeten wird die Tatsache verkündet, dass mit 16 Veranstaltungen auf acht Bühnen vom 27. bis 30. Oktober 2023 in Bochum die „deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam“ stattfinden, und zwar mit dem Einzelfinale in der „prestigereichsten Location des Ruhrgebiets“. Nun ratet! Welche Location könnte das denn sein? Die Weltkulturerbe-Zeche Zollverein in Essen? Das Dortmunder Westfalenstadion? Das Schauspielhaus Bochum?

Weit gefehlt. Nach dieser Lesart ist es das Bochumer Starlight Express-Theater. Das Kriterium muss also viel mit Show und manches mit Remmidemmi zu tun haben. Egal. Die Leute, die bei der Meisterschaft antreten, kämen jedenfalls „aus allen 7 deutschsprachigen Ländern“ – wobei schon zu fragen wäre, ob etwa Bayern, Sachsen und Thüringen jeweils einzeln mitgezählt werden. Nun ja, ebenfalls egal.

Bei der Beschreibung dessen, was Poetry Slam sei, greifen die Macherinnen und Macher des gastgebenden WortLautRuhr jedenfalls mächtig in die Harfe. Drum wollen wir es abschließend in Form lyrischer Hervorbringungen hierher setzen. Poetry Slam erzeuge immer wieder „Internet-Hypes“ (gähn!), es dränge jede Menge „hungriger Nachwuchs“ (puh!) auf die Bühnen. Und dann, alles wörtlich zitiert:

Poetry Slam ist Party,
Poetry Slam ist Emotion.
Hier haut einen die geballte Wortgewalt
und Performance-Ekstase von den Sitzen,
Lyriksalven pflügen sich
kometenhaft ins Gedächtnis,
Lachmuskelkater garantiert.

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Infos:

www.wortlautruhr.de
www.slam23.de

 




Schauspielkunst ausgebremst: „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ mit Maja Beckmann in Bochum

Maja Beckmann (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Zugegeben: Wenn Maja Beckmann nicht auf dem Besetzungszettel gestanden hätte, wäre ich wohl nicht hingegangen. Maja Beckmann – für den, der es nicht weiß – ist die etwas ältere Schwester der noch etwas bekannteren Lina Beckmann. Beide Schauspielerinnen stammen aus Herne, beiden ist, in unterschiedlichen Ausprägungen, ein Theaterspiel eigen, das, unter Frauen zumal, seinesgleichen auf deutschen Bühnen nicht leicht findet.

Zwei Schwestern

Wenn Lina der etwas zupackendere, offensivere Charakter ist, dann treffen auf Maja eher Attribute wie zurückhaltend, zögernd, schüchtern, unsicher, aber in diesen Valeurs wiederum auch zupackend und mutig zu. Mit dem vermeintlich falschen Ton am richtigen Platz wildgrubern sie beide ein bißchen, und ein bißchen auch ist gerade Maja die Gabe eigen, auf ganz entzückende Art mitunter in ihrer Rolle etwas neben sich zu stehen – wie es weiland Andrea Breths Liebling Wolfgang Michael zustande brachte oder durchaus auch, heutzutage, Bochums gefeierter Macbeth Jens Harzer. Dies nur in aller Kürze zur Attraktion des Abends.

Clee (Anna Drexler, links) und Cheryl Glickman (Maja Beckmann) (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Jetzt Zürich

Maja Beckmann spielte etliche Jahre in Bochum Theater und hat es mittlerweile bis nach Zürich gebracht. Das Stück, das an diesem Abend im großen Bochumer Haus zur Aufführung gelangt, heißt „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ und entstand, köstlicher Scherz, nach Miranda Julys Debutroman „Der erste fiese Typ“. Da haben die Schlauberger vom Schauspielhaus Zürich – von dort nämlich wurde das Stück übernommen – gleich zwei Sprachsignale im Titel untergebracht, Respekt. Und damit das ganze nicht so plump wirkt, wie es eigentlich ist, beginnt der Abend denn auch damit, daß die beiden Frauen auf der Bühne in einem kindlich schüchternen Dialog dem Publikum diese Titelwerdung erklären.

Clee (Anna Drexler, links) und Cheryl Glickman (Maja Beckmann) (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Großartige Anna Drexler

An diesem Punkt gilt es, das weitere Personal vorzustellen. „Miranda…“ ist im Kern ein Zweipersonenstück, auch wenn sich zu Spitzenzeiten fünf Leute auf der Bühne aufhalten. Maja Beckmann gibt die ältere Frau Cheryl Glickman (jenseits der 40), Anna Drexler Clee (um die 20), und auch sie beeindruckte nachhaltig. Nach einem Anlauf von wenigen Minuten ist sie eins mit ihrer Rolle, eine wilde, junge Frau, etwas verhuscht, etwas verschroben, etwas arrogant, manchmal fast noch ein Kind. Und dann plötzlich auch eine leidenschaftliche Liebhaberin. Anna Drexler spielt all das mit einer kraftvollen, offensiven Selbstverständlichkeit, die einem Respekt abnötigt. Sie und die Beckmann, ein Traumpaar. Jedenfalls auf der Bühne.

Feine Musik

Weiterhin wirken mit: Die Musikerin Brandy Butler, adipös und dunkelhäutig, und gerne geißelten wir an dieser Stelle Wokeness und Quotenunfug in den Theatern. Aber das wäre grob unfair. Butler macht sehr schöne, feine, sparsame Untermalungsmusik, ist in einigen Spielszenen ein zurückhaltender, dritter Pol (wenn man einmal so sagen darf), marschiert aber auch ganz vorne mit, wenn die beiden Hauptdarstellerinnen es so richtig krachen lassen. Vierte ist die Kamerafrau Anna Marienfeld, die nach Kräften videographiert und auch ein bißchen mitspielen muß, fünfter schließlich der Astronaut, dessen Gesicht wir nicht zu sehen kriegen und für dessen sprachlose Rolle gleich drei Besetzungen erscheinen (Anton Engelmann, Mia Kaufhold, Henri Mertens). So weit, so gut.

Raumgreifende Lebensbeschreibungen

Auch der Plot schien nicht ohne Reiz zu sein, ein (wie man hoffen konnte) angelsächsischer, nüchterner Erzählweise verpflichteter biographischer Stoff aus dem Alltag, der sich einreiht bei den derweil häufig anzutreffenden Lebensbeschreibungen scheinbar gänzlich unscheinbarer Menschen im raumgreifenden Stil (wenn man es Stil nennen möchte), beispielsweise einer Annie Ernaux. Bei Miranda July geht es sogar vergleichsweise dramatisch zu, Stichworte mögen eine heftige lesbische Liebesbeziehung und eine Schwangerschaft „aus heiterem Himmel“ sein. Maja Beckmann und Anna Drexler hätten das fraglos auch wunderbar herausgespielt. Wenn man sie denn gelassen hätte.

Es spritzt. Clee (Anna Drexler, links) und Musikerin Brandy Butler (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Zu viel Video

Doch Christopher Rüping läßt sie nicht. Dem Regisseur hat es gefallen, die dramatischen Veränderungen im Leben der beiden Frauen, ihren Liebestaumel, ihre obsessive Sexualität, ihre bedrohliche, herrliche Nähe und was der starken Momente mehr sind in die Form einer heftigen Video-Performance zu packen, in der viel gelaufen und gerauft wird und die durch große, naturgemäß dramatische (Portrait-)Aufnahmen der Heldinnen geprägt ist.

Man sucht nach dem tieferen Sinn für den massiven Maschineneinsatz, der sich jedoch nicht erschließen will. Wenn dann (es läuft bruchlos darauf zu) die Geburt ansteht, gibt es viel Geschrei, spritzt viel Wasser und Bühnenblut. Und all das ist von der Art, die Theater (häufig jedenfalls) so unattraktiv macht, weil bei großem Geräusch- und Bewegungsaufwand eigentlich nichts Handlungsrelevantes geschieht. Statt die mehrfachen heftigen Veränderungen in ihrer Beziehung mit den Möglichkeiten der Schauspielkunst nachvollziehbar zu machen, müssen Maja Beckmann und Anna Drexler sportlichen Einsatz zeigen. Ihrer beider Leistungsfähigkeit ist imposant, das immerhin.

Na gut. Einen Tag später hat sich die Erinnerung an zwei wunderbare Schauspielerinnen noch nicht verflüchtigt. Eher hat sich leichter Groll angesammelt auf eine Inszenierung, die ihnen zu wenig Möglichkeiten bot, ihre Kunst zu zeigen. Vielleicht zieht es Maja Beckmann demnächst ja noch einmal in ihre alte künstlerische Heimat, nach Bochum. Dann würde mal wohl wieder hingehen.

  • Termine:
  • Sa.03.06., 19:30 — 21:45
  • So.04.06., 17:00 — 19:15
  • Do.15.06., 19:30 — 21:45
  • Fr.16.06., 19:30 — 21:45

www.schauspielhausbochum.de




„Stonehenge“ in Herne: Der Mythos lebt – sogar in Styropor

Bis zu 7 Meter hoch und denkbar wuchtig: Nachbau des inneren Steinkreises von Stonehenge in Herne (Teilansicht). (Foto: Bernd Berke)

Betritt man den zentralen, hallenhohen Raum des LWL-Museums für Archäologie in Herne, so kommt man sich ziemlich klein vor. Ringsum ragen gigantische „Steine“ auf – just wie im berühmten südenglischen Stonehenge. Tatsächlich hat man den inneren Kreis des über 4000 Jahre alten Megalith-Monuments mit modernster Laserscan-Technologie vermessen und in Originalgröße nachgebaut.

Nun gut, die bis zu sieben Meter hohe Rekonstruktion mit 17 Repliken des inneren Steinkreises besteht aus Styropor, doch die Außenhaut (sanftes Berühren erlaubt!) soll sich ähnlich anfühlen wie jener Sandstein, aus dem das Vorbild besteht. Mehr noch: Während das englische Original an etlichen Stellen von Moos und Flechten bewachsen und überhaupt verwittert ist, sieht man Stonehenge in Herne gleichsam im frischen Zustand der Entstehungszeit, wie die Ausstellungs-Kuratorin Kerstin Schierhold erläutert. Mit etwas Phantasie ist es also vorstellbar, dass die Steinzeitmenschen soeben erst ihre Werkzeuge beiseite gelegt haben.

Doch natürlich verhält es sich anders. Der weltbekannte Steinkreis, etwa um 2500 v. Chr. (also bereits gegen Ende der Steinzeit) errichtet und bis um 1600 v.Chr. vor allem als Kultstätte und Versammlungsort genutzt, ist in Wahrheit das wandelbare Werk von Generationen und Jahrzehnten gewesen. Klar ist auch: Jeder noch so liebevoll gefertigte und raffiniert illuminierte Nachbau vermag zwar zu beeindrucken, besitzt aber bei weitem nicht die Aura des Originals.

Steinkolosse über viele Kilometer transportiert – aber wie?

„Stonehenge – Von Menschen und Landschaften“ heißt die in ihrem Zentrum gleichwohl imposante, an den Rändern ins Kleinteilige sich verästelnde Zeitreisen-Schau, die ziemlich genau ein Jahr lang in Herne zu sehen sein wird. Der Titel lässt es schon ahnen: Eine grundsätzliche Fragestellung lautet, wann und wie Menschen begonnen haben, die sie umgebende Landschaft willentlich und nachhaltig umzugestalten. Im Falle Stonehenge haben sie dabei jedenfalls keine Mühen gescheut und die ungeheuer schweren Sandsteine nach Kräften herbeigeschafft – selbst noch die gewichtigsten (bis zu 40 Tonnen wiegend) über rund 25 Kilometer hinweg, wie Gesteinsvergleiche belegen. Die kleineren, auch noch um die 4 Tonnen schweren Blausteine kamen sogar aus dem späteren Wales – rund 240 Kilometer weit entfernt.

Wie die Menschen die Transporte und noch dazu die Aufrichtung der Kolosse vollbracht haben, wird wohl nie restlos aufgeklärt werden. Man kann es heute höchstens durch Experimente und Mutmaßungen nachvollziehen. Womöglich wurden die Steine von ganzen „Hundertschaften“ mit Hilfe von Seilen und schlittenartigen Vorrichtungen sowie Gleitschienen bewegt und/oder auf runden Holzstämmen gerollt. Einmalig sind übrigens die passgenauen Zapfen- und Nutverbindungen, mit denen die Steine unverbrüchlich zusammengehalten wurden.

„Minimalinvasive“ Archäologie

Wie auch immer: Es war eine phänomenale Willens- und Kraftanstrengung der damaligen Menschen, die bereits einige Findigkeit, Intelligenz und handwerkliches Geschick besessen haben müssen. Kein Wunder, dass sich allerlei Mythen darum ranken. Und obwohl Wissenschaftler die eine oder andere Legende entzaubern, wird das große Ganze hoffentlich immer von Geheimnis umwoben bleiben.

Die Wissenschaft geht allerdings neue, verheißungsvolle Wege: Seit einigen Jahren ist es möglich, archäologische Forschungen auch ohne Grabungen zu bewerkstelligen, bei denen die Fundstücke zwangsläufig beschädigt werden. Mit geomagnetischen Radarmessungen, sozusagen „minimalinvasiv“, lassen sich Fundstellen sehr präzise und zerstörungsfrei aufspüren und virtuell „ausleuchten“. Europaweit führend ist auf diesem Gebiet das – Achtung, Bandwurmname! – Ludwig Boltzmann Institut für archäologische Prospektion und virtuelle Archäologie (LBI ArchPro) in Wien.

Stonehenge-Original, fotografiert vom LWL-Chefarchäologen Prof. Michael Rind. (LWL / Rind)

Nur zu gern kooperiert das Herner Museum mit dem LBI. Die Wiener Experten unter Leitung von Prof. Wolfgang Neubauer haben ein Gelände von rund 16 Quadratkilometern ausgelotet und konnten nachweisen, dass Stonehenge keine isolierte Kultstätte ist, sondern Bestandteil einer „rituellen Landschaft von gewaltigen Ausmaßen“. So wurden in Durrington Walls, knapp drei Kilometer vom Stonehenge-Steinkreis entfernt, die Relikte bislang unbekannter Bauwerke geortet. Dermaßen viele Terabytes an Daten hat man dazu gesammelt, dass die Auswertung noch Jahre dauern dürfte. Vielleicht kommt ja auch noch während der einjährigen Herner Ausstellungsdauer etwas Neues ans Licht.

Weit ausgreifende Ringe und Ovale von Gräben und Wällen dienten zumal als Begräbnisstätten, zunächst als Kollektivgräber, später (ab etwa 2200 v. Chr.) entstanden auch herausgehobene Einzelgräber, offenbar ein Zeichen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung. Das ganze Stonehenge-Areal ist in der Jungsteinzeit vor allem eine Zone ritueller Praktiken, doch auch Versammlungsort für Handel und Tauschwirtschaft (man weiß von „Importen“ über Hunderte von Kilometern) sowie Verteidigungsanlage gewesen. Auch müssen die Menschen dort gemeinschaftlich gegessen, wenn nicht gar gefeiert haben. Reichlich vorgefundene Knochen verzehrter Tiere deuten darauf hin.

Vielfach digital ausgerichtete Präsentation

Das Museum gibt sich betont digital und breitet die Befunde mit ausgeklügelten Projektionen sowie an 25 Medienstationen virtuell aus, zudem werden (u. a. in Zusammenarbeit mit dem British Museum) Online-Führungen angeboten. Doch gibt es auf den 1000 qm Ausstellungsfläche auch einige Exponate in Vitrinen, beispielsweise Grabbeigaben, Werkzeuge, Tierknochen oder auch Gefäße der Glockenbecherkultur. Hier wird man nicht so sehr zum Staunen überwältigt, sondern darf sich auf Details konzentrieren. Doch auch dabei finden sich grandiose Einzelstücke, so etwa jener mit 140.000 winzigen Goldstiften verzierte Dolch aus der frühen Bronzezeit. Abermals ein Rätsel: Wie ist die Herstellung mit den damaligen Mitteln möglich gewesen?

Der Rundgang führt zurück in ein Zeitalter, in dem nomadisch lebende Menschen Zuwanderern vom kontinentalen Festland begegnet sind, die sich um 4000 v. Chr. ganz allmählich zur sesshaften bäuerlichen Gesellschaft zusammengefunden haben – die sogenannte neolithische Revolution. Das Stonehenge-Gebiet dürfte bereits seit etwa 8500 v. Chr. ein Anziehungspunkt für Jäger und Sammler gewesen sein, weil hier Quellen sprudelten, die auch im Winter nicht zufroren und daher nahrhaftes Getier anlockten. Dort haben sich auch rare Rotalgen gebildet, die aufgrund von biochemischen Reaktionen pink schimmerten und eine geradezu magische Wirkung ausgeübt haben dürften.

Vergleiche mit Westfalen und dem Ruhrgebiet

Recht kühn und eher aus regionaler Pflichtschuldigkeit zu erklären sind die Bögen, die das Museum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zu westfälischen Steingräbern schlägt. Vergleiche mit bretonischen Formationen lägen vermutlich näher. Mal waren die Vor-Vorläufer der Westfalen mit speziellen Errungenschaften früher an der Reihe als die Ur-Ur-Engländer, mal später. Nirgendwo in unseren Breiten hat es freilich ein Monument gegeben, das Stonehenge auch nur annähernd vergleichbar wäre. Ein Weltwunder und Weltkulturerbe sondergleichen. Etwa eineinhalb Millionen Touristen strömen jährlich dorthin, auch seltsam anmutende Druiden-Feiern finden dort gelegentlich statt, vor allem zu den Sonnenwend-Daten. Schon an normalen Tagen lassen Autostaus im weiten südenglischen Vorfeld ahnen, dass es hier etwas Besonderes geben muss… Apropos: Die Ausstellung schließt mit ein paar Kuriosa, darunter einer putzigen Stonehenge-Parodie aus „versteinerten Colaflaschen“ oder dem Hinweis auf eine aufblasbare Stonehenge-Hüpfburg. Was es nicht alles gibt.

Geradezu tollkühn muten schließlich die Vergleiche mit dem Ruhrgebiet und Landmarken wie der Halde Hoheward an, wo „der Mensch“ – aus ganz anderen Motiven – ja auch folgenreich in die Landschaft eingegriffen hat. Auch dies hatten die Ausstellungsmacherinnen im Sinn. Sollte demnach die Errichtung von Stonehenge ein frühzeitlicher Sündenfall gewesen sein, der Jahrtausende später ins industriell Monströse mündete? Oder anders herum: Wird man Teile des Reviers dereinst als rätselhaft magische Stätten bewundern?

„Stonehenge – Von Menschen und Landschaften“. 23. September 2021 bis 25. September 2022. LWL-Museum für Archäologie (Westfälisches Landesmuseum), Herne, Europaplatz 1. Tel.: 02323 / 94628-0 

Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr. Eintritt 7 € (ermäßigt 3,50 €), Katalog 34,95 €.

www.lwl-landesmuseum-herne.de

www.stonehenge-ausstellung.lwl.org

 

 




Klavier-Festival Ruhr: Mit Bravour in die Sommerpause

Arcadi Volodos bei seinem Konzert im Kulturzentrum Herne. Foto: Peter Wieler

Zum Ende der Sommer-Ausgabe des Klavier-Festivals Ruhr 2021 spielten Arcadi Volodos und Lise de la Salle herausragende und emotional bewegende Konzerte. Gastautor Robert Unger berichtet.

Bereits zum 17. Mal war Arcadi Volodos zu Gast beim Klavier-Festival Ruhr und interpretierte in Herne zu Beginn seines Konzertes die sechs Klavierstücke op. 118 von Johannes Brahms. In diesen gewichtigen Miniaturen zeigt Volodos seine Genialität in einer unaufgeregten, fein ausgeformten und präzisen Spielweise. Auch seine dynamische Finesse entfaltet sich im elegant flanierenden ersten „Intermezzo“. Jeder Ton findet Raum zur Klangentfaltung, die Bass-Linie wird hervorragend ausgeformt.

Im zweiten Teil des Konzertes kann der Pianist seine exzellenten Fähigkeiten in der Interpretation der Sonate A-Dur D 959 von Franz Schubert abermals unter Beweis stellen. Die Sonate, die zu den letzten drei Klaviersonaten des Komponisten gehört und als „klangschönste“ und „pianistischste“ bezeichnet wird, ist eine perfekte Partnerin für Volodos. Schon der Beginn mit seinen dominanten Oktaven in der linken Hand und der fast barocken Rhythmik zeigt ausgesprochen kraftvolles, an Beethoven gemahnendes Profil. Die dritte Wiederholung des Auftaktmotives kleidet Volodos in stilvoll zurückgenommene Virtuosität.

Höhepunkt des Konzertes ist dann ohne Zweifel das Andantino der Sonate. Der düster-fatalistische Charakter des Satzes mit den abrupten Einschlägen wirkt in seiner romantischen Zerrissenheit aus seiner Zeit hinaus weisend. Mit klaren Linien und Feingefühl interpretiert Volodos die Sonate bis zum letzten Ton. Das Publikum erhebt sich zu einem lang anhaltenden Applaus; der Pianist dankt für die Anerkennung mit fünf sehr unterschiedlichen und eindrücklichen Zugaben von Schubert, Brahms, zwei Mal Frederic Mompou und Alexander Skrjabin.

Gedenken an Flutopfer

Dem Intendanten des Festivals, Franz Xaver Ohnesorg, war es ein Anliegen, das Abschlusskonzert am 16. Juli mit Lise de la Salle in der Mercatorhalle in Duisburg nicht ohne Gedenken an die Opfer der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz beginnen zu lassen. Ohnesorg nutzte seine sonst routinemäßige Begrüßung, mit bewegenden Worten den Geschädigten sein Mitgefühl auszusprechen. Lise de la Salle hatte sich entschlossen, ihrem Konzertprogramm Johanns Sebastian Bachs Choral „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“ in der Bearbeitung Ferruccio Busonis voranzustellen. Danach erhob sich das Publikum zum Gedenken still von seinen Plätzen. Solche Momente kann es nur in Live-Konzerten geben; kein Streaming-Angebot vermag einen solchen Akt gemeinsamer Sammlung und bewegend ausgedrückten Mitgefühls hervorzurufen.

Viel mehr als eine „Einspringerin“

Lise de la Salle in der Mercatorhalle Duisburg beim Klavier-Festival Ruhr.
Foto: Peter Wieler

Lise de la Salle, die seit ihrem Debüt 2012 erst zum dritten Mal beim Klavier-Festival Ruhr auftritt, beweist, weit mehr als ein „Ersatz“ für die in den USA auf ihre Visa-Unterlagen wartende Hélène Grimaud zu sein. Viel mehr als bloß eine Einspringerin, überzeugt sie mit einer völlig unprätentiösen, jeglicher Virtuosen-Zelebration abholden, geradezu spirituellen Interpretation der herausfordernden h-Moll-Sonate von Franz Liszt. Den Rahmen setzen spanische und lateinamerikanische Tänze und Charakterstücke von Isaac Albéniz und Alberto Ginastera: Die „Cantos de España“ mit dem als Gitarrenstück berühmt gewordenen „Asturias“ und Ginasteras „Tres Danzas Argentinas“ spielt Lise de la Salle bewundernswert präzis, kristallklar in den an Gitarrentechnik erinnernden Akkordsalven, rhythmisch schmiegsam und mit einer faszinierenden Palette von Anschlagsfarben. Dieser Pianistin möchte man gerne wieder begegnen.

Ausblick auf den Herbst

In einem Video zur ersten Halbzeit des Klavier-Festivals auf dessen Webseite zeigt sich Franz Xaver Ohnesorg dankbar für die großzügige Unterstützung der Sponsoren sowie die Treue und den Zuspruch des Publikums. Mit einer Auslastung von 80 Prozent unter Berücksichtigung der jeweils aktuellen Hygieneregeln kann der Intendant ohne Frage zufrieden sein. Dennoch kommt die Frage auf, warum es nicht gelungen ist, mehr Konzertbesucher zu aktivieren? Ist der meist kurzfristige Vorverkauf schuld? Empfinden die Menschen die Hygieneregeln als zu einschränkend? Fehlt ein unbeschwertes Gemeinschaftserlebnis? Oder befürchten die früheren Konzertbesucher angesichts der Meldungen über eine sich anbahnende vierte Welle gesundheitliche Risiken? Dazu wird es noch einiger sorgfältiger Analysen bedürfen.

Ohnesorg jedenfalls schaut mit professioneller Zuversicht auf die am 3. September startende Herbstausgabe des Klavier-Festivals. Er hat es wieder geschafft, ein umfangreiches, hochkarätiges, aber auch mit 15 Debüts besetztes Programm zusammenzustellen. Für das Festival, das normalerweise von Mai bis Juli seine Spielzeit hat, wird es wohl dennoch nicht einfach, sich gegen die Fülle von Premieren und Eröffnungskonzerten durchzusetzen, die im September alle gleichzeitig um das musikliebende Publikum buhlen werden.

Zum Auftaktwochenende vom 3. bis 5. September erwartet das Publikum drei exquisit besetzte Konzerte: mit den Brüdern Lucas und Arthur Jussen in Mülheim/Ruhr, mit Anne-Sophie Mutter, Lambert Orkis (Klavier) und Pablo Ferrández (Cello) in Essen und ein Abend, bei dem Sir András Schiff in der Philharmonie Essen ein erst zu Konzertbeginn verkündetes Überraschungsprogramm spielt. 35 Konzerte sollen bis Dezember 2021 wieder im gesamten Ruhrgebiet und darüber hinaus das Publikum in seinen Bann ziehen.

Er wird anlässlich seines 90. Geburtstags durch eine Reihe von Konzerten geehrt: Alfred Brendel, geschätzter Mentor vieler heute weltberühmter Pianisten. Foto: KFR/Mark Wohlrab

Weitere Höhepunkte sind sicherlich die Konzerte anlässlich des 90. Geburtstages von Alfred Brendel mit Pianisten, denen Brendel als Mentor verbunden ist – so Pierre-Laurent Aimard, Kit Armstrong, Imogen Cooper, Francesco Piemontesi und Anne Queffélec. Wieder dabei sind Meisterpianisten wie Marc-André Hamelin, Krystian Zimerman und Jos van Immerseel. Unter den fünfzehn Debütanten finden sich junge Talente wie die von Evgeny Kissin benannte Stipendiatin des Klavier-Festivals Ruhr 2020, Eva Gevorgyan, den Gewinner des Brüsseler Wettbewerbs „Reine Elisabeth“ 2021, Jonathan Fournel oder die Schülerin des legendären Dmitri Bashkirov, Pallavi Mahidhara. In der Jazz-Line kommt endlich der Stipendiat des Jahres 2020, der chinesische Jazz-Pianist, A Bu, zu seinem pandemiebedingt verspäteten Debüt.

Ab sofort können sich Interessierte auf www.klavierfestival.de Ihr Vorkaufsrecht für zahlreiche Konzerte sichern. Der eigentliche Ticketverkauf beginnt am Donnerstag, 19. August.




„Pest!“ – Herner Museum für Archäologie beleuchtet die Geschichte der furchtbaren Seuche

Seltsames Phänomen: Ein solcher „Rattenkönig" (mit den Schwänzen verknotete Tiere) galt besonders in der frühen Neuzeit als böses Omen im Hinblick auf die Pest. (Foto: LWL/P. Jülich)

Rätselhaftes Phänomen als Ausstellungsstück, für zart besaitete Gemüter nur bedingt geeignet: Ein solcher „Rattenkönig“ (an den Schwänzen miteinander verknotete Tiere) galt besonders in der frühen Neuzeit als böses Omen im Hinblick auf die Pest. (Foto: LWL/Peter Jülich)

Die Pest ist weit mehr als „nur“ eine Krankheit. Diese Seuche, die im Laufe der Epochen Hunderttausende dahingerafft hat, ist überhaupt zu einem Mythos des Weltübels geworden, der auch etliche Redewendungen geprägt hat. Etwas hassen wie die Pest. Nur die Wahl zwischen Pest und Cholera haben. Und so weiter. Das LWL-Museum für Archäologie in Herne hat sich also an ein wahrhaft globales Schreckensthema gewagt. Die Ausstellung heißt einfach „Pest!“ Mit Ausrufezeichen.

Globales Thema? Aber ja. Während man früher in eurozentrischer Beschränkung gedacht hat, die fürchterlichen Pandemien im 6. Jahrhundert n. Chr., sodann – noch berüchtigter – im 14. Jahrhundert und schließlich im 19. Jahrhundert seien die Seuchen-Katastrophen schlechthin gewesen, muss man diese Sicht wohl revidieren. Die Pest dürfte seit jeher auf Erden viel weiter verbreitet gewesen sein. Mehr noch: Neuere Untersuchungen haben den Pesterreger schon in steinzeitlichen Funden nachgewiesen.

Die Pest ist eine Krankheit, die zunächst vor allem Nager befällt. Unter dem Mikroskop sieht ein Floh, der die Pest von Ratten Menschen übertragen kann, so aus. (Foto: LWL/S. Leenen)

Die Pest ist eine Krankheit, die zunächst vor allem Nager befällt. So sieht unter dem Mikroskop ein Rattenfloh aus, der durch seine Stiche die Pest auf Menschen übertragen kann. (Foto: LWL/Stefan Leenen)

Um solch spannende Erkenntnisse herum hat der Kurator Dr. Stefan Leenen die lehrreiche Ausstellung mit rund 300 archäologischen und kulturgeschichtlichen Belegstücken entwickelt; manche Exponate erzählen kleinere Geschichten, andere rufen wahre Epen wach.

Schnabelmasken nur die Ausnahme

In Herne räumt man mit einigen Legenden auf. So sind die immer wieder ikonisch abgebildeten Pest-Doktoren mit den langen Schnäbeln in Wirklichkeit die Ausnahme gewesen. Dennoch hat man ihnen eine imposante Masken-Installation gewidmet.

Der Rundgang beginnt mit dem kleinsten „Exponat“, dem nur unterm Mikroskop sichtbaren Erreger-Bakterium „Yersinia Pestis“. Das Exemplar ist natürlich tot, es kann keinen Schaden mehr anrichten. Es stammt übrigens aus Beständen der Münchner Bundeswehr-Hochschule. Ausschließlich dort darf in Deutschland an Pest-Bakterien geforscht werden.

Die in diesem Grab beigesetzten Toten starben nachweislich an der Pest (Archäologische und Anthropologische Staatssammlung München, 550 n. Chr. (Foto: LWL/P. Jülich)

In Herne gezeigt: Skelette zweier Pest-Opfer aus dem 6. Jahrhundert. (Archäologische und Anthropologische Staatssammlung München, 550 n. Chr.), dahinter ein Teil der großen Leuchtwand mit Totentanz-Motiven. (Foto: LWL/Peter Jülich)

In Europa wurde das Bakterium hauptsächlich durch Ratten verbreitet, die die Krankheit via Flohbefall übertragen haben. In anderen Weltgegenden waren es andere Nager wie etwa Murmeltiere. Solche (mikro)biologischen Zusammenhänge werden zu Anfang erläutert.

Skelette und Totentanz

Im Zentrum des Ganzen erhebt sich als Leuchtwand ein zehn mal vier Meter großes Schaubild, ein Totentanz nach traditionellem Vorbild, jedoch in moderner Gestaltung. Davor sieht man die ungemein gut erhaltenen Skelette zweier Pest-Opfer aus dem 6. Jahrhundert. Man kommt nicht umhin, so etwas zu zeigen. Insgesamt geht man das Thema allerdings möglichst nüchtern an – ohne unnötige Gruseleffekte. Bloß keine Horror-Show!

Dennoch gibt es Gründe zum Erschrecken. Beispielsweise über hysterische Schuldzuweisungen, über mit Folter erzwungene Geständnisse. Die so rätselhafte Pest wurde oftmals Fremden und nicht selten jüdischen Bürgern angelastet. Davon zeugt etwa ein 1348 aufgesetztes Dokument aus Frankfurt, in dem bereits die posthume Verteilung jüdischer Habe „geregelt“ wurde.

Furchtbar auch die Anfänge dessen, was man fast schon als biologische Kriegführung bezeichnen könnte: Im 17. Jahrhundert wollte der venezianische Geheimdienst mit Pestsekret bestrichenen Filzstoff an Türken verkaufen. Der hinterhältige Plan wurde aber durchkreuzt.

Religiöse Folgen der Seuche: Der heilige Rochus von Montpellier wurde im ausgehenden Mittelalter als Helfer wider die Pest verehrt (Foto: LWL/P. Jülich)

Eine von zahlreichen religiösen Folgen der Seuche: Der heilige Rochus von Montpellier wurde im ausgehenden Mittelalter als Helfer wider die Pest verehrt. (Foto: LWL/Peter Jülich)

Breiten Raum nehmen religiöse Folgen der Pest ein, die vielfach als Strafe Gottes galt. Einige Objekte beziehen sich auf spezielle Schutzheilige wie Sebastian und Rochus oder auf die Entstehung von Bitt-Prozessionen, deren Nachfolger sich teilweise bis heute gehalten haben, so u. a. in Münster und Castrop-Rauxel. Apropos Westfalen: Im Gefolge der Pest lagen hier – wie auch andernorts – Wirtschaft und der Handel darnieder, ganze Landstriche entvölkerten sich.

Heilpflanzen mit Gold gemixt

Weiterer Schwerpunkt sind Versuche, die Menschen mit den damaligen Mitteln der Medizin zu kurieren. Wie u. a. Rezeptbüchern zu entnehmen ist, experimentierte man mit allerlei Heilpflanzen. Arme Leute fanden sie kostenlos am Wegesrand, für Wohlhabende wurden Mittel mit teuren Gewürzen und Gold gemixt. Geholfen hat beides nicht. Auch Tabaksrauch, Aderlass und Einläufe blieben wirkungslos.

Glaube, Aberglaube und Wissenschaft waren noch nicht streng voneinander geschieden. Doch ein bizarres Exponat wie jener Schwarze Hahn, der als Sinnbild des Urbösen heilsam auf Pestbeulen gesetzt werden sollte wie auf ein Ei, dürfte schon damals eher ungläubige Verwunderung ausgelöst haben.

Schwerstes Schaustück ist übrigens ein kapitaler Anker. Er gehörte zum französischen Schiff „Grand Saint Antoine“, mit dem 1720 die Pest nach Marseille kam.

Die Pest, so ein Fazit der Schau, ist ein steter Begleiter der Menschheit. Auch heute noch bricht sie manchmal epidemisch aus, zuletzt 2017 auf Madagaskar. Nur gut, dass man der Seuche seit Entdeckung des Pesterregers anno 1894 (vor 125 Jahren) nicht mehr schutzlos ausgeliefert ist.

„Pest!“ LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Noch bis zum 10. Mai 2020. Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So 11-18 Uhr.

https://pest-ausstellung.lwl.org/de/

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Der Beitrag ist zuerst gedruckt erschienen, und zwar im „Westfalenspiegel“. Internet-Auftritt des Magazins, das in Münster herauskommt: https://www.westfalenspiegel.de/




Amor reist auf Französisch: Rarität von Joseph Bodin de Boismortier bei den Tagen Alter Musik in Herne

Das Ensemble der Aufführung von Joseph Bodin de Boismortiers "Wege der Liebe" in Herne: das Orfeo Orchestra, der Purcell Choir, Solisten und Dirigent György Vashegyi. Foto: WDR/Thomas Kost

Das Ensemble der Aufführung von Joseph Bodin de Boismortiers „Wege der Liebe“ in Herne: das Orfeo Orchestra, der Purcell Choir, Solisten und Dirigent György Vashegyi. Foto: WDR/Thomas Kost

Joseph Bodin de Boismortier hat sich kaum mit dem Musiktheater beschäftigt. Anders als sein Zeitgenosse, der geniale Harmoniker Jean-Philippe Rameau, hat er gerade einmal fünf einschlägige Werke hinterlassen; immerhin wurden drei davon am bedeutendsten musikalischen Institut der Zeit, der Pariser Académie royale, aufgeführt. Seinen Nachruhm hat sich der aus dem lothringischen Thionville stammende Komponist vor allem mit seinem Œuvre für Traversflöte gesichert.

Musik war im Uraufführungsjahr 1736 seines als „ballet“ bezeichneten Bühnenwerks „Les Voyages de l’Amour“ („Wege der Liebe“) eine durchaus kommerzielle Angelegenheit, die dem offenbar geschäftstüchtigen Boismortier zu erheblichem Wohlstand verhalf. Eingängig und abwechslungsreich musste ein solcher Vierakter (plus Prolog) sein, das Publikum bei Laune halten, mit Überraschungen und Effekten nicht geizen. Dafür ist die Reise des Liebesgottes Amor genau der richtige Stoff: Er, der andere glücklich macht, selbst aber unglücklich ist, reist auf Anraten des Frühlingsboten Zéphyre durch die Welt, um ein treues Herz für einen ewigen Bund zu finden. Allein, es kommt, wie es kommen muss: Stadt und Hof haben beständige Liebe nicht zu bieten. Nur auf dem Dorfe, unter den einfachen Schäfern, findet sich bei der schlichten Daphné die ehrliche Treue.

Stadt und Hof kennen keine treue Liebe

In launigen zweieinhalb Stunden reiht das Libretto des damals erst 21jährigen Charles-Antoine le Clerc de la Bruère die unterschiedlichen Emotionen aneinander, verbindet Hoffnung und Enttäuschung, Übermut und Wehmut, eitle Beschränkung und überhebliche Gefühlskälte, um den rücksichtslosen Aufstiegswillen der neuen städtisch-bürgerlichen Kreise und die intrigante Gesellschaft in diesem Fall sogar am Hof des römischen Augustus gemessen aber deutlich zu kritisieren. Die „Tage Alter Musik“ in Herne fanden mit diesem seit langem ungespielten Werk einen würdigen musikalischen Abschluss.

Dass sich der Abend vor allem im ersten Teil in die Länge zog, lag nicht an der quirlig abwechslungsreichen Musik von Joseph Bodin de Boismortier, auch nicht an der vorzüglichen Leistung des warmtönig, flexibel, stilgerecht, aber ohne trocken-harsche historische Informiertheit aufspielenden ungarischen Orfeo Orchestra. Die gefühlte Zähigkeit ergibt sich einfach aus dem Fehlen der Szene, die man sich dem Geschmack der Zeit entsprechend nicht bunt, üppig und originell genug vorstellen kann.

Für die Traversflöte schrieb Boismortier zahlreiche Werke und schuf sich damit Nachruhm als Komponist. Drei der damals hochmodernen Instrumente setzt er auch in seiner Oper ein. Foto: WDR/Thomas Kost.

Für die Traversflöte schrieb Boismortier zahlreiche Werke und schuf sich damit Nachruhm als Komponist. Drei der damals hochmodernen Instrumente setzt er auch in seiner Oper ein. Foto: WDR/Thomas Kost.

Die Zuhörer waren also zurückverwiesen auf die Farben, die sich Boismortier in seiner Instrumentierung einfallen ließ. Eine höchst angenehme Entschädigung freilich, denn das Orchester ist nicht nur umfangreich besetzt, sondern Boismortier setzt die Instrumente auch sehr gekonnt und gezielt ein: Das Solo-Fagott (Dóra Király) hat fulminante Auftritte, die drei Flöten kommen zu wohlklingendem Recht, eine Viola da gamba, drei Celli und zwei Kontrabässe sorgen für ein sattes und federnd agiles Bassfundament. Und Kapolcs Kovács zaubert mit seiner Musette de cour, einer im 18. Jahrhundert modischen Sackpfeife, einen lärmend-exotischen Beitrag ins Klangbild, damit die Schäfer-Idylle auch den entsprechend ländlichen Ausdruck gewinnen möge.

György Vashegyi leitet die Ensembles – der Purcell Choir tritt immer wieder klangvoll hinzu – mit unspektakulärer Umsicht und versierter Übersicht. Vashegyi macht auch deutlich, wie Boismortier den Rhythmus als Bedeutungsträger einsetzt – eine Kunst, die ein Jahrhundert später Compositeurs wie Daniel François Esprit Auber zu unterhaltsamer Perfektion gebracht haben.

Vom „Singen mit den Augen“

Im Ensemble der Solisten sind die Sitten und Unsitten der Art zu erleben, wie man heute „historisch informiert“ zu singen pflegt. Nett gebildet, intonatorisch lupenrein, beweglich, aber flach, zuweilen spitz in der Tongebung und kaum zu vokalen Farben fähig, präsentieren sich Sängerinnen wie Adriána Kalafszky mit niedlichem, kopfbetontem, nicht selten aber anämischem Klang. Judith van Wanroij gelingt es bis auf das Duett im Finale, den klein und eng gezwungen wirkenden Ton, der in der Szene lange Mode war, zu meiden. Sie singt mit begrenztem, aber klar fokussiertem und abgerundetem Sopran, der seinen Klang ohne Druck in den Raum projiziert. Auch Eszter Balogh kann, da ihre Stimme natürlich und unforciert wirkt, ausgezeichnet artikulieren.

Bei Katia Velletaz trifft das Bonmot eines alten italienischen Gesangslehrers zu, der einmal bemerkte, man „singe mit den Augen“. Wie sie strahlt und leidet, Schalk und Hoffnung ausdrückt, überspielt gekonnt, wo ihr Töne trocken oder zu vibratoreich entschlüpfen. Der einzige männlich Sänger, Lóránt Najbauer, darf seinen klar umrissenen Bariton in virtuose Schlachten mit einem unglaublich fingerfertigen Kontrabass schicken und sich im zweiten Akt als Wahrsager in einer erregten Gewitterszene bewähren.

Brillanz und dunkelsamtiges Timbre

In der Partie von "L'Amour": Chantal Santon-Jeffery. Foto: WDR/Thomas Kost.

In der Partie von „L’Amour“: Chantal Santon-Jeffery. Foto: WDR/Thomas Kost.

Den Titelhelden hat in der Uraufführung ein Haute-Contre gesungen, ein Tenor mit hoher Tessitura und der Fähigkeit, dank technisch raffinierter Mischung von Brust- und Kopfstimme bis zum zweigestrichenen „d“ zu kommen, ohne dass es – im Idealfall – eng oder quäkend geklungen hat. Heute versucht man, diese Technik mit wechselndem Erfolg wiederzuentdecken; Boismortier selbst hat wohl (auch) eine Besetzung mit einem dunkel timbrierten Sopran mit guter Tiefe vorgesehen, wie es in Herne der Fall war: Chantal Santon-Jeffery brilliert mit ihren Registern und einem dunkelsamtigem Timbre. Sie gestaltet die Worte sorgsam und setzt auf farbiges Ausdeuten des Textes mit stimmlichen Mitteln.

Vor allem im ersten Teil des Abends setzt sie aber auf Druck: Der Ton wirkt dann unfrei und unter Spannung gesetzt statt locker fließend und rund, was sich im lyrischen Legato deutlich bemerkbar macht. Im Endeffekt überwindet der Charme ihres Singens die limitierte Technik und die allegorische Figur des Amor wird zu einem liebeslustigen Operngeschöpf aus Fleisch und Blut. Schlussendlich triumphieren die „zärtlichsten Begierden“ und der Liebesgott Hymen hebt zum Fluge an.

Das Publikum feiert eine Aufführung, mit der die „Tage Alter Musik“ wieder einmal Profil und Entdeckerfreude bewiesen haben.

Die Aufführung ist noch einen Monat im WDR Konzertplayer nachhörbar: https://konzertplayer.wdr3.de/klassische-musik/konzert/tage-alter-musik-in-herne-les-voyages-de-lamour/

 

 




Vortrag statt Drama: Debussys „Pelléas et Mélisande“ bei den „Tagen Alter Musik“ in Herne

Opern-Uraufführungen haben mitunter eine lange Vorgeschichte: Komponisten besprechen die ersten Entwürfe mit Freunden, führen Teile im privaten Kreis auf, stellen Auszüge der Öffentlichkeit vor. Manche Werke, wie etwa die „Tage“ von Karlheinz Stockhausens „Licht“-Zyklus, wurden überhaupt abschnittweise uraufgeführt.

Roger Padullés (Pelléas), Lore Binon (Mélisande) und Pierre-Yves Pruvot (Golaud) bei der Aufführung von Claude Debussys Oper in der Fassung von Marius Constant in Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Roger Padullés (Pelléas), Lore Binon (Mélisande) und Pierre-Yves Pruvot (Golaud) bei der Aufführung von Claude Debussys Oper in der Fassung von Marius Constant in Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Bei Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ wissen wir, dass in den beinahe zehn Jahren, in denen der Komponist um die musikalische Form des Stoffes von Maurice Maeterlinck rang, immer wieder Teile im privaten Kreis erklangen. Die „Tage Alter Musik“ in Herne versuchten, diese intime Form für das Heute einzuholen: Das Festival öffnete mit den 1992 entstandenen „Pelléas-Impressionen“ des Debussy-Kenners Marius Constant einen experimentellen Blick auf die Musik, die gerade durch den Eindruck des „Unfertigen“ – statt des Orchesters tragen nur zwei Klaviere die Aufführung – in die Tiefe der Absichten Debussys hineinreichen möchte.

Denn entgegen landläufiger Meinungen war der Klang des Orchesters für Debussy nicht der entscheidende Parameter, sondern die Form: eine bestimmte rhythmische Figur (Golaud), eine Tonfolge (Mélisande) oder eine zunächst unauffällige Wendung (Pelléas). Die festgelegten Formen der klassischen Durchführungstechnik, aber auch Wagners dramaturgisch gebundene Musik interessierten ihn nicht; er war auf der Suche nach etwas, was er in einer Notiz für die Opéra-comique, der Stätte der Uraufführung, beschrieb als eine Freiheit, „welche auf den geheimnisvollen Entsprechungen zwischen Natur und Phantasie“ beruhen sollte. Die Instrumentierung, die uns heute gerne als entscheidend für die suggestive Wirkung der symbolistischen Handlung erscheint, wurde dagegen vor der Uraufführung 1902 in ziemlicher Hast erstellt. Selbst während die erste Serie der Vorstellungen schon lief, veränderte Debussy noch die Instrumentierung und die Zwischenspiele.

Claude Debussy. Porträtfotografie eines unbekannten Autors. Foto: Edvard Grieg Archives, Bergen Public Library

Claude Debussy. Porträtfotografie eines unbekannten Autors. Foto: Edvard Grieg Archives, Bergen Public Library

Die auf 95 Minuten konzentrierte Version Constants reduziert die Musik auf ihr tragendes Skelett. Ein Experiment, das zum Vorschein bringt, dass die Raffinesse von Debussys Musik nicht im Klang zu suchen ist. Aber auch mit einer gewissen Gnadenlosigkeit offenbart, dass sich Debussy trotz allen Sträubens nicht aus dem Bann Wagners lösen konnte. Vom Orchester entblößt, erscheinen ganze Strecken in der Musik anämisch ausgetrocknet, beschränkt sich der Reiz des Harmonischen immer wieder auf punktuelle Impulse, muss sich auch die Deklamation der Sänger ohne den Schmelz des klanglichen Flusses behaupten.

Eindruck des Unvollendeten

Obwohl sich das Klavierduo Yin-Yang (Jan Michiels, Inge Spinette) an zwei historischen Blüthner-Flügeln mit aller Intensität darum bemüht, Anschlag, Phrasierung, Metrum, Akzentuierung so belebt und subtil wie möglich zu gestalten – und es gelingen berückende Momente bis zu den unendlich geheimnisvollen Glockenschlägen am Ende –, bleibt doch der Eindruck des Unvollendeten: Eine Salon-Aufführung ist eben vorläufig, die volle Gestalt des Werkes enthüllt sich erst auf der Bühne.

Von den Personen Debussys ist Golaud am wenigsten in die psychische Alltagserfahrung transzendierende Sphäre des Symbolischen enthoben. Er ist ein Mann der Tat, der klaren Vorstellungen, der definierten Gefühle, aber auch eine tragische Figur des Nichtverstehens, der mit den uneindeutigen seelischen Schlieren einer Mélisande nichts anfangen kann: Die „Wahrheit“ will er bis zum Schluss erfahren, ohne zu erfassen, dass diese nicht eindeutig, vielleicht nicht einmal aussprechbar sein kann. Pierre-Yves Pruvot singt die inneren Zerreißproben, die brennende Eifersucht und die verzweifelte Aggressivität mit seinem substanzvollen, dramatisch auffahrenden, manchmal gezwungen groben Bariton, ohne Blühen der Bögen und innere Freiheit des Tones, aber mit dem Druck einer in sich ratlos gefangenen Seele.

Nur zufällig in diese Welt verirrt

Lore Binon singt eine fragile, aber auch entschieden sich selbst treue Mélisande. In ihrem Ton entäußert sich eine Seele, die wie ein verwehendes Gespinst ungreifbar ist, als habe sie sich nur zufällig in eine materiell-körperliche Manifestation in dieser Welt verirrt. Sie ist, wie die anderen Sänger auch, genötigt, noch genauer als mit einem stützenden Orchester zu phrasieren und den Ton zu bilden, was ihr in sanfter Expression gelingt. Roger Padullés als Pelléas wirkt eher wie Mélisandes entrückter Bruder; sein manchmal leicht gaumig gefärbter Tenor kennt kaum jugendlich-energische Töne, sein Klang entspricht eher der morbiden Blässe eines Lichtes im Nebel. Einspringer Thomas Dear als Arkel ist zu sehr mit dem Vortrag seiner Noten beschäftigt; die ausgedünnte Stütze vor allem in der Höhe verhindert, dass sein Ton Farbe und Ausdruck gewinnt.

Camille Bauer erfasst als Yniold das anfangs unberührte Zutrauen des Kindes, aber die wachsende Panik, die verständnislose Verzweiflung über die Ausbrüche und Attacken des eifersüchtigen Golaud bleiben zu verhalten. Die Rolle der Geneviève ist auf zwei Briefszenen eingedampft; Julie Bailly erfüllt sie mit wohltönender Würde. Bei allen Gesangssolisten ist das Fehlen der Aktion auf der Bühne zu spüren. Ohne die Magie des Raumes, ohne die szenische Annäherung an das Nicht-Sagbare rutscht die Aufführung immer wieder zum musikalischen Vortrag ab, gehalten vor teilnahmslosen Notenpulten. Da helfen auch die Texte, in „kinetischer Typographie“ (Klaas Verpoest) an die schwarzen Wände geworfen, nicht weiter.

Die Aufführung wurde vom WDR live übertragen und ist 30 Tage lang im WDR Konzertplayer nachzuhören: https://konzertplayer.wdr3.de/klassische-musik/




Verstehen und Verwirren: Die Tage Alter Musik in Herne erschließen musikalische Kommunikation

Das Ensemble La Reverdie. (c) Fabio Fuser

Das Ensemble La Reverdie. © Fabio Fuser

Was sagt uns Musik? Sind die Töne tatsächlich, wie E.T.A. Hoffmann behauptet, das Reich des Ahnungsvollen, Unsagbaren? Ist Musik ein präzises Zeichensystem, eine quasi mathematische Sprache? Hat sie eine Botschaft, die sich wie eine Verlautbarung wiedergeben lässt? Oder entzieht ihr Kunstcharakter sie nicht von vorneherein jeder Festlegung?

Was das „Wesen“ der Musik sei, darüber lässt sich nicht nur trefflich streiten. Dieser Frage nähern sich auch alle Epochen auf jeweils andere Weise.

Für ein so hochkomplexes Thema haben die diesjährigen „Tage Alter Musik“ in Herne einen wunderbar erschließenden Zugang gefunden: Vom 14. bis 17. November dreht sich das konzentrierte, feine Festival um musikalische Kommunikation zwischen „Verstehen“ und „Verwirren“, also um bewusste Klarheit, absichtsvolle Verunklarung, offene Stellen in einem scheinbar ausreichend definierten System von erklärbaren Zeichen.

Die blass scheinende Theorie treibt dabei ihre Blüten am grünen Baum musikalischer Praxis: Ensembles aus ganz Europa – darunter eine Reihe von Festival-Debütanten – richten den Blick in zehn durchweg originellen Programmen auf Musik vom Spätmittelalter bis in die Zeit Claude Debussys. WDR 3 Kulturradio wird in vier Live-Übertragungen und einer Reihe von späteren Ausstrahlungen über die Region hinaus ein internationales Publikum ansprechen.

The Tallis Scholars kommen nach Herne. Das angesehene englische Ensemble tritt am 15. November in der Kreuzkirche auf. © Nick Rutter

The Tallis Scholars kommen nach Herne. Das angesehene englische Ensemble tritt am 15. November in der Kreuzkirche auf. © Nick Rutter

Vokalmusik steht im Zentrum der vier Tage: Zu Beginn erklingen am Donnerstag, 14. November, 20 Uhr, in der Kreuzkirche in Herne Gesänge des blinden Florentiner Komponisten Francesco Landini. Die Mittelalter-Formation „La Reverdie“ stellt Ballate und Madrigale vor, von denen mehr als 150 erhalten sind. Landini war ein universal gebildeter Intellektueller an der Schwelle zur Renaissance, der dank einer zeitgenössischen Biografie auch als Person greifbar ist. Seine Musik spricht von einer reichen inneren Gefühlswelt.

Gefühle nach außen kehren und nachvollziehbar machen: Davon lebt die Oper. Zum Abschluss der „Tage Alter Musik“ findet eine respektable Trouvaille den Weg auf die Bühne des Kulturzentrums Herne: Joseph Bodin de Boismortier schrieb 1736 eine Oper über die Wege der Liebe („Les Voyages de l’Amour“), eine unterhaltsame Bühnenstudie über die Kraft dieses Urtriebs menschlicher Existenz. In Zusammenarbeit mit dem Centre de Musique Baroque de Versailles erlebt dieses Juwel des Musiktheaters am Sonntag, 17. November, 19 Uhr, nach 283 Jahren seine erste Wiederaufführung. Zuvor um 16 Uhr gibt es in der Kreuzkirche repräsentative geistliche Musik: Das Requiem Es-Dur schrieb der Stuttgarter Hofkapellmeister Niccolò Jomelli 1756 aus Anlass des Todes von Maria Augusta, der Mutter Herzog Carl Eugens von Württemberg. Das Werk verbreitete sich damals in ganz Europa.

Die Oper ist es auch, die den „Tagen Alter Musik“ einen Ausflug in die Moderne ermöglicht: Am Freitag, 15. November, 20 Uhr, ist im Kulturzentrum Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ in einer ungewöhnlichen Form zu erleben: Der auch von Debussy gepflegten Gewohnheit, Werke – oder Teile davon – in Aufführungen in Salons zu präsentieren, folgt eine Bearbeitung der Oper für Singstimmen und zwei Klaviere des Neue-Musik-Repräsentanten Marius Constant. Gespielt von Jan Michiels und Inge Spinette an zwei Blüthner-Flügeln führt die Fassung zurück zu den intimen Konzerten, in denen Debussy seinen Freunden seine neuen Kompositionen vorstellte.

Kaum mehr bekannte Bläsermusik spielt das Schwanthaler Trompetenconsort. (c) Reinhard Winkler

Kaum mehr bekannte Bläsermusik spielt das Schwanthaler Trompetenconsort. © Reinhard Winkler

All diese Musik folgt bestimmten Vorgaben oder reagiert auf Anlässe. Am deutlichsten ihrem Zweck verhaftet ist die Musik, die am 17. November, 11 Uhr, im Kulturzentrum vorgestellt wird: Das österreichische Schwanthaler Trompetenconsort spielt vergessene Musik von nicht immer zweifelsfreiem Kunstcharakter: Kriegssignale und virtuos-repräsentative Fanfaren kombinieren die Spezialisten für diverse Blasinstrumente mit unterhaltsam konzertanter Musik, wie sie etwa von Militärkapellen bei Platzkonzerten, im Tanzsaal oder bei offiziellen Feiern gespielt wurde. Komponisten wie der Würzburger Militärmusiker und Arrangeur Joseph Küffner waren zu ihrer Zeit sehr populär, sind aber heute völlig unbekannt.

Am anderen Pol musikalischen Schaffens angesiedelt ist die Musik, die das Ensemble Vintage Köln am Samstag, 16. November, 20 Uhr, im Kulturzentrum vorstellt: Von der „Kunst der Fuge“ Johann Sebastian Bachs über Kontrapunkt-Studien etwa von Henry Purcell oder William Byrd bis hin zu aktuellen Kompositionen des Bratschers des Ensembles, Sebastian Gottschick, bringt es die Kombinationskunst zum Klingen, in der die Musik unbeeinflusst von Wort oder Gefühl, Anlass oder Zweck ganz bei sich bleibt. – Ergänzt wird das Programm von der Ausstellung im Foyer des Kulturzentrums, die sich Blas- und Saiteninstrumenten widmet und einen Überblick über den technischen und künstlerischen Stand des Nachbaus historischer Musikinstrumente geben will.

Infos auf den Webseiten der Stadt Herne und des Westdeutschen Rundfunks. Dort gibt es auch Hinweise zum Kartenvorverkauf bei ProTicket Vorverkaufsstellen, online oder telefonisch unter (0231) 917 22 90.




„Das Buch von der fehlenden Ankunft“ – Verlust, Fremdheit und Aufbegehren in den Gedichten Lina Atfahs

Die 30-jährige Syrerin Lina Atfah lebt heute in Herne und genießt in Deutschland vor allem die wiedergefundene Meinungsfreiheit, zu der die unzensierte Publikation ihrer Lyrik sicher gehören dürfte. Mit einer Sammlung 23 meist langer Gedichte hat sie jetzt auch hierzulande nachdrücklicher auf sich aufmerksam gemacht, nachdem die  schriftstellerische Arbeit der Newcomerin seit längerem gefördert wird und eines ihrer Gedichte bereits in die Frankfurter Anthologie der FAZ aufgenommen wurde.

Aus Syrien nach Herne gekommen: Lina Atfah (Foto: © Osman Yousufi)

Lina Atfah erhielt zudem den Kleinen Hertha-Koenig-Literaturpreis, sie schrieb für die ZEIT, erhält bundesweit Einladungen zu Podien und Lesungen, sie liest ihre Gedichte per YouTube-Channel, ist gefragte Interviewpartnerin und namhafte Lyriker übersetzen ihre Texte. Von „fehlender Ankunft“ dürfte – was ihre Biografie angeht –  also weniger zu reden sein als von den dennoch bestehenden Schwierigkeiten des Ankommens und den Traumata der Herkunft.

Zu den Schwierigkeiten einer jeden Migrantin jedenfalls gehören Asylbürokratie, das Sich-Zurechtfinden in einer anderen Kultur ebenso wie die Teilnahme an oft wenig erwachsenengerechten Deutschkursen. „Auf Arabisch kann ich die Sprache am Nacken greifen, aber auf Deutsch bin ich ein Kind“, merkte Atfah bei den RuhrNachrichten an. Allerdings geht es deutschsprachigen Lesern mit Atfahs Gedichten nicht so viel anders. Atfahs anspielungsreiche und arabischen Traditionen verpflichtete Gedichte muss man mindestens zweimal lesen und selbst dann bleiben sie einem in großen Teilen fremd, wie auch Lina Atfah selbst das Syrien des Assad-Regimes und des Krieges immer fremder wurde.

„… der Abschied verlief wie ein Verkehrsunfall“ (Lina Atfah im Gedicht „Am Rande der Rettung“)

2014 endlich reiste Atfah aus, über Beirut nach Deutschland, ihrem Mann nach, der bereits ein Jahr in Deutschland lebte. Vorläufige Schlussszene einer Geschichte, die lange zurückreicht: 2006 hatte man der begabten Sechzehnjährigen in einem Verhör dringlich angeraten, nicht einmal indirekt weiter über Diktatur oder Religion zu schreiben. Die Vorwürfe lauteten: Gotteslästerung und Staatsbeleidigung, sie erhielt Auftrittsverbot. Atfah, die auch für Zeitungen und Kulturmagazine schrieb, wusste, dass sie irgendwann  Syrien würde verlassen müssen. In ihrem Gedicht „Die Katze des Propheten“ finden sich Zeilen, die nicht zuletzt für sie selbst gegolten haben dürften: „Ich ließ die Vögel in meiner Kehle frei, um nicht an ihren Federn zu ersticken.“

Projekt „Weiter Schreiben“

In Deutschland fand Lina Atfah trotz aller Hindernisse bald auch jene Momente der Ermutigung, die sie als junge Autorin dringend benötigte. So konnte sie seit 2017 auch am Projekt „Weiter Schreiben“ teilnehmen, das sich der Unterstützung exilierter Autorinnen und Autoren verschrieben hat:
„Für Schreibende ist es elementar, dass der Prozess des Schreibens nicht abbricht. (…)
Weiter Schreiben ist das literarische Projekt von WIR MACHEN DAS, in dem Autor*innen aus Kriegs- und Krisengebieten weiter veröffentlichen und sich mit in Deutschland ansässigen Autor*innen vernetzen können. Es ist eine Plattform, die mit Übersetzungen auch das Gelesenwerden ermöglicht. Denn weiter schreiben zu können, bedeutet auch weiter gelesen zu werden.“

Nachdichtung als Verfälschung?

Lina Atfah veröffentlichte in Deutschland zunächst einzelne Gedichte in Anthologien wie „Deine Angst – dein Paradies“. Im kürzlich vorgelegten Lyrikband „Das Buch von der fehlenden Ankunft“ finden sich diese Gedichte wieder und alle 23 Gedichte des Bandes können in deutscher wie in arabischer Sprache gelesen werden. Zwölf namhafte Übersetzer und Dichter haben die Übertragung ins Deutsche besorgt.

Von fünf Gedichten gibt es jeweils zwei Übersetzungen, weil sich je zwei Übersetzerteams für jedes der fünf Gedichte interessierten. Diese Doppelübersetzungen lesend, wird irritierend deutlich, wie sehr Übersetzung immer auch Nachdichtung ist. Man liest die unterschiedlichen Deutungen der Poeme Atfahs mit einer gewissen Verblüffung. Der arabischsprachige Islamwissenschaftler Stefan Weidner kritisiert in der FAZ gar, dass die Nachdichtungen die Verse Atfahs zu oft verhüllen als ins rechte Licht rücken. Die Folge ist – laut Weidner –, dass Atfah im Deutschen nicht wirklich eine eigene Stimme erhält. Ein Vorwurf, der allerdings jede Übersetzungsarbeit im innersten Kern angeht.

Was man aber von Atfahs Stimme trotz oder eben doch auch wegen der Übersetzungen zu hören bekommt, beeindruckt nachhaltig. Zwar kündigt der Untertitel des Gedichtbandes an, man lese im Buch allein „Gedichte aus Syrien“ („Gedichte einer Syrerin“ träfe es besser), doch schon das erste Gedicht „Das Navi“ erzählt von der Gerichtsstraße in Herne und davon, dass für einen Flüchtling das sonore Navi-Versprechen „Sie haben ihr Ziel erreicht“ etwas unerhört Zynisches hat.

Lina Atfah „findet Worte für die, die sie verloren haben. Sie sucht nach einer Sprache inmitten der Sprachlosigkeit.“ (Nino Haratischwili)

Doch wie kann es anders ein: Im „Buch von der fehlenden Ankunft“ überwiegen jene Gedichte, die eindringlich vor Augen führen, was der Krieg für jene Menschen bedeutet, die ihn miterleben mussten oder noch müssen. Das Massaker einer für das syrische Regime „arbeitenden Miliz“ im Dorf Al Mabujah kommt ebenso zur Sprache wie die Ermordung zweier fünfjähriger Cousinen Lina Atfahs in „Lin und Leila und der Wolf“.

Dass solche Gedichte nirgendwo zum platten Lamento geraten, nie ins Sturzbetroffene abrutschen, sondern hellwaches Erschrecken und Mitgefühl erzeugen, liegt sicher auch an der eindringlichen Bilderwelt, den Metaphern und Fakten, die Atfah aufruft. Sie machen schmerzhafter und anders als alle Nachrichten sichtbar, wie bösartig Krieg en gros und en détail ist. Etwas, das wir gern verdrängen würden, obwohl wir mitverantwortlich sind, auch hier im Ruhrgebiet, nur wenige Kilometer entfernt vom Standort eines der weltgrößten Waffenexporteure Rheinmetall.

„(…) lass der Fantasie der Liebenden freien Lauf“

„‘Ich habe auch viel über meine Träume geschrieben‘, sagt Atfah. ‚Hier in Deutschland kann ich das nicht mehr. Hier geht es um das, was ich verloren habe.‘ Und um die Liebe, ein Thema, das in Syrien tabu war.“
So finden sich im „Buch von der fehlenden Ankunft“ nicht nur Verse über Sterben und Tod, über Ohnmacht und Abschied, Verlust der Heimat und der Liebsten. Lina Atfah reflektiert poetisch auch die Dilemmata ihres eigenen Schreibens, denkt nach über ihr Unperson-Sein im neuen Land, ihr weibliches Selbstbewusstsein, führt Zwiegespräche mit arabischen Dichtern und wagt Erotisches. „(…) lass der Fantasie der Liebenden freien Lauf“, fordert sie programmatisch im Gedicht „Nach der Asche“ und löst im Gedicht „Obst auf Stoff“ ihre eigene Forderung gleich auch selbst poetisch ein:

„ich bin ein rollender Pfirsich
ich bin ein Apfel auf der Suche nach Lust und Sünde
ich bin eine Aprikose, die mein Verlangen süß macht, weich
werde ich und klebrig wie Marmelade
und diese Metapher stellt mich unter Anklage
ich bin Trauben wenn alle Wege zum Meer führen
schwer beladen mit Zeit, gefärbt von der Abendröte
und ich bin Datteln
ich bin die Beeren der Myrte und, wenn ich mich ärgere, eine Zitrone
wie ein Granatapfel warte ich auf das Unwahrscheinliche
ich löse mich auf aus List
in Pflaumen, Erdbeeren, Kirschen
jedes Mal wenn das Wasser brennt und meine Wollust hochragt wie Weizen“

Mit der Dichterin Lina Atfah ist ihr Heimatort, das syrische Salamiyah, jetzt auch in Herne, genauer: in Wanne-Eickel angekommen. Man darf für uns, für Atfah wie für die 85.000 Syrerinnen und Syrer, die im Ruhrgebiet leben, vielleicht beharrlich darauf hoffen, dass sie nicht selbst gefangen bleiben und als ewige Fremde nicht länger gefangen gehalten werden im elend-migrantischen Zwischenreich, so, „als sei ihr Anteil am Leben die Flucht“ (aus dem Gedicht „Am Rande der Rettung“).

Lina Atfah: „Das Buch von der fehlenden Ankunft“. Gedichte aus Syrien. Mit einem Nachwort von Nino Haratischwili. Aus dem Arabischen übersetzt und nachgedichtet von: Dorothea Grünzweig, Mahmoud Hassanein, Brigitte Oleschinski, Hellmuth Opitz, Christoph Peters, Annika Reich, Joachim Sartorius, Suleman Taufiq, Julia Trompeter, Jan Wagner, Kerstin Wilsch, Osman Yousufi. Pendragon Verlag, Bielefeld 2019. 152 Seiten, 22 Euro.




Zorn und Geiz, Hochmut und Wollust: Bei den Tagen Alter Musik stand Herne vier Tage im Zeichen der sieben Todsünden

43.Tage Alter Musik in Herne: Der Dirigent und Stradella-Experte Andrea De Carlo. Foto: WDR/Thomas Kost

43. Tage Alter Musik in Herne: der Dirigent und Stradella-Experte Andrea De Carlo. Foto: WDR/Thomas Kost

Die Sünde war in der Geistes- und Glaubensgeschichte der christlichen Welt stets ein Thema, auch als ihr Begriff – nicht erst im Zuge der Aufklärung – präzisiert wurde und sich der Blick bisweilen auf den sexuellen Bereich verengt hat. Heute ist von „Sünde“ in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft eher anekdotisch die Rede: Das Bewusstsein, der Mensch müsse sich vor einer höheren Macht verantworten, ist geschwunden; die Reichweite von Verantwortung ist angesichts ernsthafter humanwissenschaftlicher Erkenntnisse, aber auch in einem neuen, sich naturwissenschaftlich avanciert gebenden Determinismus nicht mehr so eindeutig bestimmbar wie einst.

Dennoch bleibt es sinnvoll, sich mit der Sünde zu beschäftigen, selbst wenn man nicht an einen gerechten und ausgleichenden oder gar strafenden und rächenden Gott glaubt: Denn Sünde ist keine magisch-mythische Verfehlung gegen etwas Numinoses, das der aufgeklärte Mensch aufs Abstellgleis der Geistesentwicklung schieben könnte. Zumindest im christlichen Sinn sind „Sünden“ der Vernunft und ihrem Urteil zugänglich, haben also eine Bedeutung, die mit dem Menschen selbst und seinen Bezügen zur Gesellschaft und seiner Umwelt zu tun hat.

Der Versuch, grundlegende Bedrohungen zu analysieren und zu benennen, hat im Falle der „Todsünden“ zu Begriffen geführt, die im Christentum nicht allein eine prinzipielle Störung im Verhältnis des Menschen zu Gott bestimmen. Sie betreffen auch die Entwicklung des einzelnen Menschen, gehen aber über individuelles Verhalten hinaus und entfalten ihre verderbliche Wirkung in zwischenmenschlichen Bezügen und dem Gefüge der Gesellschaft. Stets gehen dabei Augenmaß und Balance verloren, stets dominiert ein bestimmender Impuls: Bei der Habgier etwa ufert die vernünftige materielle Daseinsvorsorge aus zu einem Besitzstreben, das alles andere aus dem Blick verliert. Und der Unterschied zwischen einem gesunden Selbstbewusstsein und einer alles niederwalzenden Egozentrik lässt den altertümlichen Begriff des „Hochmuts“ oder der „Hoffart“ in bestürzend aktuellem Licht erscheinen.

Die Todsünden im Spiegel der Musik

Den „Tagen Alter Musik“ in Herne ging es an vier Tagen darum, „herauszufinden, wie sich das, was der kirchliche Todsünden-Kanon im Sinn hatte, in der Musik vergangener Zeiten widerspiegelt“, so Richard Lorber, der Künstlerische Leiter des von der Stadt Herne und dem WDR veranstalteten Festivals. In neun Konzerten und zwei konzertanten Opern richteten renommierte Solisten und Ensembles den musikalischen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele, auf das Misslingen menschlicher Beziehungen, aber auch auf das vergiftete Verhältnis zu Gott.

Dem „Zorn“ war das Eröffnungskonzert in der Kreuzkirche in Herne gewidmet: Die acht Sängerinnen und Sänger des „Ensembles Polyharmonique“ und das 2012 in Katowice gegründete [OH!] Orkiestra Historyczna krönten die zwei Teile des Konzerts mit je einer „Dies Irae“-Vertonung des Venezianers Giovanni Legrenzi und des vor bald 400 Jahren geborenen, aus dem Vogtland stammenden Wahl-Venezianer Johann Rosenmüller. Wie in den dargebotenen Psalm-Vertonungen geht es um den Zorn Gottes, der am Tag des Jüngsten Gerichts hereinbricht.

Direkter auf menschliches Fehlverhalten und seine destruktiven Folgen verweisen die mittelalterlichen Texte aus den „Carmina Burana“ und den „Augsburger Cantiones“: Die Ensemble „Candens Lilium“ und „Les Haulz et les Bas“ haben sich unter Leitung von Norbert Rodenkirchen intensiv mit den beiden im 13. Jahrhundert entstandenen Quellen befasst, mit großer Sorgfalt Melodien rekonstruiert und vor allem Texte ausgewählt, die gegen den Geiz des Klerus und die Korruption der Mächtigen aufbegehren.

Glanzvolle Musik für einen brutalen Egomanen

Das Vocalconsort Berlin unter James Wood in der Kreuzkirche Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Das Vocalconsort Berlin unter James Wood in der Kreuzkirche Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Für den „Hochmut“ steht im Programm der englische König Heinrich VIII., der sich von Rom lossagte und im Lauf seiner Regentschaft vom allseits geliebten, universal gebildeten jungen Mann zu einem „brutalen Egomanen“ entwickelt hat. Aus einer Handschrift, die 1516 für Heinrichs erste Ehefrau, Katharina von Aragon, als Geschenk erstellt wurde, sang das Vocalconsort Berlin geistliche Kompositionen, beginnend mit dem „Magnificat regale“, einem frühen Werk von Robert Fayrfax, dem zur Zeit Heinrichs VIII. prominentesten Mitglied der Chapel Royal. Dieses Werk – das Gegenbild des Hochmuts – ist geprägt vom Wechsel gregorianisch schlicht vertonter Verse mit blühend mehrstimmigen Abschnitten. Der Dirigent James Wood sorgte mit Positionswechseln der Sänger für eine jeweils angemessene, optimale akustische Balance. Nur Notbehelf kann der Einsatz von Frauen- statt Knabenstimmen sein: Wenn sie die Höhe nur mit Kraft und entsprechend laut erreichen, gefährden sie die Ausgewogenheit des Klangs.

In wechselnden Besetzungen – mit und ohne die beiden Frauenstimmen – erklangen Motetten von John Taverner, Richard Sampson und Philippe Verdelot. Die untadelige Intonation des Ensembles präsentiert die süßen Harmonien, aber auch die Reibungen der Durchgänge und die kühn dissonanten Akkorde etwa in der Sampson zugeschriebenen Motette „Salve Radix“ strahlend rein. Der diskrete Wechsel der führenden Stimmen belebt eine Komposition wie „Quam pulcra es“, für die Sampson, damals Dekan der Chapel Royal, einen bekannten Abschnitt aus dem Hohelied der Liebe als Grundlage wählte. Die abschließende Motette „See Lord and behold“ verbindet die üppige Harmonik von Thomas Tallis mit einem Text der letzten Gattin Heinrichs, Catherine Parr – eine Entdeckung, die erst vor einem Jahr gelungen ist.

Der Wollust gehört die Oper

Welche Sünde ließe sich in der Oper besser beschreiben als die „Wollust“, wo es doch stets um Liebe und Beziehungen geht? Die „Tage Alter Musik“ in Herne haben gleich zwei konzertante Produktionen gezeigt. Antonio Vivaldis 1734 im venezianischen Karneval uraufgeführte „L’Olimpiade“ präsentierte das Barockorchester La Cetra aus Basel mit Andrea Marcon am Pult und dem Countertenor Carlos Mena als zügellosem Licida, der bei den Olympischen Spielen seinen sportlichen Freund unter seinem Namen in den Wettkampf schickt und damit unabsehbare Verwicklungen hervorruft. Tempelfrevel und ein Attentat, inzestuöse Liebe und verdeckte Homoerotik: Pietro Metastasio hat das elegante Libretto mit den krudesten Verbrechen gefüllt – und Vivaldi schreibt dazu eine Musik, die empfindsam und sensibel die seelischen Qualen der Figuren ausdeutet.

Die bedeutendere Entdeckung jedoch war eine bis dato völlig unbekannte Oper, die erst vor kurzem nach akribischer Forschungsarbeit in der Biblioteca Vaticana wiederentdeckt und Alessandro Stradella zugeschrieben werden konnte: „Amare e fingere“ – also „Lieben und Heucheln“ ist der Titel der 1676 in Siena uraufgeführten und seither vergessenen Oper.

Vier Menschen königlichen Geblüts treffen „in den ländlichen Gefilden Arabiens“ aufeinander. Eine Königin und zwei Prinzen leben inkognito als Hirten in diesem exotischen Arkadien. Unerkannt liebt der Bruder die Schwester und wird so unwissentlich zum Konkurrenten seines eigenen Freundes. Gegenseitig heuchelt man sich Liebe oder Ablehnung, verbirgt echte Gefühle, unterdrückt mühevoll Leidenschaft. Vermeintliche Standesunterschiede quälen die Liebenden noch, als sie sich endlich ihre Zuneigung eingestanden haben. Gewalt, Streit, Entführung, ein altes Orakel, rätselhafte Medaillons und Briefe: Die Intrige schürzt sich, bis sich die heillose Verwirrung auflöst und die richtigen Paare zueinander finden. Die Moral der Geschicht‘ heißt: „Nichts versteht von der Liebe, wer nicht zu heucheln weiß“.

Innovative Musik eines exzentrischen Komponisten

Stradella selbst hätte es wohl nicht besser sagen können: Der 1639 in Nepi nördlich von Rom geborene Komponist war beruflich wie biografisch ein exzentrischer Typ. Jacques Bonnet hat 1715 die wundersame Geschichte des ausschweifenden Musikers erzählt, der mit der Geliebten eines venezianischen Patriziers durchbrennt. Der gehörnte Liebhaber lässt ihn von gedungenen Mördern durch Italien hetzen, die ihn schließlich beim dritten Anschlag töten können. Bekannt wurde die Geschichte nicht zuletzt durch die romantische opéra comique „Alessandro Stradella“ Friedrich von Flotows von 1844, der auch das Motiv der zauberhaften Musik Stradellas aufgreift: Ihre sinnliche Macht rührt selbst die Häscher, so dass sie beim ersten Mal nicht in der Lage sind, ihr Opfer zu meucheln.

Tatsächlich ist über das offenbar turbulente, von Liebesaffären und Spielschulden durchwebte Leben Stradellas kaum etwas bekannt – außer, dass er 1682 in Genua an den Folgen einer gewaltsamen Attacke auf der Straße starb. Aber er hat unvergleichliche Musik hinterlassen: Opern und Oratorien für die römische Aristokratie, Symphonien und Serenaden. Andrea De Carlo, der gemeinsam mit Arnaldo Morelli „Amare e fingere“ gefunden und identifiziert hat, verglich ihn einmal mit Caravaggio: So wild, so grell, so revolutionär und so spirituell wie der römische Maler soll auch Stradella gewesen sein.

Das Ensemble Mare Nostrum und die Solisten der modernen Erstaufführung von "Amare e fingere" von Alessandro Stradella in Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Das Ensemble Mare Nostrum und die Solisten der modernen Erstaufführung von „Amare e fingere“ von Alessandro Stradella in Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Zumindest die Spiritualität und das Revolutionäre sind bei der Aufführung im Kulturzentrum der Ruhrgebietsstadt deutlich zu vernehmen. De Carlo dirigiert sein 2005 gegründetes Ensemble „Mare nostrum“ und verpasst den hinterlassenen Noten Stradellas eine streicherbetonte Instrumentierung plus Cembalo, Theorbe, Arciliuto (Erzlaute), Harfe und, wohl nicht so ganz historisch, aber klanglich passend, Orgel.

De Carlo, Gründer eines Stradella-Festivals in Nepi – seit 2017 in Viterbo – hat sich den Ruf eines Spezialisten erworben: Er hat dort die Oper „Doriclea“ aufgeführt und eine Reihe von Aufnahmen eingespielt. Sein Orchester entspricht den Formationen, wie sie von zeitgenössischen Stradella-Aufführungen überliefert sind; dass man hin und wieder den Bläserklang vermisst, ist wohl modernen Ohren geschuldet. Die Musiker des Ensembles jedenfalls agieren mit fein abgestuften Nuancen und einer variablen Balance, die vielfältige Charakterisierungen zulässt.

Feurige Kraft der Kontraste

Das verhindert nicht, dass die Fülle der Rezitative trotz aller sängerischen Finesse vor allem im ersten Teil ermüdet – so tief und differenziert manche von ihnen gestaltet sind. Aber auf der anderen Seite hört man, wie frei Stradella mit Harmonien umgeht, wie packend emotional er die Gesangslinien führt. Die Arien wirken ungewöhnlich, weil sie einen modernen Begriff von Emotionalität vermitteln. In der Tat: Diese Subjektivität hat etwas von der feurigen Kraft der Kontraste, wie sie auch Caravaggios Gemälde auszeichnen.

Stradella überrumpelt den Zuhörer geradezu und wirft ihn mitten hinein ins Geschehen: Ohne Ouvertüre beginnt die Oper mit einem erregten Wortwechsel zwischen Fileno und seiner von ihm begehrten Clori, die seine unerkannte Schwester ist. Mauro Borgioni zeigt hier wie in seiner folgenden Arie und dem ausgedehnten Rezitativ, dass er stilistisch souverän einen klaren Bariton einsetzen kann, der aber wenig italienischen Schmelz mitbringt und in der Höhe anfangs leicht unsicher wirkt. Clori muss einen weiten Ambitus von Emotionen durchschreiten, von Sehnsucht und glühendem Glück bis hin zu impulsivem Ärger, edlem Schmerz und tiefer Resignation. Paola Valentina Molinari gefällt mit einem schlanken, sicher geführten Sopran, aber die Töne sind nicht immer klanglich gefüllt und technische Raffinessen wie die messa di voce geraten zu zaghaft und flach.

Luca Cervoni als Rosalbo setzt einen klaren, gut fokussierten Tenor ein und hat mit seinen Arien und einem Duett in der zweiten Szene des ersten Aktes großartige Möglichkeiten, Ausdruck und kunstvollen Gesang zu zeigen. Josè Maria lo Monaco legt als Celía Farbe und Leidenschaft in ihren Mezzo, wenn die getarnte Königin Arabiens bekundet, dass ihr Herz „Freiheit“ singe: „Libertá, libertá canta’l mio core …“. Chiara Brunello füllt mit feurigem Alt als Darstellerin in der zweiten Reihe die wichtige Rolle des Silvano aus; als Erinda darf sich Silvia Frigato in einigen frechen Kommentaren, zwei originellen Arien und einem wundervollen Rezitativ am Ende der Oper als schlagfertige Gestalterin erweisen.

Die Konzerte bei den „Tagen Alter Musik“ wurden aufgezeichnet und werden teilweise noch auf WDR 3 ausgestrahlt: am 22. und 29. November, 6. und 13. Dezember, jeweils um 20.04 Uhr. Info: www1.wdr.de/radio/wdr3/musik/tagealtermusikherne/tage-alter-musik-herne-174.html




Zorn, Hochmut, Wollust und mehr: Die sieben Todsünden stehen im Mittelpunkt der „Tage Alter Musik“ in Herne

Das Ensemble Mare Nostrum kommt mit einer bisher unbekannten Oper von Alessandro Stradella nach Herne. (c) Antonio Scordo

Das Ensemble Mare Nostrum kommt mit einer bisher unbekannten Oper von Alessandro Stradella nach Herne. (Foto: © Antonio Scordo)

Herne ist unter den Ruhrgebietsstädten nicht gerade als ausgeprägte Kulturmetropole bekannt. Einmal im Jahr rückt die Stadt mit ihren 156.000 Einwohnern aber ins überregionale Interesse, wenn mit kräftiger Unterstützung von WDR 3 die „Tage Alter Musik“ veranstaltet werden. In diesem Jahr widmen sich die Konzerte und Opern dem Thema der Todsünden in der Musik vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert.

Mit den Sünden ist das so eine Sache: Moraltheologisch sind sie genau definiert; doch in Alltagssprache und gesellschaftlichem Umgang verschwimmt der Begriff. Sünden und ihre Vermeidung waren in der Geschichte des Christentums häufig ein die Menschen bedrängendes Thema.

Die Sorge um das ewige Heil trieb die Gläubigen immer wieder an zu heute absonderlich anmutenden Praktiken der Buße, der Läuterung und der Bestrafung. Das Höllenfeuer als Mittel der Drohung und der Disziplinierung verlor im Zuge der Aufklärung seine seelensengende Hitze. Eine moderne Theologie kommt ohne dieses Druckmittel aus – zum Leidwesen mancher konservativer Kreise, die sich die Botschaft von der ewigen Verdammnis wieder präsenter in der kirchlichen Lehre wünschten.

Der „Zorn“ eröffnet das Festival

Völlerei oder Depression? Gioachino Rossini wird gerne als unersättlicher Gourmet dargestellt. Stefan Irmer (Foto: WDR) präsentiert am 11. November, 11 Uhr, ein pianistisches Menü aus den »Péchés de vieillesse« von Rossini, dessen 150. Todestag am 13. November begangen wird.

Völlerei oder Depression? Gioachino Rossini wird gerne als unersättlicher Gourmet dargestellt. Stefan Irmer (Foto: © WDR) präsentiert am 11. November, 11 Uhr, ein pianistisches Menü aus den »Péchés de vieillesse« von Rossini, dessen 150. Todestag am 13. November begangen wird.

Die „Tage Alter Musik“ in Herne arbeiten von Donnerstag, 8. bis Sonntag, 11. November den klassischen Siebener-Katalog ab: Zorn, Hochmut, Wollust, Neid, Völlerei, Trägheit und Geiz werden in elf Veranstaltungen musikalisch thematisiert. Nur schade, dass die hochkarätigen Konzerte nicht durch eine Veranstaltung ergänzt werden, bei der das Thema der „Sünde“ auch geistesgeschichtlich und theologisch aufgearbeitet wird. Denn was die Todsünden konkret sind, die den Menschen von Gott und seiner Liebe trennen, ist so einfach heute nicht zu beantworten. Der Begriff bedürfte der inhaltlichen Konkretisierung, statt in assoziativem Ungefähr lediglich als Stichwort oder Überschrift zu dienen.

Eröffnet wird das Festival am Donnerstag, 8. November, um 20 Uhr in der Kreuzkirche in Herne. Zum Thema „Zorn“ präsentieren das Vokal-Ensemble Polyharmonique und das [OH!] Orkiestra Historyczna Geistliche Musik des 17. Jahrhunderts von Francesco Cavalli bis Johann Rosenmüller.

Die „Wollust“ als Thema von zwei Opern

Ein Höhepunkt im Festivalprogramm ist die moderne Erstaufführung der 1676 in Siena uraufgeführten Oper „Amare e fingere“ („Lieben und Heucheln“) von Alessandro Stradella am Freitag, 9. November, 19 Uhr im Kulturzentrum Herne. Unter Andrea del Carlo widmen sich das Ensemble „Mare nostrum“ und sechs Solisten dem lange verschollenen Werk, das erst vor kurzem in der Bibliotheca Vaticana wiedergefunden wurde. Es widmet sich der Begierde und ihrer Beherrschung und spielt in seinem Titel auf die ehrenhafte Form der Heuchelei an, die vor der erdrückenden Stärke der Mächtige schützt.

Der Dirigent Andrea Marcon. Foto: Marco Borggreve

Der Dirigent Andrea Marcon. (Foto: © Marco Borggreve)

Der Komponist selbst ist eine der farbigsten Figuren der Musikgeschichte. Er wurde wohl wegen einer Liebesaffäre mit der jungen Geliebten eines venezianischen Patriziers in Genua ermordet. Kein Wunder, dass die Aufführung unter dem Motto „Wollust“ firmiert. Stradella – der sogar Titelfigur einer romantischen Oper von Friedrich von Flotow wurde – schrieb eine Musik, die sich durch eine weit in die Zukunft vorausweisende emotionale Impulsivität auszeichnet.

Die zweite Oper – ebenfalls mit der „Wollust“ als Thema – schließt am Sonntag, 11. November, 19 Uhr im Kulturzentrum die „Tage Alter Musik“ ab. Das renommierte Barockorchester „La Cetra“ aus Basel unter Andrea Marcon und sechs Solisten führen Antonio Vivaldis „L‘ Olimpiade“ auf. Geschrieben für eines der acht venezianischen Opernhäuser und im Karneval 1734 uraufgeführt, schildert das Libretto des wohl berühmtesten Operndichters des 18. Jahrhunderts, Metastasio, eine turbulente Mischung aus Betrug, Blasphemie, Mord und Selbstmord, Homoerotik und inzestuöser Liebe. „Feinste musikalische Wollust“, die auch heutige Ohren zu entzücken weiß.

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Über die Veranstaltungen informiert die Webseite https://www1.wdr.de/radio/wdr3/musik/tagealtermusikherne/index.html.

Tickets für die Konzerte gibt es bei der ProTicket-Hotline, Tel.: (0231) 917 22 90, www.proticket.de.

Das Kulturradio WDR 3 sendet die Konzerte am Freitag, Samstag und Sonntag (9., 10. und 11. November) jeweils um 20 Uhr sowie am Sonntag, 11. November um 16 Uhr live. Parallel zum Festival Herne veranstaltet die Stadt vom 9. bis 11. November eine internationale Musikinstrumenten-Messe mit Tasteninstrumenten der Alten Musik sowie ein Werkstattkonzert am 10. November.

Die Sendetermine und weitere Informationen gibt es im Internet unter www.tage-alter-musik.de und am WDR-Hörertelefon unter
(0221) 56 789 333.

 




(Fast) alles über „Kunst & Kohle“: 17 Museen in 13 Revier-Städten stemmen Mammutprojekt zum Ende der Zechen-Ära

Schwarz. Schwarz. Schwarz. Es ist, in mancherlei Schattierungen bis hin zu diversen Grauwerten, der beherrschende „Farb“-Ton dieses wahrlich ausgedehnten Ausstellungsreigens.

Weiße Nymphen am Fuße einer Kohlehalde: Blick auf Alicja Kwades Installation "Die Trinkenden" im Museum Ostwall im Dortmunder "U". (Foto: Bernd Berke)

Weiße Nymphen am Fuße einer Kohlehalde: Blick auf Alicja Kwades Installation „Die Trinkenden“ im Museum Ostwall im Dortmunder „U“. (Foto: Bernd Berke)

Hie und da erscheint die Finsternis schon im Titel: Schlichtweg „Schwarz“ lautet er im Bochumer „Museum unter Tage“, „Reichtum: Schwarz ist Gold“ heißt es derweil im Duisburger Lehmbruck-Museum. Anderwärts dominiert das Schwarz jedenfalls die verwendeten Materialien oder wird durch vielfältige Kontraste und sozusagen durch Legierungen anverwandelt. Wirklich kein Wunder, denn es geht ja im gesamten Revier um „Kunst & Kohle“.

Der Ausstellungssommer 2018 hat durchaus fordernden Charakter. Kulturbeflissene müssen sozusagen alles geben (bekommen dafür aber auch etliches geboten): In den letzten Tagen eröffneten eine raumgreifende Schau zur Geschichte des Steinkohle-Bergbaus in Essen und ein fünffach aufgefächertes Friedens-Projekt in Münster. Wir berichteten jeweils. Hier und jetzt aber geht es um eine weitere Unternehmung, die sich aufs Ende des deutschen Bergbaus bezieht und insgesamt alles andere von den Dimensionen her in den Schatten stellt: Gleich 17 Ausstellungshäuser in 13 Städten des Ruhrgebiets vereinen ihre Kräfte just zum revierweiten Ereignis „Kunst & Kohle“, das an den meisten Orten bis zum 16. September dauert.

Hilfreiches Netzwerk der RuhrKunstMuseen

Ohne das gemeinsame Netzwerk jener 20 „RuhrKunstMuseen“, die seit 2008 – damals im Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres 2010 – zunehmend kooperieren, wäre der Kraftakt so nicht möglich gewesen. Auf diese Strukturen ließ sich aufbauen, als es darum ging, das weitläufige Themenfeld in aller Vielfalt, Breite und Tiefe darzustellen. Das Ganze soll natürlich auch touristisch beworben werden. Die nicht nur insgeheime Hoffnung: Wer für die Kunst ins Revier kommt, wird hier vielleicht auch ein bisschen „Kohle“ ausgeben.

Gruppenbild vor dem bereits teilweise verhüllten Herner Schloss Strünkede: Einige Museumsdirektor(innn)en des Reviers und Vertreterinnen der Stiftungen. (Foto: Bernd Berke)

Gruppenbild vor dem bereits teilweise verhüllten Herner Schloss Strünkede: Direktor(inn)en diverser Kunstmuseen des Ruhrgebiets und Vertreterinnen der beteiligten Stiftungen. (Foto: Bernd Berke)

Sprachspielchen beiseite. Schon seit 2011 liefen die Vorarbeiten zu „Kunst & Kohle“, bereits seit 2007 sah man ja das epochale Datum der letzten Zechenschließungen in Bottrop und Ibbenbüren unweigerlich kommen. Also kann man jetzt (inklusive museumseigener Mittel) auf einen stolzen Etat von 2,5 Millionen Euro zurückgreifen und Arbeiten von rund 150 Künstler(inne)n auf insgesamt 20000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zeigen.

Hauptförderer ist mit 750.000 Euro einmal mehr die RAG-Stiftung, die vor allem gegründet wurde, um die enormen „Ewigkeitskosten“ (Grundwasserschutz etc.) nach dem Ende des Bergbaus zu tragen, welche jährlich rund 220 Millionen Euro ausmachen dürften. Das Stiftungsvermögen liegt allerdings auch, wie es in vornehmer Diskretion hieß, im „niedrigen zweistelligen Milliardenbereich“, so dass auch noch dies und das für Kultur und Bildung übrig bleibt. Außerdem sind bei „Kunst & Kohle“ u. a. die Kunst Stiftung NRW und die Brost Stiftung mit an Bord.

Im Bottroper Josef Albers Museum ausgestellt: Bernd und Hilla Becher "Fördertürme" (Fotografien, 1972-83) (© Estate Bernd & Hilla Becher, vertreten durch Max Becher, courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur - Bernd und Hilla Becher Archiv, Köln, 2018)

Im Bottroper Josef Albers Museum: Bernd und Hilla Becher „Fördertürme“ (Fotografien, 1972-83) (© Estate Bernd & Hilla Becher, vertreten durch Max Becher, Courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – Bernd und Hilla Becher Archiv, Köln, 2018)

Wie bekommt man das in den Griff?

Das sind fürwahr imponierende Zahlen und Fakten. Doch wie bekommt man das gesamte, nahezu monströse Unterfangen als Besucher (oder Berichterstatter) „in den Griff“? Wie kann man sich welche Schneisen schlagen?

Wie zu hören war, schicken sich mehrere Regional-Zeitungen an, mit all den einzelnen Ausstellungen gleichsam in Serie zu gehen und so auch das von Journalisten gefürchtete „Sommerloch“ Stück für Stück zu füllen. Glückauf dazu! Wir bringen hingegen einen schier endlosen „Riemen“, der dennoch nur Hinweise und Stichworte enthalten kann…

Die einstige Bergbaustadt Hamm ist leider nicht dabei

Im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen: William Kentridge "Drawing for Mine", Kohlezeichnung (1991) (© William Kentridge)

Im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen: William Kentridge „Drawing for Mine“, Kohlezeichnung (1991). (© William Kentridge)

Einstweilen muss ich freimütig bekennen, nicht etwa alle 17 Ausstellungen gesehen zu haben. Das kann – außer dem federführenden Koordinator Prof. Ferdinand Ullrich (vormals Leiter der Kunsthalle Recklinghausen) – bisher wohl niemand von sich behaupten. Es ist ja auch schön, die Auswahl unter so vielen Optionen zu haben. Zur Erschließung größerer Bereiche werden (kostenlose!) Bustouren angeboten, die jeweils zu drei Ausstellungen führen. Ich habe fürs Erste eine westfälische Route im östlichen Ruhrgebiet vorgezogen – mit den Stationen Herne, Dortmund und Unna.

Apropos Ost-Revier: Hamm, früher eine ausgesprochene Bergbaustadt mit mehreren großen Zechen (Sachsen, Radbod, Heinrich Robert) ist aus unerfindlichen Gründen nicht am Projekt beteiligt. Freilich war das dortige Gustav-Lübcke-Museum in den letzten Jahren auch nicht mit personeller Kontinuität gesegnet. In Hagen, dessen zwei Kunstmuseen auch nicht mitmachen, hat man’s eh weniger mit der Steinkohle gehabt. Sonst aber sind praktisch alle Ecken und Enden der Region mit von der Partie.

Spektakuläre Verhüllung des Herner Schlosses mit Jutesäcken

Nun geht’s aber auf die Tour:

In Herne ist das größte und spektakulärste Kunst-Signal schon aus einiger Entfernung sichtbar. Dort hat der aus Ghana stammende Ibrahim Mahama, der auch schon die letzte documenta bereicherte, große Teile des Schlosses Strünkede unter dem bezeichnenden Titel „Coal Market“ mit Jutesäcken verhüllt. Anders als Christo, ist es ihm nicht in erster Linie um die ästhetische oder gar ästhetisierende Wirkung zu tun, seine Arbeit ist vor allem mit gesellschaftlicher und politischer Bedeutung aufgeladen.

Die in Asien gefertigten, überwiegend in Afrika verwendeten, nunmehr zerschnittenen und sodann in vielen Arbeitsstunden von freiwilligen Helfern miteinander vernähten Jutesäcke sind sichtlich gebrauchte Exemplare, sie riechen buchstäblich noch nach dem Schmutz und nach der Knochenarbeit auf den Transportwegen durch Afrika und auf interkontinentalen Strecken. In etlichen Säcken wurde tatsächlich Kohle transportiert (etwa von Afrika nach Europa), in anderen beispielsweise Lebensmittel. Wenn ein eher herrschaftliches Gebäude wie das Schloss damit verhüllt wird, ist dies eine nachdrückliche, auch provokante Erinnerung an globale Kapitalströme und weltweiten Warenverkehr, in dem vielen Ländern hauptsächlich die Drecksarbeit bleibt.

Trotzdem freut man sich in Herne über den ungewohnten Anblick. Das Schloss ist nämlich beliebte Kulisse für viele Hochzeiten. Es soll Brautpaare geben, die es kaum noch erwarten können, hier und möglichst bald zu heiraten, denn so besonders wird das alte Gemäuer später wahrscheinlich nie wieder aussehen…

Die Verwandlung von Holz durch Feuer

Weiter zur zweiten Station in Herne: In den Flottmann-Werken wurde einst der Abbauhammer erfunden und produziert, mit dem die Massenproduktion in den Revierzechen recht eigentlich begonnen hat. Heute sind von den vielen Werksgebäuden „nur“ noch die Flottmannhallen übrig. Dort stellt jetzt der englische Bildhauer und Zeichner David Nash seine Arbeiten aus, die gerade in dieser lichten Ausstellungshalle wunderbar zur Geltung kommen. Sie fügen sich derart gut zum Generalthema Kohle, dass man meinen könnte, es seien eigens hierfür ausgeführte Auftragsarbeiten. Doch das ist nicht der Fall.

Blick in die Ausstellung mit Arbeiten von David Nash in den Herner Flottmann-Hallen. (Foto: Bernd Berke)

Blick in die Ausstellung von David Nash in den Herner Flottmann-Hallen. (Foto: Bernd Berke)

Nash ist vorwiegend Holzbildhauer, doch seine in Herne präsentierten Skulpturen haben gleichwohl die Anmutung von Steinkohle-Produkten. Er rückt dem Holz mit Kettensägen,  Bunsenbrennern, zuweilen auch mit Flammenwerfern zuleibe und lässt es allseits gezielt verkohlen. Vorzugsweise sind die Skulpturen nicht zusammengefügt, sondern aus einem großen Stück herausgearbeitet. Aus all dem ergibt sich ein anregendes Wechselspiel zwischen natürlichen Oberflächen (Risse und Sprünge im Holz) sowie geometrischen Figurationen. Hier und in Nashs Zeichnungen wird man gewahr, wie vielfältig die Valeurs zwischen Schwarz, Grau und Weiß sind.

Auf nach Dortmund, durch den üblichen Nachmittagsstau. Hier geht es ins Museum Ostwall im Dortmunder „U“, sechste Etage. Edwin Jacobs, Direktor des Hauses, ist zugleich Sprecher des eingangs erwähnten Verbundes der RuhrKunstMuseen.

Bergmännische Laienkunst im Kontrast zu professionellen Positionen

Bergbau gilt gemeinhin als Männersache, doch hier haben sich drei Kuratorinnen Aspekten des Themas gewidmet: Regina Selter (stellv. Direktorin), Karoline Sieg und Caro Delsing. Sie haben nicht nur ermittelt und in einer Karte visualisiert, dass es in der Hoch(ofen)zeit der 50er/60er Jahre in Dortmund 15 fördernde Zechen gegeben hat. Sie haben zudem die Geschichte des Museums erforscht und herausgefunden, dass Leonie Reygers, die Gründungsdirektorin nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Faible für naive Kunst und Laienkunst hatte. Demgemäß richtete sie einen entsprechenden Sammlungsschwerpunkt ein. Naive Kunst aus Paris zeigte sie schon 1952 unter dem heute treuherzig klingenden Titel „Maler des einfältigen Herzens“.

All das war Anlass genug, um im ersten Teil der Ausstellung die Bilder einiger naiver Künstler aus der Ostwall-Sammlung und vor allem Beispiele fürs Schaffen bergmännischer Laienkünstler zu versammeln. Gewiss, manche von ihnen haben zu einem eigenen Stil und eigenen Ausdrucksformen gefunden. Dennoch deutet schon die drangvoll enge „Petersburger Hängung“ darauf hin, dass die künstlerische Wertschätzung für diese Arbeiten insgesamt auch ihre Grenzen hat. Es sind teilweise etwas unbedarfte Idyllen. Doch ein paar Bilder künden auch von Ängsten und Alpträumen der Arbeitswelt.

Wenn Dinge des Bergbaus zu abstrakten Mustern geraten

Es geht ein deutlicher Riss durch diese Dortmunder Ausstellung, der auch gar nicht gekittet werden soll. Getrennt durch einen Kreativbereich, in dem Besucher sich einschlägig betätigen können, folgen als Teil zwei einige gegenwärtige künstlerische Positionen, die denn doch völlig andere, ungleich reflektiertere Zugänge zum Thema Kohle eröffnen – freilich sozusagen „von außen“ her, aus der Perspektive des professionellen Kunstbetriebs und lange nach der eigentlichen Zechenzeit.

Abstrakte Wirkung: Andreas Gursky "Hamm, Bergwerk Ost" (2008), C-Print (© Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2017/18 - Courtesy Sprüth Magers)

Abstrakte Wirkung aufgehängter Bergmannskleidung in der Waschkaue: Andreas Gursky „Hamm, Bergwerk Ost“ (2008), C-Print (© Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2017/18 – Courtesy Sprüth Magers)

Das Spektrum reicht hier von Andreas Gurskys Fotografie „Hamm, Bergwerk Ost“, der die aufgehängte Bergmannskleidung in der Waschkaue zu einer geradezu abstrakten Komposition verwandelt, beispielsweise bis zum Bochumer Künstler Marcus Kiel, der textile Hinterlassenschaften von Bergmännern zu einer – ebenfalls abstrakt wirkenden – Wandinstallation von gehöriger Größe zusammengefügt hat. Es sind dies originelle Bergbau-„Denkmäler“ besonderen Zuschnitts – und von besonderer Güte. Fron und Schweiß der bergmännischen Maloche haben sie allerdings weit hinter sich gelassen.

Die „Heilige Barbara“ als Modepuppe

Bemerkenswert z. B. auch die Arbeiten zweier Frauen: Die Modedesignerin und Künstlerin Eva Gronbach hat eine gesichtslose Frauenfigur mit leichtem Sommerkleid auf einen Haufen mit grober Bergmannskleidung postiert. Bei näherem Hinsehen merkt man, dass auch die Frauenmode aus recycelter Bergmannskluft gewonnen wurde. Überdies erweist sich die Figur als Anspielung auf die „Heilige Barbara“, die Schutzpatronin der Bergleute. Hier stellt sich recht deutlich die Frage nach einer Zukunft jenseits des Bergbaus, auf die auch die gesamte Ausstellungs-Serie zu gewissen Teilen abhebt. Nicht nur ein mehr oder weniger wehmütiger Abschied von der Kohle soll gefeiert werden, sondern man will erklärtermaßen auch Grüße in die heraufdämmernde Zukunft aussenden. Wohl auch darauf spielt der lokale Dortmunder Ausstellungstitel „Schichtwechsel“ an.

Installation in Dortmund: Eva Gronbachs Arbeit "Was vergeht, was bleibt, was entsteht". (Foto: Bernd Berke)

Installation in Dortmund: Eva Gronbachs Arbeit „Was vergeht, was bleibt, was entsteht“. (Foto: Bernd Berke)

Der zweite Frauenname folgt sogleich: Alicja Kwade fasziniert mit ihrer Installation „Die Trinkenden“, in der höchst konventionelle Porzellan-Nymphen („weißes Gold“) am Fuß einer Kohlehalde („schwarzes Gold“) knien. Daraus erwächst eine durchaus rätselhafte Spannung. Wer mehr von dieser Künstlerin sehen will, hat dazu reichlich Gelegenheit: Das Kunstmuseum in Gelsenkirchen widmet ihr im „Kunst & Kohle“-Kontext eine Einzelausstellung.

Überhaupt finden sich Querbezüge zwischen den Museen. Einen losen Anknüpfungspunkt gibt es etwa nach Oberhausen, wo in der Ludwiggalerie Bergbau- und Kumpel-Figuren im Comic das Spezialgebiet sind. Auch in Dortmund sieht man eine Arbeit in diesem Geiste: Stephanie Brysch, also eine weitere Frau, hat ihre Collage „Unter Tage“ aus Comic-Figuren erstellt, die sich allesamt unter die Erdoberfläche begeben.

In Dortmund drei Kuratorinnen, in Unna drei Künstlerinnen

Nun aber noch etwas weiter ostwärts nach Unna. Dort befindet sich das weit und breit einmalige Zentrum für internationale Lichtkunst mit etlichen „Ikonen“ des Metiers. Und siehe da: Hier sind drei Künstlerinnen mit ihren Licht-Installationen gar unter sich. Bergbau als Männersache? Das gilt längst nicht mehr, wenn es um die ästhetischen Hinterlassenschaften und die weiteren Aussichten geht.

Beitrag im Lichtkunstmuseum Unna: Diana Ramaekers' Neon-Installation "Mein Berg" (2015) (© Foto: Sergé Technau Photograhy, Courtesy by Diana Ramaekers)

Beitrag im Lichtkunstmuseum Unna: Diana Ramaekers‘ Neon-Installation „Mijn Berg“ (Mein Berg,  2015). (© Foto: Sergé Technau Photograhy, Courtesy by Diana Ramaekers)

Das Lichtkunst-Museum ist thematisch von vornherein prädestiniert, geht es doch zum Rundgang durch die ehemalige Linden-Brauerei einige Meter abwärts in den früheren Gärkeller; wenn man so will: unter Tage. Alle drei Installationen der meditativen Ausstellung „Down here – Up there“ (Hier unten, dort oben) spielen mit wechselnden Effekten von Licht und Dunkelheit.

Die Niederländerin Diana Ramaekers hat rot gefärbten Neonröhren montiert, deren Licht langsam entsteht und verlischt, immer und immer wieder – ein geheimnisvoller Energiefluss in der Dunkelheit. Nicola Schrudde hat ihren vielschichtigen Raum unter dem Titel „Schwarzdichte“ mit keramischen Plastiken und Videoloops so gestaltet, dass man nur allmählich und schemenhaft erkennt, was sich da begibt. Offenbar werden Kräfte der Natur beschworen, die in der Zukunft des Ruhrgebiets wieder mehr hervortreten sollen.

Schließlich Dorette Sturms raumfüllende „Breathing Cloud“, eine atmende Wolke also, die stets an- und abschwillt. Sehr sanftmütig kommt einem das vor – wie eine milde Verheißung. Man mag an die einst so schwarzen Wolken denken, die „damals“ über dem Revier hingen. Nun füllen sie sich offenbar mit neuem Leben. Und die Schwärze ist geschwunden.

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„Kunst & Kohle“: je nach Stadt ab 2., 3., 5. oder 6. Mai (Ausnahme: Küppersmühle in Duisburg erst ab 8. Juni). In den meisten Museen bis zum 16. September (Ausnahmen: Dortmunder „U“ nur bis 12. August, Museum Folkwang Essen nur bis 5. August).

Die beteiligten Museen (nach Städte-Alphabet) und ihre Themen:

Kunstmuseum (Bochum): Andreas Golinski „In den Tiefen der Erinnerung“
Museum Unter Tage (Bochum):
„Schwarz“
Josef Albers Museum (Bottrop):
Bernd und Hilla Becher – Bergwerke
Museum Ostwall im „U“ (Dortmund): „
Schichtwechsel“ – von der (bergmännischen) Laienkunst zur Gegenwartskunst
Lehmbruck-Museum (Duisburg): „
Reichtum: Schwarz ist Gold“
Museum DKM (Duisburg): „
Die schwarze Seite“
Museum Küppersmühle (Duisburg):
Hommage an Jannis Kounellis
Museum Folkwang (Essen):
Hermann Kätelhön – Ideallandschaft: Ruhrgebiet
Kunstmuseum (Gelsenkirchen):
Alicja Kwade
Flottmann-Hallen (Herne):
David Nash
Emschertal-Museum / Schloss Strünkede (Herne): „
Coal Market“ – Verhüllung durch Ibrahim Mahama
Skulpturenmuseum Glaskasten (Marl): „
The Battle of Coal“
Kunstmuseum (Mülheim/Ruhr):
Helga Griffiths „Die Essenz der Kohle“
Ludwiggalerie im Schloss (Oberhausen): „
Glück auf! Comics und Cartoons“
Kunsthalle (Recklinghausen):
Gert & Uwe Tobias
Zentrum für Internationale Lichtkunst (Unna): „
Down here – up there“
Märkisches Museum (Witten):
Vom Auf- und Abstieg

25 Euro (ermäßigt 15 Euro) kostet ein Kombi-Ticket, das auch zum mehrmaligen Besuch aller Ausstellungen über den gesamten Zeitraum berechtigt. Erhältlich in allen teilnehmenden Museen und unter der Ticket-Hotline der Ruhr Tourismus GmbH: 01806/18 16 50.

Kostenlose Bustouren, jeweils zu drei beteiligten Museen (ca. fünfeinhalb Stunden lang). Termine im Ausstellungs-Booklet: Anmeldungen unter buchungen@ruhrkunstmuseen.com oder telefonisch: 0203/93 55 54 723

Massiver Katalog in 17 Bänden im Wienand-Verlag, begrenzte Auflage der Gesamt-Publikation im großen Schuber, ansonsten in Einzelexemplaren für die beteiligten Museen erhältlich. Zur ersten Orientierung gibt es zudem ein Gratis-Booklet mit knappen Infos zu allen Ausstellungen.

Alle weiteren Informationen unter:

www.ruhrkunstmuseen.com/kunst-kohle.html




Manchmal liegt die Fachwelt krass daneben: Herner Museum zeigt „Irrtümer und Fälschungen der Archäologie“

Humorvoller Einstieg ins Irrtums-Thema: David Macaulay mit seiner Zeichnung, die Toilettenbrille und Deckel als edlen Schmuck deutet. (Foto: LWL / S. Brentführer)

Humorvoller Einstieg ins Irrtums-Thema: David Macaulay mit einer seiner Zeichnungen, die Funde wie Toilettenbrille und Deckel – Jahrtausende später – als edlen Schmuck deuten. (Foto: LWL / S. Brentführer)

Ein Ausstellungstitel im Klartext-Modus: „Irrtümer und Fälschungen der Archäologie“ nimmt in Herne selbstkritisch die eigene Zunft aufs Korn. Schauplatz ist das LWL-Museum* für Archäologie, das den detektivischen Spürsinn des Publikums weckt. „Fakt oder Fake?“, das ist auch hier die Frage. Klingt irgendwie ziemlich aktuell.

Zu Beginn richten sich phantasievolle Blicke in die Zukunft. Bereits 1979 hat der US-Architekt und Zeichner David Macaulay den Bildband „Motel der Mysterien“ veröffentlicht. Das Buch handelt von einer fiktiven Ausgrabung im Jahr 4022 n. Chr., die für diese Ausstellung teilweise nachinszeniert wurde. Unser ferner Nachfahre, der Hobby-Archäologe Howard Carson, deutet demnach billiges Plastik als ungemein kostbares Material, eine Toilettenbrille als edlen Halsschmuck und eine Kloschüssel als Trichter, durch den wohl Gottheiten angerufen wurden. Rätselhafte „Yankee-Kultur“…

Rekonstruktion des Xantener Grabfundes nach Philipp Houben und Franz Fiedler, 1839. (Foto: Bayerische Staatsbibliothek)

In Wahrheit keine Krone, sondern Beschlag eines Eimers: Rekonstruktion des Xantener Grabfundes nach Philipp Houben und Franz Fiedler, 1839. (Foto: Bayerische Staatsbibliothek)

Solche krassen Fehldeutungen sind, wie wir im weiteren Verlauf des Rundgangs erfahren, auch in der wirklichen Archäologie vorgekommen. Museumsdirektor Josef Mühlenbrock zitiert dazu den Reim: „Was man nicht erklären kann, sieht man stets als kultisch an.“ Heute verfügen die Experten freilich über so viele Vergleichsstücke, dass sie nicht mehr so leicht getäuscht werden können. Doch so ganz ist niemand dagegen gefeit.

Die Reihe der Irrtümer und Fälschungen wird mit rund 200 Exponaten dokumentiert. Das Spektrum reicht von Heinrich Schliemann, der die Ausgrabungen in Troja fast nur im Lichte der Homer-Dichtung „Ilias“ erklären wollte und damit gründlich daneben lag, bis hin zu Konrad Kujau, dem Fälscher der berüchtigten „Hitler-Tagebücher“.

Nicht antik: Der Goldschmied Israel Rouchomowsky schuf diese goldene Tiara gegen Ende des 19. Jahrhunderts. (© bpk/RMN - Grand Palais, Foto Hervé Lewandowski)

Gar nicht antik: Der Goldschmied Israel Rouchomowsky schuf diese goldene Tiara gegen Ende des 19. Jahrhunderts. (© bpk/RMN – Grand Palais, Foto Hervé Lewandowski)

Ein Beispiel, das Macaulays Phantasien ähnelt: 1838 stieß der Freizeit-Archäologe Philipp Houben in Xanten auf ein frühmittelalterliches Grab und fand darin einen vermeintlich gekrönten Schädel. Doch die Krone, so stellte sich später heraus, ist in Wahrheit die Einfassung eines Holzeimers gewesen.

Der Pariser Louvre fiel 1896 auf die geschickte Fälschung einer angeblichen „Tiara des Saitaphernes“ herein und kaufte den goldenen Helm voreilig. Urheber des Objekts war allerdings ein Zeitgenosse, nämlich ein begabter Goldschmied aus Odessa. Der Louvre hat jetzt die Fälschung nach Herne ausgeliehen. Längst gilt der einst so peinliche Irrtum als historisches Lehrstück.

Ein weiterer Erzählstrang der Schau rankt sich ums sagenhafte Einhorn. Frühere Forscher-Generationen waren von der Existenz des Fabeltiers überzeugt, so auch Koryphäen wie Otto von Guericke, u. a. Erfinder der Luftpumpe. Ihm galt ein Knochenfund von 1663 in Quedlinburg (Harz) als Einhorn-Beweis. Sogar der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz übernahm eine entsprechende Skelettzeichnung in seine „Protogaea“, ein Standardwerk über Fossilien. Herne zeigt dazu die originale Kupferstichplatte und ein imposantes Modellskelett.

Rekonstruktions-Zeichnung des "Quedlinburger Einhorns" in Gottfried Wilhelm Leibniz' Buch "Protogaea" (1749). (Foto: LWL)

Rekonstruktions-Zeichnung des „Quedlinburger Einhorns“ in Gottfried Wilhelm Leibniz‘ Buch „Protogaea“ (1749). (Foto: LWL)

Die westfälische Region kommt auch vor. Das Herner Archäologie-Museum selbst ist 2003 beinahe dem Hype um einen „Paderborner Schädel“ aufgesessen, der angeblich Relikt eines 27.000 Jahre alten „Ur-Westfalen“ gewesen sein sollte. Quasi in letzter Minute wurde verhindert, dass das Stück einen Ehrenplatz in der Dauerschau einnahm.

Geradezu komisch: Im nahen Herten tauchten im Jahr 1980 Fundstücke auf, die für steinzeitliche Feuersteine gehalten wurden. Nichts da! Der Fund ging letztlich auf den Marketing-Gag eines örtlichen Wurstfabrikanten zurück.

„Irrtümer und Fälschungen der Archäologie“. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Bis zum 9. September 2018, geöffnet Di/Mi/Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So 11-18 Uhr. Katalog 29,90 Euro. Außerdem: Bildband „Motel der Mysterien“ von David Macaulay 19,90 Euro. Weitere Infos: http://www.irrtuemer-ausstellung.lwl.org oder www.lwl-landesmuseum-herne.de

Nach der Station Herne wird die Ausstellung noch im Hildesheimer Roemer- und Pelizaeus-Museum zu sehen sein (24. November 2018 bis 26. Mai 2019).

* Für Auswärtige: LWL bedeutet Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Sitz Münster)




Mutmaßlicher Kindesmörder in Herne gefasst: Warum muss man den vollen Namen von Marcel H. kennen?

Zunächst einmal dies, das Allerwichtigste: Man kann nur sehr erleichtert sein, dass Marcel H. (19), der mutmaßliche Kindesmörder von Herne, gestern Abend festgenommen worden ist.

Er selbst hat dem Inhaber einer griechischen Imbissstube in Herne gesagt, er sei der seit drei Tagen Gesuchte und hat von dort aus selbst die Polizei angerufen.

Kann man ein solches Thema abstrakt bebildern? Ja, das ist vielleicht sogar das Beste. (BB)

Kann man ein solches Thema abstrakt bebildern? Ja, das ist für ein Kulturblog vielleicht sogar das Beste. (Foto: BB)

Im Ruhrgebiet war und ist es d a s Thema dieser Tage. Wohin man auch kommt, so gut wie überall wird darüber gesprochen. Als Vater kann ich – natürlich auch nur bis zu einem gewissen Grade – nachfühlen, was Eltern, Verwandte und Freunde des erstochenen neunjährigen Jungen durchmachen.

Trotz allem die Rechtstreue wahren

Ja, man kann sogar nachempfinden, dass nicht alle Regungen, die sich nun mehr oder weniger offen Luft verschaffen, den rechtsstaatlichen Prinzipien entsprechen. Doch gerade, wenn man sich etwa über antidemokratische Tendenzen in anderen Ländern empört, muss man auch in einem solchen Falle strikt rechtstreu vorgehen. Die Tat muss möglichst zweifelsfrei und gerichtsfest bewiesen werden. Erst dann kann die Strafe folgen.

Mit der Verhaftung sind längst nicht alle Fragen beantwortet. Die Polizei wird noch einige Zeit weiter ermitteln müssen. Nach dem jetzigen Stand gibt es zwei Opfer und Marcel H. wäre ein Doppelmörder.

Pressekonferenz mit neuen Erkenntnissen

Um 16 Uhr hat es heute eine Pressekonferenz in Dortmund gegeben, die auf mehreren Info-Kanälen live übertragen wurde und auf der verstörende Details bekannt wurden. Mehrere Ermittler sprachen von „Neuland“, das sie in ihrem bisherigen Berufsleben noch nicht betreten hätten.

Demnach hat Marcel H. inzwischen den Mord an dem 9-jährigen Jungen gestanden und auch zugegeben, einen 22-jährigen flüchtigen Bekannten in dessen Herner Wohnung erstochen zu haben. Dann hat er laut Geständnis dort Feuer gelegt, um Spuren zu verwischen. Bei seiner Vernehmung soll Marcel H. „eiskalt und emotionslos“ gewirkt haben, so Klaus-Peter Lipphaus, Leiter der zuständigen Bochumer Mordkommission.

Äußerst wirr und vergleichsweise läppisch klingen die vermeintlichen Beweggründe für die blutrünstigen Taten, die jeweils mit Dutzenden von Messerstichen ausgeführt wurden. Zum einen habe es eine Absage der Bundeswehr gegeben, hinzu kam offenbar der Umzug in eine Nachbarstadt, wo der computerspielsüchtige Marcel H. angeblich keinen Internetzugang gehabt hätte. Wie es hieß, wollte er sich deswegen zunächst das Leben nehmen, doch mehrere Suizid-Versuche seien misslungen…

Während der gesamten Pressekonferenz war übrigens abgekürzt von „Marcel H.“ die Rede. Warum ich das so betone, wird sich gleich zeigen.

Eine gierige Klick-Maschine

Ursprünglich ging es mir eigentlich um etwas anderes, nämlich um das abermals fragwürdige Verhalten mancher Medien in den letzten Tagen.

Gewiss, auch andere haben stellenweise zweifelhaft berichtet, doch habe ich ein Angebot etwas genauer beobachtet, weil das Medium eben mitten im Revier sitzt und somit besonders nah am Geschehen war: Ich meine den Online-Ableger der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ / Funke-Gruppe), www.derwesten.de

Dieser Auftritt hat kürzlich ein neues Erscheinungsbild erhalten, auch sind Konzept und Stoßrichtung geändert worden. Es handelt sich, wie ich finde, seither zu großen Teilen nicht mehr um eine herkömmliches journalistische Offerte mit (selbst)kritischer Balance. Sondern?  Um eine gellend boulevardeske, unentwegt nach Aufmerksamkeit gierende Klick-Maschine, die furchtbar gern jüngere (Werbe)-Kunden ansprechen möchte und die User daher munter duzt. Das kann einem schon unter normalen Umständen gehörig auf die Nerven gehen.

Infos auch für notorische Gaffer

Im Falle Marcel H. hat derwesten.de freilich mehrfach den Bogen überspannt. Sehr früh schon, nämlich bereits in den Morgenstunden am vergangenen Dienstag, hat man den vollen Namen des dringend Verdächtigen (der sich angeblich im Internet mit der Tat gebrüstet hatte) genannt. Hier geht es keineswegs um Mitleid mit dem mutmaßlichen Mörder, sondern um sein familiäres und sonstiges Umfeld. Besonders in Herne selbst gibt es wahrscheinlich viele, die mit dem Namen etwas anfangen können, etwaige Spinner und Idioten eingeschlossen.

Auch mögliche Gaffer und vielleicht auch Trittbrettfahrer wurden sozusagen bestens bedient. Man las in den vielfach aufgeregt-kurzatmigen Berichtsfetzen nicht nur den Straßennamen des Tatorts, sondern konnte auf Fotos auch Hausnummern erkennen und hätte sich vermutlich einiges erschließen können, um ungebeten „vor Ort“ aufzutauchen.

Dass es durchaus anders geht, belegt die gedruckte WAZ. Dort wird noch auf der heutigen Titelseite der Name des mutmaßlichen Täters abgekürzt – was der Berichterstattung übrigens keinerlei Abbruch tut und nichts von ihrer Brisanz nimmt.

Das Fahndungsfoto hätte genügt

Das von der Polizei herausgegebene Fahndungsfoto hätte vollauf genügt. Schließlich hatten die Beamten dringend davor gewarnt, den eventuell bewaffneten Kampfsportler Marcel H. anzusprechen oder gar auf eigene Faust stellen zu wollen. Sofort die Polizei anrufen, so lautete die richtige Anweisung. Wozu also der vollständige Name? Polemisch gefragt: Sollte man sich etwa als Passant seinen Ausweis zeigen lassen?

Bemerkenswert, dass derwesten.de am Dienstagnachmittag vorübergehend zurückruderte und den Namen wieder zu Marcel H. abkürzte; sei’s, dass ein mahnender Hinweis aus der Rechtsabteilung gekommen war, sei’s, dass jemand mit Weisungsbefugnis in der Redaktion ein Einsehen hatte.

Doch ach, die Zurückhaltung währte nicht lange. Kaum war klar, dass inzwischen auch andere Medien gleichfalls mit dem kompletten Namen herausrückten, stieg auch derwesten eilends wieder damit ein. Die Dämme waren nun einmal gebrochen. Geradezu genüsslich hieß es nun auch wieder, der mutmaßliche Täter werde „gejagt“.

Kläglich hilflose Wortwahl

Als er schließlich gefasst war, lautete die kläglich hilflose Formulierung, die Polizei habe ihn „geschnappt“. Leute, wir sind hier nicht bei einem harmlosen Spielchen wie „Spitz, pass auf!“ – „Geschnappt“, das kann man vielleicht mal bei einem x-beliebigen Taschendieb sagen, aber doch nicht bei einem mutmaßlichen Kindermörder. Da gibt es einige passendere Worte.

Der im Grunde schrecklich banale Vorgang, dass Marcel H. sich in einer Imbissbude gestellt hat, wird in einem Anreißer so aufbereitet, um nicht zu sagen „hochgehottet“: „So abgebrüht und dreist stellte … (voller Name) sich den Behörden„. Die dürren Mitteilungen, die dann folgen, rechtfertigen die vollmundige Ankündigung nicht.

Auch nach der besagten Pressekonferenz tönte man bei derwesten.de lauthals weiter. Zitat: „Eiskalt, aber er stach 120 Mal zu…“ Was das eingeschobene „Aber“ genau zu bedeuten hat, erschließt sich nicht. Und welch‘ eine Meisterleistung: die Stiche beider Mordtaten zu addieren und als summarische Horrorzahl zu präsentieren.

So sehr und mit allen technischen Mitteln (Texte, Fotos, Filme etc.) warf sich derwesten auf die Berichterstattung, so rundum wurde alles „gecovert“, dass man punktuell schon von Panikmache sprechen konnte. Der Informationsauftrag wurde gleichsam übererfüllt. Spürbar war die Konkurrenz mit der „Bild“-Zeitung, von der man sich im Kern des Ruhrgebiets keinesfalls übertrumpfen lassen wollte (und die – wen wundert’s? – auch ohne sonderliche Skrupel berichtete).

Nicht alles auf die Goldwaage, aber…

Übrigens, nur zum Beispiel: Auch der öffentlich-rechtliche WDR 2-Hörfunk hat nicht durchweg mit Maß und Ziel berichtet. Heute ließ man ohne Not und ohne jegliche Relativierung eine Hernerin im O-Ton zu Wort kommen, die ihr Kind seit Tagen nicht zur Schule geschickt und sich selbst in der Wohnung verbarrikadiert hatte. Und dann gleich wieder Musik…

Zurück zu derwesten.de: Ja klar, ich habe gut reden. In der allgemeinen Hektik kann man wohl nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Allerdings: Gedruckt stünde es für alle Zeiten da, online könnte man noch ein paar Kleinigkeiten korrigieren. Vor allem aber wäre es gut, wenn man merken würde, dass die Redaktion einen halbwegs verlässlichen Kompass hat.

Man kann allerdings neuerdings öfter den Eindruck bekommen, dass derwesten.de drauf und dran ist, den (auch nicht stets über jeden Zweifel erhabenen) journalistischen Ruf der WAZ in Mitleidenschaft zu ziehen.

 

 




Die 40. Tage Alter Musik: Frühe Kult-Oper „Camilla“ und mehr beim Festival in Herne

Das Ensemble "Vox Werdensis" bei seinem Konzert in der Kreuzkirche in Herne. Foto: Thomas Kost/WDR

Das Ensemble „Vox Werdensis“ bei seinem Konzert in der Kreuzkirche in Herne. Foto: Thomas Kost/WDR

Vor 40 Jahren war das schon ein bisschen irre: Als der damalige Kulturdezernent der Stadt Herne, Joachim Hengelhaupt, 1976 die Idee umsetzte, Instrumente für Alte Musik auszustellen und einige kleine, feine Konzerte zu veranstalten, konnte er noch nicht auf eine vielfältige „Szene“ in diesem Sektor bauen. Und der Westdeutsche Rundfunk, der sich mit Herne zusammentat, leistete echte Pionierarbeit in einem Feld, das heute „Kult“ ist: Festivals, Ensembles, aber auch Musikwissenschaft und Musizierpraxis haben sich seither rasant weiterentwickelt.

Die Festival-Macher seit 1976. Von links: Klaus L Neumann (ehemaliger künstlerischer Leiter), Joachim Hengelhaupt (Kulturdezernent a.D. und Festivalgründer), Richard Lorber (künstlerischer Leiter). Foto: Thomas Kost/WDR

Die Festival-Macher seit 1976. Von links: Klaus L Neumann (ehemaliger künstlerischer Leiter), Joachim Hengelhaupt (Kulturdezernent a.D. und Festivalgründer), Richard Lorber (künstlerischer Leiter). Foto: Thomas Kost/WDR

Zur Erinnerung: Die ersten Harnoncourt-Aufnahmen bei Telefunken waren damals gerade mal fünf Jahre alt und Ensembles wie der Concentus Musicus oder Gustav Leonhardts Leonhardt-Consort agierten am Rand des Konzertbetriebs für eine kleine Gemeinde Begeisterter. Historische Aufführungspraxis war für die meisten klassischen Musiker ein exotisches Hobby einiger Enthusiasten, eine Ausbildung an Hochschulen noch alles andere als üblich.

Aber immerhin hatte es in Nordrhein-Westfalen mit der Cappella Coloniensis das erste Orchester weltweit gegeben, das im Sinne der historischen Aufführungspraxis musizierte. Ihr Debüt am 18. September 1954 im Sendesaal des Funkhauses am Wallraffplatz in Köln erfuhr internationale Beachtung; einer ihrer Gründerväter, Eduard Gröninger, war Musikwissenschaftler beim damaligen NWDR.

Heute sieht das anders aus: Ensembles und Festivals sprossen aus dem sprichwörtlichen Boden, genährt von Wissbegier und Lust an neuen Klängen und vergessener Musik. Weit über Bach und Barock hinaus richtet sich der Blick zurück in älteste mittelalterliche Überlieferungen, aber auch auf die Musik anderer Zonen und Völker. Ein Konzert wie das der „Vox Werdensis“ unter Stefan Klöckner, der an der Folkwang Universität Essen das Institut für Gregorianik leitet, ist heute nichts Ungewöhnliches mehr.

Stefan Klöckner: Er rekonstruierte die liturgische Musik für den heiligen Ludgerus. Foto: Thomas Kost/WDR

Stefan Klöckner: Er rekonstruierte die liturgische Musik für den heiligen Ludgerus. Foto: Thomas Kost/WDR

Die männlich markanten, traumhaft intonationssicheren, auf Raum und Wort ausgerichteten Männerstimmen geleiteten in der Kreuzkirche in Herne durch einen idealtypischen liturgischen Tag zu Ehren des heiligen Liudger: hochmittelalterliche geistliche Musik aus der Abtei Werden, bei der ein Einfluss der heiligen Hildegard von Bingen nicht ausgeschlossen werden kann. Das Konzert zeigte, was auch in einem gut erforschten Bereich noch an Fortschritt möglich ist: Instrumente wie Glockenspiel, Drehleier, Traversflöte und die lautenähnliche Quinterne gehören – wie mittelalterliche Abbildungen nahelegen – zur Aufführung des einst rein vokal angenommenen Chorals.

Mit dem Abschlusshymnus („Confessor o dignissime“) stellte Klöckner das Experiment einer metrisch gebundenen Interpretation vor, wie er sie aus zeitgenössischen Quellen als wahrscheinlich erschlossen hat: Der zeitlos getragene Choralgesang gewinnt plötzlich rhythmischen Schwung und eine „weltliche“ Artikulation. So folgt die Musik vertieften Einblicken in die mittelalterliche Theologie, die so weltabgewandt und zeitenthoben, wie sie einst verklärt wurde, eben nicht gewesen ist.

Das Kulturzentrum in Herne - einer der Veranstaltungsorte der Tage Alter Musik. Foto: Werner Häußner

Das Kulturzentrum in Herne – einer der Veranstaltungsorte der Tage Alter Musik. Foto: Werner Häußner

„Kult“ war das Thema der 40. Tage Alter Musik in Herne, und der verantwortliche WDR-Redakteur Richard Lorber verengt den Begriff weder auf den gottesdienstlichen Kult noch auf den „Kult-Status“ der (alten) Musik. Sondern er entwickelt in einer inhaltlich ausgefeilten Dramaturgie das Spektrum dessen, was aus dem lateinischen „cultus“ im Lauf der Zeit erwachsen ist: Der Marienkult im gegenreformatorischen 17. Jahrhundert spielt da ebenso eine Rolle wie der an exotischer Entdeckung sich erfreuende Türken-„Kult“. Beides wurde in anspruchsvoll programmierten Konzerten musikalisch konkretisiert.

Auch früher gab es „Kult“-Musiker: Das Festival rückte Arcangelo Corelli und Niccolò Paganini als Beispiele ins Blickfeld. Dass dem Herrscherkult in der Zeit des französischen „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. und seinem komplexen Verhältnis zur geistlichen Musik der Zeit nicht „gehuldigt“ werden konnte, ist den aktuellen Ereignissen in Paris geschuldet: Die Musiker von Le Concert Spirituel und Hervé Niquet sahen sich außerstande, angesichts des furchtbaren Massakers Paris zu verlassen und nach Herne zu reisen.

Auch „Kult“-Stücke gab es vor 300 Jahren. Mit Giovanni Bononcinis Oper „Camilla“ erfüllte Herne eine der vornehmsten Aufgaben eines solchen Festivals, ins Licht der Gegenwart zu rücken, was uns auch nach so langer Zeit noch etwas zu bedeuten hat, das reiche Erbe europäischer Musik unseren Ohren zu erschließen. „Camilla“ stand am Beginn des Hypes der italienischen Oper im vergnügungssüchtigen London des beginnenden 18. Jahrhunderts. Die Oper wurde in London von 1706 bis 1728 in einer sagenhaften Aufführungsserie von 111 Abenden gespielt, wie Dramaturgin Sabine Radermacher in ihrem sorgfältig recherchierten Programmheftbeitrag vermerkt. Sie war ein Stück Nostalgie für eine ganze Generation.

Aber ihre Botschaft dürfte über das übliche Interesse an herrscherlichen Ränkespielen, entflammten Affekten und Leidenschaften und komischen Verwicklungen hinaus wahrgenommen worden sein. Das Libretto von Bononcinis begabtem Mitarbeiter Silvio Stampiglia mag in der listigen, entmachteten Königin Camilla aus dem sagenhaften vorrömischen Reich der Volsker die Engländer an die eigenen bedrängten Königinnen erinnert haben. Und die Botschaft, über die politischen Interessen und Zugehörigkeiten hinaus dem Frieden und der Liebe zu frönen, mag dem Zeitgeist entgegengekommen zu sein: Man hatte Hass und Blut nach zwei Generationen des politischen Hin und Hers wohl einfach satt.

Konzertante Aufführung der Oper "Camilla" bei den 40. Tagen Alter Musik in Herne 2015. Foto: Thomas Kost/WDR

Konzertante Aufführung der Oper „Camilla“ bei den 40. Tagen Alter Musik in Herne 2015. Foto: Thomas Kost/WDR

Heute kommt Bononcinis Camilla über das Gewirre der Barockopern-Kabale nicht mehr hinaus: Die Wechselbäder von Leid und Liebe, Triumph und Ohnmacht, Wahrheit und Verstellung sind zu krass konstruiert, um noch einen Rest Glaubwürdigkeit zu bewahren.

Was aber bleibt, haben schon die Zeitgenossen Bononcinis gerühmt: sein Talent für den pastoralen Stil, seine originellen Harmonien und seine graziösen und eleganten Melodien. Die konzertante Aufführung im Kulturzentrum Herne ließ vernehmlich werden: Bononcini komponiert feinsinnige Lyrik, versonnene Schwermut, in Schönheit leuchtenden Schmerz mit so viel Eleganz und emotionaler Wahrhaftigkeit, dass es verständlich wird, warum die Londoner auf ihn flogen.

Den Verdienst, die in der Gruft der Geschichte erblindeten Edelsteine neu aufzupolieren und in Glanz und Wonne auszustellen, gebührt in erster Linie dem Elbipolis Barockorchester aus Hamburg mit Jürgen Groß als Konzertmeister und Jörg Jacobi am Cembalo. In den gut zweieinhalb Stunden Musik war kein Nachlassen der Konzentration, der exakten Formulierung, der rhythmischen Präzision und metrischen Wachheit, der Phrasierungs-Eleganz und Intonationssicherheit festzustellen.

Aber mehr noch: Die transparente Abstimmung und Mischung der Instrumente und das detailbewusste Spiel der fünfzehn Musiker garantierte ausdrucksstarke Farben: eine edel ebenmäßige Blockflöte (Elisabeth Champollion), zwei durchsetzungsfähige, saubere Oboen (Luise Haugk, Markus Müller), ein mal trauerschweres, mal burleskes Fagott (Stephan von Hoff), ein filigran-virtuoses Cello (Hannah Freienstein) und die präsente, reizende Koloristik oder versonnene Soli beitragende Theorbe (Johannes Gontarski).

Ironie und humorvolle Distanz hätten gutgetan

Die gepflegte, ausgefeilte Wiedergabe von Bononcinis Musik hatte freilich auch einen Nachteil: Den Willen zum expressiven Risiko, zum theatralisch geschärften Ton, zur gestischen Prägnanz brachten die Hamburger nicht mit. Die Ausbrüche der Wut, der Hilflosigkeit, der Verzweiflung blieben distinguiert wie eine englische Nachmittags-Teegesellschaft. Und die drolligen Szenen zwischen Tullia und Linco – dem „niederen“ Paar – kamen so seriös daher wie das unfreiwillige parodistische Potenzial der „hohen“ Gestalten, das schon die Zeitgenossen erkannt hatten.

Ironie und humorvolle Distanz hätten dem Stück gutgetan, auch bei den Sängern, die sich von der Tendenz zu seelenvoller Larmoyanz nicht ganz fernhalten konnten. Wieder einmal zeigte sich, dass eine konzertante Wiedergabe einer Oper nur eine halbe Sache ist: Eine lebendige Bühnenaktion hätte vieles unterstreichen können, was an szenischem Potenzial in der Musik angelegt ist, aber nicht ausgespielt werden konnte.

Nur der gut gelagerte Bass von Simon Robinson mit seinem gestaltungsfähigen Kern und der rhetorisch talentierte Tenor Michael Connaire schärften an ihren Figuren, dem getäuschten Eroberer und verbohrten Vater Latinus und dem unter Verkleidung schmachtenden, aber auch aufbrausenden Liebhaber Turnus, lebendige Konturen. James Elliott als Prenesto demonstrierte exemplarisch, wie problematisch Gesangskultur des 18. Jahrhunderts auf die Gegenwart zu übertragen ist: Der angestrebte schlanke, feine, bewegliche Ton geht auf Kosten der unverzichtbaren Stütze der Stimme; die dünne, manchmal quetschige Formung des Klangs lässt nur wenig flexible Farben zu, und von technischer Brillanz bei den Verzierungen zu sprechen fällt schwer.

Ohne komödiantischen Anflug trugen Cécile Kempenaers und Konrad Jarnot das Dienerpaar Tullia und Linco vor: Der so großmäulige wie kleinlaute Diener verharrte mit dem versierten Liedsänger Jarnot im Bereich gepflegter Lyrik; die gewitzte junge Frau hat eine virtuose Arie mit Begleitung der Piccoloflöte im zweiten und zarte Kantilenen im dritten Akt, aber beide blieben lediglich fein ausgearbeitet, gewannen mit der schmalen Stimme keinen Esprit.

Auch den beiden Heroinen des Stücks, Julia Sophie Wagner (Camilla) und Marysol Schalit (Lavinia) mangelte es nicht an lyrischer Intensität und einem schlank-innerlichen Ton im Leid. Aber das entscheidende Quantum vokalen Exhibitionismus‘, das auffahrende Temperament oder die vitale Brillanz ließen beide mit ihrem zaghaften vokalen Zugriff auf ihre Figuren vermissen. Nun ja – wenigstens in der Aufnahme, die den Tonmeister vor einige Herausforderungen stellte, dürfte sich diese Keuschheit im Theatralischen vorteilhaft auswirken.

Im kommenden Jahr stehen die Tage der Alten Musik Herne unter dem Thema „Hommage“. Sie finden vom 11. bis 13. November 2016 statt.

Die Mitschnitte einzelner Konzerte des Festivals dieses Jahres sind an den Montagen 23. und 30.11., 14., 21. und 28.12. jeweils um 20.05 Uhr in WDR 3 Konzert zu hören, beginnend am 23. November mit dem Konzert der „Vox Werdensis“.

Das „Ludgerus-Offizium“, das im Konzert in Herne gesungen wurde, ist auch auf CD erhältlich. Die Aufbahme basiert auf einem der wichtigsten Bücher mit Gesängen zu Ehren des Heiligen Ludgerus (des „Heiligen des Ruhrgebiets“), das vor einiger Zeit in Kapstadt aufgetaucht ist. Der südafrikanische Musikwissenschaftler Morné Bezuidenhout hat die Gesänge übertragen und mit den wenigen in Deutschland überlieferten Handschriften verglichen. Hieraus hat Stefan Klöckner, Professor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste und Leiter des Ensembles Vox Werdensis, ein „Ludgerus-Offizium“ zusammengestellt. Die CD ist für 15 Euro beim Institut für Gregorianik der Folkwang Universität erhältlich. Kontakt: anke.westermann@folkwang-uni.de

 

 

 




Als Nashörner und Elefanten hier lebten – Ausstellung „Wildes Westfalen“ in Herne

Die ältesten Exponate sind rund 465 Millionen Jahre alt. Man kann sie allerdings schwerlich erkennen, jedenfalls nicht mit bloßem Auge.

Es sind drei so genannte Trilobiten, Gliederfüßler, die mit Krebsen und Insekten verwandt sind. Gefunden wurden die winzigen, in Gestein eingeschlossenen Urzeit-Zeugnisse in Herscheid (Märkischer Kreis). Also zählen auch diese unscheinbaren Wesen zur Ausstellung mit dem forciert populären Titel „Wildes Westfalen“ (gemeint: wild lebende Tiere in Westfalen), die im LWL-Museum für Archäologie in Herne einige Zeugnisse aus der zoologischen Vergangenheit dieser Region in Vitrinen präsentiert.

"Wildes Westfalen" - Titelumschlag des Begleitbuchs (© LWL)

„Wildes Westfalen“ – Titelumschlag des Begleitbuchs (© LWL)

In Jahrmillionen haben auch auf dem Gebiet, das heute Westfalen heißt, die unterschiedlichsten klimatischen Bedingungen geherrscht, Eis- und Warmzeiten wechselten einander ab, Vegetation und Landschaftsgestalt wandelten sich desgleichen. So darf es im Prinzip eigentlich gar nicht so sehr verwundern, dass hier zeitweise Flusspferde, Krokodile und Elefanten gelebt haben. Saurier selbstverständlich auch.

Es finden sich ein paar staunenswerte Belegstücke in dieser Ausstellung. Etwa 1,8 bis 2,2 Millionen Jahre alt (auf zwei bis drei Tage kommt es da ja nicht an) ist jener Block mit drei Zähnen eines „Südelefanten“, der damals aus Afrika in die hiesigen Breiten einwanderte und als Vorfahre späterer Mammut-Arten gilt. Man vermutet, dass die Tiere, deren Überreste man am Haarstrang in der Nähe von Soest gefunden hat, bei einer Flutwelle im schmalen Flussbett ertrunken sind.

1,8 bis 2,2 Mio. Jahre alt: Block mit drei Zähnen von Südelefanten, gefunden am Haarstrang bei Soest (Foto: Bernd Berke)

1,8 bis 2,2 Mio. Jahre alt: Block mit drei Zähnen von Südelefanten, gefunden am Haarstrang bei Soest (LWL-Museum für Naturkunde, Münster – Foto: Bernd Berke)

Kaum minder imposant ist der Schädel eines raren Waldnashorns, der in der Dechenhöhle bei Iserlohn zum Vorschein kam. Mit über 200.000 Jahren ist er jedoch vergleichsweise „jung“.

Das zeitliche Spektrum der recht übersichtlichen Ausstellung (90 archäologische Objekte in 17 Vitrinen) reicht bis in die Frühneuzeit. Man bekommt nicht nur Überreste von Tieren zu sehen, sondern auch einzelne menschliche Schöpfungen mit kultischem Charakter oder alltäglichem Gebrauchswert, beispielsweise einen hirschförmigen Kerzenleuchter oder Spielzeug in Pferdegestalt.

Manche Gegenstände zeugen zudem vom sich ändernden Verhältnis der Menschen zu Tieren. So wurden Rinder zunächst vor allem gejagt und hernach allmählich domestiziert. Das prägte natürlich auch Wahrnehmung und Darstellung.

So ganz haben die Museumsleute der alleinigen Aussagekraft der Fundstücke offenbar nicht getraut, auch galt es wohl, den optischen Umfang etwas zu erweitern. Und so hat sich eine halbwegs charmante Notlösung ergeben: Der Zufall wollte es, dass langjährig tätige und also gewiefte Amateurfotografen des örtlichen Naturschutzbundes (NABU) ohnehin Kontakt zu den Fachleuten gesucht hatten. Ihre Aufnahmen, 70 an der Zahl, ergänzen und spiegeln nun die vorzeitliche Tierwelt, machen sie ein bisschen fassbarer und holen sie ans Heute heran; wenn auch in Einzelfällen um den Preis verzeihlicher „Schummelei“.

So tritt im Foto die Kellerassel als Verwandte der eingangs erwähnten Trilobiten auf. Und für die blühenden Phantasien, die sich Menschen früher aus Tieren gemacht haben, mussten eben Bildbearbeitungsprogramme herhalten, mit deren Hilfe täuschend „echt“ wirkende Bilder von Einhorn, Pegasus und Drachen entstanden sind.

Ausstellung und Begleitbuch sind zu gewissen Teilen noch das Werk des 2014 verstorbenen Altertumsforschers Prof. Torsten Capelle. Einige seiner Freunde und Schüler haben die Anregungen des Doyens verwirklicht. So knüpft man Traditionsstränge in der Wissenschaft.

Dennoch, ganz ehrlich: Ein Besuch lohnt eher bei speziellem Interesse, wenn man ohnehin in der Gegend um Herne zu tun hat oder wenn man weitere Abteilungen des Hauses besichtigt. Auch ist es eine Option, sich das Begleitbuch zu besorgen, denn richtig gesetzte Worte erschließen die Objekte womöglich getreulicher, als Fotografien heutiger Tiere.

„Wildes Westfalen“. Tierische Fotos und Funde. 1. November 2015 bis 29. Mai 2016. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Tel.: 02323 / 94 628-0. Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Freier Eintritt (freiwilliger Obolus kann am Ausgang in ein Sparschwein gesteckt werden). Weitere Infos: www.lwl-landesmuseum-herne.de




„Literaturhaus Herne Ruhr“ zwischen Salonkultur und Stadtmarketing

Die Einladung zum Pressegespräch über den am 7. Oktober 2015 gegründeten Verein „Literaturhaus Herne Ruhr“ erfolgte durch die Stadtmarketing Herne GmbH. Die so ganz und gar nicht graue Eminenz dieses auf den Eintrag im Vereinsregister wartenden Vereins ist allerdings die Unternehmerin Elisabeth Röttsches.

Mit der „Alte(n) Druckerei“ und der Buchhandlung Köthers & Röttsches bereichert sie seit Jahren die Kulturszene der Stadt Herne. Jetzt aber planen sie und ihre Mitstreiter mehr: In Herne nämlich, „mitten im Herzen des Ruhrgebietes“, soll bald ein neues „Literaturhaus“ etabliert werden, „einzigartig in der ganzen Region“. Ein hoher Anspruch, der inspirieren, aber auch leicht dazu führen könnte, dass man sich verhebt – nicht nur sprachlich.

Gründergeist & Mut: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“

Zunächst jedoch bleibt festzuhalten: Angesichts klammer Kassen in den Kommunen scheint längs der Ruhr jede private Initiative gut, die der Förderung der Literatur und des Lesens guttut.

Elisabeth Röttsches hat mit ihrer von Grund auf sanierten und liebevoll gestalteten Alten Druckerei als Raum für Kunst und Kultur Maßstäbe gesetzt. Die Alte Druckerei wurde in der kleinen Großstadt (ca. 150.000 Einwohner) zum Treffpunkt für Literatur- und Musikliebhaber, Ausstellungen waren ebenso zu sehen wie Kleinkunst zu hören war oder Kulinarisches zu schmecken.

Dies alles aber geschah zunehmend „unter großem finanziellen Druck“ und wurde zu „einem sehr teuren Hobby“, so jedenfalls formulierte es Röttsches‘ Steuerberater, den sie während des Pressegesprächs zitierte.

Also kam man auf die Idee, mit der bisherigen „unternehmerischen Initiative in den öffentlichen Raum zu gehen“, erklärte Eberhard Schmitt, als Privatmann ist er Vorstandsmitglied des neuen Vereins und im Hauptberuf Direktor des Zentralbereichs Kommunikation im Vorstandsbüro der RAG. Sein Diktum im Klartext: Die finanziellen Lasten und die Arbeit für das Programm der Alten Druckerei sollen über einen (möglichst gemeinnützigen) Verein auf mehr Verantwortliche verteilt werden.

Eloge und Unkenntnis

Schmitt war es auch, der eine durchaus berechtigte Eloge auf das Engagement Röttsches‘ hielt, sich dabei aber zuletzt gründlich verhedderte, als er meinte: „Ich kenne keine Orte im Ruhrgebiet, wo die Begegnung mit den Autoren stattfindet“. Und fügte freundlich hinzu: „Aber das kann auch an mir liegen.“

Ja, tatsächlich, daran liegt‘s. Die Begegnung mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern findet im Ruhrgebiet seit Jahrzehnten überall und oft statt. Man müsste sich nur – zum Beispiel – einmal aufmachen zu den Veranstaltungen des Vereins für Literatur und Kunst in Duisburgs Stadtbibliothek, zu den literarischen Abenden im Theater an der Ruhr, in Essens schönster Feinkopfhandlung „Proust – Wörter & Töne“, zu den Veranstaltungen der Literaturbüros Ruhr und Westfalen oder gar zu denen des nun etwa ein gutes Jahr bestehenden Literaturhauses Dortmund im Kreuzviertel, das in Herne erstaunlicherweise unerwähnt blieb, obwohl es seit dem Juni 2014 als erstes sogenanntes „Literaturhaus“ an der Ruhr die Arbeit aufgenommen hat. Von der Buchmesse Ruhr, Macondo-Lesungen in Bochum, den Ruhrpoeten oder oder … ganz zu schweigen.

Alleinvertretungsanspruch & Dummdeutsch

Holger Wennrich, 1. Vorsitzender des Vereins und Geschäftsführer der Stadtmarketing Herne GmbH, verlor dann vollends den Bezug zur vielfältig-arbeitsteiligen Literaturszene, zum Literaturnetz an der Ruhr, aber auch zur Literatur selbst, ihrer Widerständigkeit, ihrem utopischen Gehalt und ihrer virtuosen Sprache. Dampfplaudernd ließ er keine sattsam bekannte Imponiervokabel aus: Das Literaturhaus stehe (mit der Alten Druckerei) ja eigentlich schon, alles laufe rund, die Vereinsgründung habe vor allem auch wirtschaftliche Gründe, schließlich läge ein „Riesenmarkt vor der Haustür“ der Stadt, da wolle man sich nicht „auf den lokalen Markt beschränken“, da gebe es mehr „echte Marktteilnehmer“, Leute, die bereit seien, „für gute Produkte auch Geld auszugeben“. Das müsse man jetzt „pragmatisch angehen“, dann könne „alles organisch wachsen“: „Wir werden nicht betteln, sondern vorlegen. Die Leistung wird dann überzeugen.“

Rums, uff, geschafft!

Und in der Pressemitteilung vom 13. Oktober legt er holprig nach: „Davon profitiert die Region, davon profitiert aber auch Herne. Wir müssen solche hervorragende (sic! GH) Angebote als Stadtmarketing-Gesellschaft auch zum Wohle der Stadt nutzen.“

Ansonsten – so Literaturhaus-Repräsentanten weiter – werde man die bisherige Arbeit fortsetzen, aber auch „neue Formate entwickeln“, die „Formate zusammenführen“, über „regional wirkende Projekte und Produkte“ das „Literaturhaus weiter profilieren“, man werde zudem versuchen, an „Fördermittel ranzukommen“, was „nicht einfach“ sei.

„Noch Fragen?“

Immerhin, eine Journalistin insistierte tapfer trotz Bullshit und Marketingsprech. Sie sei mit ganz anderen Vorstellungen eines der Sprache und Literatur gewidmeten Hauses zum Pressetermin erschienen und frage sich nun, was denn neu sei am Literaturhaus Herne Ruhr im Vergleich zum bisherigen Betrieb der Alten Druckerei, ob es denn auch ein inhaltliches Konzept gebe.

Eine Antwort auf diese Frage erhielt sie allerdings nicht, Wennrich verstieg sich gar zur der Aussage, dass das „Nicht-Dasein eines programmatischen Ansatzes“ geradezu für die Offenheit, für den Pragmatismus des neuen Literaturhauses spreche. Niemand aber hob an zu einer wirklichen Rede über Literatur und Sprache, über ihre Abgründe oder Hoffnungen, über Literatur als erzähltes Leben und gelebtes Erzählen, das subversiv jede Ideologie unterlaufen kann, nicht zuletzt die neoliberale.

Das Literaturhaus Herne Ruhr wird sich dennoch in Zukunft an avancierten Programmen und Konzepten anderer Literaturhäuser wie etwa in Hamburg und Berlin messen lassen müssen. Ausdrücklich wurde gestern in Herne betont, dass man genau in dieser Liga mitspielen wolle. Elisabeth Röttsches: „Es trägt sicher zum Renommee für unsere Stadt bei, einfach zu sagen, wir haben hier jetzt auch ein Literaturhaus Herne – mit Zusatz ‚Ruhr‘!“

So viel ist sicher: Dieses Literaturhaus Herne Ruhr wird es nicht leicht haben – allein schon wegen des fehlenden urbanen Umfelds. In Berlin oder Hamburg liegen die Häuser nahe dem Ku‘damm und an der Außenalster, verfügen über prächtige Cafés, da und dort über Autorenwohnungen, Geschäftsstellen literarischer Vereinigungen und eine Buchhandlung sowieso. Neben dem literarischen Publikum sind oft ortsansässige Autoren, Verleger, Kritiker und deren auswärtige Kolleginnen zu Gast. Da wird das Literaturhaus Herne Ruhr ohne die Infrastruktur einer Verlags- und Medienstadt kaum mithalten können. Wer dort nach einer Veranstaltung gegen 22 Uhr noch ein Restaurant sucht, dessen Küche geöffnet ist, stolpert verloren durchs nächtlich-triste Herne.

Quo vadis?

Immerhin, zumindest Elisabeth Röttsches nimmt man gerne ab, was sie sagt: „Wir sind hier, wir geben alles!“ Das hat sie bisher getan und man möchte und muss ihr einfach sehr viel Glück wünschen für das Vorhaben eines Literaturhauses in Herne; eines Hauses, das sich zum gutem Schluss vielleicht doch noch mehr an einer Ästhetik des Widerstands orientiert als an der des Biedermanns. Alles Gute also einem offenen Haus für alle Spielarten der Literatur, das sich hoffentlich nicht vereinnahmen lässt und zur Literatur-Edelboutique fürs Stadt- und Regionalmarketing wird.

Wie sagte es Ingo Schulze in seiner Dankrede zur Verleihung des Thüringer Literaturpreises 2007 unter dem Titel „Was wollen wir“? „Will man sich über das Engagement von Unternehmen in der Kultur informieren, liest man auf deren Internetseiten, dass Kultur als ‚Beitrag zur Standortattraktivität‘ verstanden wird, als ‚Werbefaktor‘ und ‚unverzichtbarer (…) weicher Standortfaktor‘.

Sicher kann Kunst, Literatur, Theater, Musik auch dafür eingesetzt werden. Vor allem aber ist sie doch um ihrer selbst willen da, wie auch ein Mensch um seiner selbst willen da ist und sich nicht in erster Linie über seine Arbeits- oder Kaufkraft definiert. Die Anbindung des Kulturbegriffs an ökonomische Kriterien ist fatal …“




Integration (nicht nur) auf dem Rasen – Fußball war im Ruhrgebiet stets eine verbindende Kraft

Der folgende Beitrag macht klar, warum Fußball gerade im Ruhrgebiet so ungemein wichtig ist. Ein Text unseres Gastautors Heinrich Peuckmann, Schriftsteller aus Bergkamen:

Wenn Borussia Dortmund gegen Schalke 04 spielt, steht das halbe Ruhrgebiet Kopf. Unglaubliche Emotionen werden frei, bei den Verlierern fließen Tränen, bei den Siegern brechen Jubelstürme aus. Kaum jemand, der das Revier nicht kennt, versteht, warum der Fußballsport hier eine so große Bedeutung hat. Man muss ein Stück in die Geschichte des Ruhrgebiets zurückgehen, um einleuchtende Erklärungen zu finden.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war das Ruhrgebiet eine eher verschlafene Region, die Städte waren klein, Landwirtschaft und bescheidener Handel entlang des Hellwegs prägten das Leben der Menschen. Dann setzte mit Macht und ungeheurem Tempo die Industrialisierung ein, Kohle und Stahl bestimmten für über 100 Jahre die Arbeitswelt. Und dafür mussten Arbeitskräfte angelockt werden, nicht ein paar, sondern gleich Hunderttausende.

Wäre 1955 fast ins Finale um die Deutsche Meisterschaft vorgedrungen: die Herner Vorort-Mannschaft des SV Sodingen.

Wäre 1955 fast ins Finale um die Deutsche Meisterschaft vorgedrungen: die Herner Vorort-Mannschaft des SV Sodingen.

Innerhalb weniger Jahre schwollen die Städte zwischen Ruhr und Lippe, Dortmund, Bochum, Essen und Duisburg zu Großstädten an. Aus Süddeutschland kamen Zuwanderer (bis heute gibt es im Ruhrgebiet „Bayern- oder Alpenvereine“, bei deren Festen tatsächlich in Lederhosen getanzt wird), aus Schlesien und Ostpreußen. Im Ruhrgebiet war man traditionell protestantisch, nun kamen viele Katholiken hinzu, etwas, was damals von großer Bedeutung war. Die Neuen sprachen anders, sie hatten auch andere Namen: Szepan, Konopczinski, Tilkowski, Nowak… Die „Pollacken“ nannte man sie damals durchaus abfällig im Revier.

Wie deutlich zwischen den Menschen, aber auch den Schichten unterschieden wurde, kann man bis heute an einer Gastwirtschaft in der kleinen Gemeinde Bönen ablesen. Bei „Timmering“ gab es rechts einen Eingang für die Steiger der Zeche und für ihre Frauen, die beide einen eigenen Raum in der Wirtschaft hatten. Den Haupteingang, zwei kleine Steintreppen hoch, nahmen die Bergleute, aber links gab es noch einen dritten Eingang. Der war für die Zuwanderer bestimmt, für die „Pollacken“ eben, mit denen sich die Einheimischen lange Zeit nicht gemein machen wollten. Im Keller befanden übrigens die Umkleidekabinen für den Fußballverein VfL Altenbögge, und weil der kurz nach dem Krieg in der obersten Liga spielte, haben sich dort alle großen Stars von Schalke, Westfalia Herne und Borussia Dortmund irgendwann mal umgezogen. Die Sitzbänke stehen noch da, man sollte sie unter Denkmalschutz stellen.

Das Trennende zwischen den Menschen wog also schwer, umso wichtiger wurde daher das, was sie verband. Und das war vor allem der Fußball. Dieser oder jener war zwar ein „Pollacke“ und katholisch war er auch noch, aber er schwärmte wie seine Arbeitskollegen von der Zeche für Hamborn 07 oder den SV Sodingen. Also gab es Berührungspunkte, also kam man sich näher.

Es waren damals noch nicht die Großvereine, sondern kleine Vereine in jeder Stadt, sogar in jedem Stadtteil, die die Menschen, über alle Unterschiede hinweg, zusammenführten. Und erfolgreich waren diese Vereine noch dazu. Der SV Sodingen zum Beispiel im Vorort von Herne hatte sein Stadion auf dem Gelände der Zeche „Mont Cenis“ und mit der Schließung dieser Zeche begann auch sein Abstieg.

1955 aber wäre der SV Sodingen beinahe in das Endspiel um die deutsche Meisterschaft vorgedrungen, das dann mit hauchdünnem Vorsprung der 1. FC Kaiserslautern mit seinen Weltmeistern Fritz und Ottmar Walter erreichte. In dieser Zechenmannschaft spielten gleich mehrere Nationalspieler und wenn man ihre Namen aufzählt, merkt man, woher sie stammten: Sawitzki, Adamek, Konopczinski (B-Nationalmannschaft), Cieslarczyk. Aber auch Nationalspieler wie Jupp Marx oder Gerd Harpers standen in den Reihen des SV. Die Namen verraten, hier fand eine funktionierende Integration statt, die eben nicht auf das Spielfeld beschränkt blieb, sondern sich auf die Zuschauerränge und damit in der Folge auch auf den Arbeitsplatz übertrug.

„Hännes“ (Johann) Adamek, echter polnischer Landadel, war damals bei allen so berühmt, dass irgendwann der katholische Priester bei einer Predigt die Sodinger als gottloses Volk beschimpfte. Sie würden niemals von Gott reden, beklagte er, sondern immer nur von „Hännes“ Adamek. Wie sehr darin Religiöses mitschwang, nämlich das grundsätzliche Einverständnis mit dem Mitmenschen, egal von welcher Herkunft, hat er nicht kapiert. Wie weit diese Zuwanderung damals ging, belegt eine Geschichte, die gerne im Ruhrgebiet kolportiert wird. Als die Schalker Mannschaft mal zu einem Gastspiel nach Polen fuhr, fragte der dortige Fußballverein an, wie viele Zimmer man denn im Hotel reservieren solle. Die Antwort war ganz einfach: „Eines für den Trainer, die Spieler schlafen bei ihren Verwandten.“

Der Zusammenhalt im Schmelztiegel Ruhrgebiet ist also mit der Zeit gewachsen, der Fußball als Sozialkitt hat einen erheblichen Teil dazu beigetragen. Im Grunde waren Solidarität und Hilfsbereitschaft sowieso existentiell nötig, denn die Arbeit unter Tage war gefährlich. Jeden Tag konnte die Situation eintreten, dass ein Bergmann in Gefahr, oft genug in Lebensgefahr geriet. Da musste man sich auf den Kumpel (auch so ein Wort, das Verbundenheit ausdrückt) verlassen können. Da spielte es keine Rolle, ob evangelisch oder katholisch, ob „Pollacke“ oder nicht.

Aber ist das nicht alles Geschichte? Wirkt das tatsächlich bis heute nach?

Dazu ein Beispiel aus jüngster Zeit. Der Düsseldorfer Bürgermeister Elbers machte sich noch im Juni diesen Jahres über das Ruhrgebiet lustig. Dort, urteilte er, wolle er nicht tot über dem Zaun hängen. Dann kam das schwere Unwetter und in Düsseldorf brach der Notstand aus. Die Bäume ganzer Straßenzüge wurden umgeweht. Und wer half? Die Feuerwehren aus dem Ruhrgebiet. Ganz selbstverständlich, ohne Häme. „Hört mal, der Bürgermeister hat uns doch lauthals beschimpft!“ „Egal, die kannst du doch nicht im Stich lassen, wenn sie in Not sind.“ Genau, Solidarität ist etwas, das man im Ruhrgebiet mit der Muttermilch eingeflößt bekommt. Den Rest erledigten die Düsseldorfer selber und wählten Herrn Elbers ab. Klar, das Mitleid hielt sich in Dortmund und Umgebung in Grenzen.

Hans Tilkowski, ehemaliger Nationaltorhüter, berühmt geworden durch das Wembley-Tor von 1966, dessen Vater ebenfalls Bergmann war, spricht gerne vom Wir-Gefühl. Das muss die Menschen untereinander prägen, egal ob in einer Fußballmannschaft oder sonst wo. Sein Vater hat es, als er für drei Tage verschüttet wurde, auf der Zeche erlebt; sein Sohn Hans in den Mannschaften, in denen er gespielt hat.

Und wie ist es heute mit den türkischstämmigen Mitbürgern? Fragt man die Jungen nach ihrem Lieblingsverein, bekommt man oft zwei Antworten. Einmal nennen sie einen Istanbuler Verein, Besiktas, Galatasaray, Fenerbahce, dazu kommen dann Schalke oder Borussia. Eine symbolträchtige Antwort, die viel über die Integration aussagt. Ganz geglückt ist sie noch nicht, aber immerhin, ein Stückchen ist geschafft. Und sie läuft weiter.

Inzwischen nutzt auch der DFB die integrierende Kraft des Fußballs und sendet zum Beispiel Spots, in denen der Vater von Boateng, die Mutter von Özil und andere Spielereltern zusammen grillen und ihr Zusammensein dann unterbrechen, um das Spiel ihrer Kinder zu sehen. Das Ruhrgebiet hätte dabei Pate stehen können.

Der Fußball errichtet Symbole, Leuchttürme in dieser Welt. Im Ruhrgebiet weiß man, wie viel der Fußball als so ein Leuchtturm bewirken kann.




„Das weiße Gold der Kelten“: Salz hält auch uralte Fundstücke frisch

Wo vor Jahrzehnten noch das „Schwarze Gold“, also Kohle, das Leben bestimmt hat, geht es nun ums „Weiße Gold“ in viel weiter entfernten Zeiten: In Herne zeigt das LWL-Museum für Archäologie die aus Wien kommende Ausstellung „Das weiße Gold der Kelten – Schätze aus dem Salz“.

Es geht um staunenswerte Funde aus Hallstatt (Oberösterreich), wo schon in der Jungsteinzeit Salz gewonnen wurde. Um 1500 v. Chr. waren dann die bronzezeitlichen Kelten schon versiert im Salzbergbau. Etwa 1245 v. Chr. beendete ein katastrophaler Erdrutsch diese Phase. Die Geschichte des quasi (vor)industriellen Abbaus beginnt um das Jahr 850 v. Chr., in der frühen Eisenzeit. Die Kelten meißelten sich ins Innere der Berge vor, entlang der Salzadern stellenweise über 300 Meter tief. So weit die grobe Chronologie.

Kinderarbeit unter Tage

Die senkrechten, mit Holz ausgekleideten Stollen waren immerhin 8 bis 12 Meter breit und führten zu riesigen Hallen unter Tage. Dort arbeiteten nicht nur Männer (Abbau mit dem Pickel) und Frauen (als Trägerinnen) im Salzbergbau, sondern auch Kinder ab etwa 5 Jahren.

Blick in die Herner Salz-Ausstellung (Foto: LWL/Arendt)

Blick in die Herner Salz-Ausstellung (Foto: LWL/Arendt)

Man hat Schuhe in Kindergrößen gefunden und außerdem Leuchtspäne für unterirdisches Licht. Diese Späne trugen zum Teil Abdrücke von Kindergebissen. Mutmaßung: Kinder mussten die Fackeln im Mund tragen, um die Hände für anderweitige Arbeiten frei zu haben. Gewiss: Schulunterricht haben die Kleinen seinerzeit nicht versäumt, doch zeugen Skelettfunde von frühen Knochen- und Halswirbelschäden. Heute vernimmt man es mit Grausen. Die „Hallstätter“ wurden damals im Schnitt nur rund 35 Jahre alt, nur vereinzelt erreichten sie das 50. oder gar 60. Lebensjahr.

Salzherzen als frühe Markenzeichen

Und wozu die Strapazen unter Tage? Salz war zu jener Zeit praktisch so kostbar wie Gold, und zwar nicht wegen seiner würzenden Eigenschaften, sondern als – bis zur Erfindung des Kühlschranks – bevorzugtes Konservierungsmittel, das Lebensmittel länger frisch hielt. Von Hallstatt aus handelten die Kelten, die zweitweise ein Salzmonopol für große Teile Mitteleuropas innehatten, über weite Strecken mit dem „weißen Gold“, bis in die heutigen Länder Frankreich, Italien und Ungarn.

Sorgte unter Tage für Licht: ein Bündel von Leuchtspänen. (Foto: LWL/Lammerhuber)

Sorgte unter Tage für Licht: ein Bündel von Leuchtspänen. (Foto: LWL/Lammerhuber)

Um den Absatz weiter zu fördern, wurden in Hallstatt (gleichsam ein früher Marken-Auftritt) auch herzförmige Blöcke aus Salz angefertigt. Das war nicht nur ein Gag, sondern auch ein Qualitätsnachweis. Wie Hofrat Dr. Anton Kern, Direktor der Prähistorischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien, erläutert, konnte für die von allen Seiten sichtbaren Herzen nur bestes Salz verwendet werden, während in Säcken schon mal schlechtere Ware unten liegen konnte…

So wertvoll wie Gold

Die offenbar ebenso geschäftstüchtigen wie reisefreudigen Hallstatt-Kelten häuften jedenfalls wahre Reichtümer an, wie edle Grabbeigaben aus Elfenbein (aus Afrika), Bernstein (von der Ostsee), filigranem Glas oder just Gold belegen. Welch ein Gepränge! Und dabei hat man zwar rund 1500 von vermuteten 6000 Grabstellen ausgewertet, doch hat man die etwaigen Fürstengräber der Region noch gar nicht gefunden. Ja, die Forscher wissen noch nicht einmal, wo diejenigen gewohnt haben, die damals das Sagen hatten. Welche Prunkstücke da wohl noch schlummern?

Keltisches Schöpfgefäß mit Kuh- und Kälbchenfigur, um 600 v. Chr. (Foto: LWL/Arendt)

Keltisches Schöpfgefäß mit Kuh- und Kälbchenfigur, um 600 v. Chr. (Foto: LWL/Arendt)

Das Salz taugt nicht nur zur Lebensmittel-Konservierung, sondern hat auch viele archäologische Funde so erhalten wie sonst kaum irgendwo auf der Welt. Selbst empfindliche Fragmente von Textilien (Fellmützen, Tragesäcke, Lederkappen) und organische Bestandteile haben die Jahrtausende nahezu unversehrt überstanden. Hier sieht man auch Relikte der wohl weltweit ältesten Holzstiege (von etwa 1343 v. Chr.), eine raffinierte Baukasten-Konstruktion, die im Berg Unebenheiten überbrückt haben dürfte. Spuren an einem Holzkochlöffel lassen Rückschlüsse auf die Ernährung zu: Beispielsweise standen Sammelobst, Gerste, Hirse, Saubohnen und Linsen auf dem Speiseplan, aber auch (rohes) Fleisch und Milchprodukte, worauf Kaseinreste hindeuten.

Das älteste „Toilettenpapier“

Auf eine andere Verrichtung lassen Pestwurzblätter schließen, die unter Tage gefunden wurden. Die Bergleute haben sie dort unten offenbar als Vorläufer von Toilettenpapier benutzt, wobei speziell diese Blätter einen lindernden, antiseptischen Effekt bei damals allfälligen Entzündungen und Durchfall gehabt haben sollen.

Werkzeug für den Salzbergbau (Foto: LWL/Lammerhuber)

Werkzeug für den Salzbergbau (Foto: LWL/Lammerhuber)

In Zusammenarbeit mit der Innsbrucker Agentur „MuseumsPartner“ hat man die Herner Schau mit rund 250 Exponaten (aus dem Naturhistorischen Museum Wien) denkbar sinnlich gestaltet. Der Eingang führt durch eine Art Holzstollen. In sechs begehbaren Salzblöcken werden einzelne Themenkreise hervorgehoben. Mittlerweile übliche Animationsfilme vermitteln Vorstellungen vom Alltagsleben der keltischen Salzbergleute, die sich übrigens (wie vorgefundene Farbstoffe ahnen lassen) in ziemlich bunte Kleidungsstücke hüllten. In manchen Zonen des Rundgangs haben die Ausstellungsmacher sogar versucht, Gerüche aus der Bronzezeit zu rekonstruieren, die hier nun dezent verströmt werden. Pestwurz-Hinterlassenschaften selbstverständlich ausgenommen.

„Das weiße Gold der Kelten – Schätze aus dem Salz“. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Vom 23. August 2014 bis 25. Januar 2015. Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 6 Euro, ermäßigt 4 Euro, Kinder/Jugendliche 3 Euro. Begleitbuch aus Wien (erschienen 2008) 19,95 Euro.




Historische Ferne in Herne: Uruk – die erste Großstadt der Menschheit

Kostbare Leihgaben aus London, Paris und Berlin gastieren jetzt im Herner LWL-Museum für Archäologie. Inhaltlich geht es um den frühesten Vorläufer solcher Metropolen: das legendäre Uruk.

Diese erste Großstadt der Weltgeschichte ist vor rund 5000 Jahren in Mesopotamien entstanden, auf dem Gebiet des heutigen Irak, im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, rund 300 Kilometer südlich vom späteren Bagdad gelegen. Uruk hat über Jahrtausende existiert, wobei die kulturelle Wirkung länger andauerte als die politische Macht. Der Zenit war gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. erreicht. Als Mittelpunkt der damaligen Welt wurde Uruk von Babylon abgelöst.

Sogenannte Uruk-Vase. Uruk, Uruk-Zeit 4. Jt. v. Chr., Marmor. Bagdad (Iraq Museum), Gipsabguss Berlin, Vorderasiatisches Museum. (© Staatliche Museen zu Berlin/Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer)

Sogenannte Uruk-Vase. Uruk, Uruk-Zeit 4. Jt. v. Chr., Marmor. Bagdad (Iraq Museum), Gipsabguss Berlin, Vorderasiatisches Museum. (© Staatliche Museen zu Berlin/Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer)

Just 1913, also vor 100 Jahren, hat in Uruk die erste deutsche Grabungskampagne begonnen, zeitbedingt im Zeichen des Kolonialismus und somit im Wettstreit vor allem mit England und Frankreich. Die missliche Lage im Irak lässt derzeit keine weiteren Grabungen zu, wie denn überhaupt in diesen 100 Jahren kriegerische Wirrnisse immer wieder die archäologische Arbeit unterbrochen haben. Die jetzige Grabungsleiterin Margarete van Ess kann, wie sie in Herne sagte, derzeit nur zu kurzen Visiten nach Uruk reisen.

Staunenswert, worüber man in Uruk schon verfügte: Da gab es Arbeitsteilung, was wiederum die Entstehung gesellschaftlicher Schichten und entsprechender Abhängigkeiten voraussetzte. Leider weiß man nicht, wie es zu dieser folgenreichen Differenzierung gekommen ist. Es gab kultisch-kulturelle Zentralbauten wie einen imposanten Stufentempel (Zikkurrat), Kanäle, öffentliche Wasserversorgung mit Rohrleitungen, regen Handel über weite Distanzen hinweg (außer Schilf und Lehm musste alles eingeführt werden) und deshalb auch eine funktionierende Verwaltung, der wir wiederum die Erfindung der ersten Schrift zu verdanken haben, lange vor den altägyptischen Hieroglyphen.

Tontafel mit Berechnung für die Bierherstellung. Uruk, Ende 4. Jt. v. Chr. Berlin, Vorderasiatisches Museum (© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer)

Tontafel mit Berechnung für die Bierherstellung. Uruk, Ende 4. Jt. v. Chr. Berlin, Vorderasiatisches Museum (© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer)

Auch eine der ältesten Dichtungen der Menschheit spielt in Uruk, nämlich das Gilgamesch-Epos, das von einem abenteuerlustigen König erzählt, der hernach geläutert in die Stadt zurückkehrt. Einige Funde kreisen um diesen Mythos, wie auch um die Stadtgöttin Innana (Ishtar), die vor allem für Liebe und Fruchtbarkeit stand.

Rund 90 Prozent der frühesten Keilschrift-Texte waren gleichsam bürokratische Aufzeichnungen, beispielsweise in Ton geritzte Urformen der „Lieferscheine“. Da findet man faszinierende Dokumente wie eine über einen Meter hohe Vase mit Erntedank-Motiven oder den Kopf eines Dämons namens Humbaba, dessen seltsam verschlungene Physiognomie von der Eingeweideschau kündet. Die Zukunft wurde damals offenkundig nicht nur aus den Sternen, sondern auch aus Gedärmen gelesen. Zum Orakel gibt es auch schriftliche Belege: Sahen die Eingeweide so aus wie jene dämonische Maske, so war es wohl schlecht bestellt…

Maske des Dämons Humbaba aus Sippar. Altbabylonisch, 18./17. Jh. v. Chr., gebrannter Ton. London, British Museum (© The Trustees of the British Museum)

Maske des Dämons Humbaba aus Sippar. Altbabylonisch, 18./17. Jh. v. Chr., gebrannter Ton. London, British Museum (© The Trustees of the British Museum)

Ausschlussreich alltagsnah auch die „Glockentöpfe“ (eine Art Wegwerfgeschirr), eine Tafel zur Bierproduktion (Zutaten und Mengenangaben) oder „lexikalische“ Listen wie jene, die 58 verschiedene Schweinearten verzeichnet. Überdies sieht man Aufstellungen zu Getreide- und Fischrationen für Arbeiter, die die 9 Kilometer lange und bis zu 9 Meter breite Mauer von Uruk errichten mussten. Apropos: Die Stadt umfasste etwa 5,5 Quadratkilometer, seinerzeit beispiellos, heute etwa der Altstadt von Tübingen entsprechend. Die Einwohnerzahl kann man nur grob schätzen, sie könnte zwischen 40 000 und 60 000 gelegen haben.

Sogenannte Glockentöpfe, Massenprodukte aus Uruk, Ende 4. Jt. v. Chr. (© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum/Olaf. M. Teßmer)

Sogenannte Glockentöpfe, Massenprodukte aus Uruk, Ende 4. Jt. v. Chr. (© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum/Olaf. M. Teßmer)

In Herne möchte man verwittertes Sein und Wesen von Uruk trotzdem griffig mit heutigen Mega-Städten assoziieren, in der Pressekonferenz war sogar vage von Bezügen zur Ruhrgebiets-Metropole die Rede. Nun ja, geschenkt. Das ist die übliche Kultur-PR, die mit Klappern Leute locken soll. Im Vorderasiatischen Museum, wo die Schau schon zu sehen war, hatte man damit wahrlich Erfolg, es kamen über 400000 Besucher. Dort und in Mannheim (Reiss-Engelhorn-Museen) ist das Konzept ersonnen worden, das auf stockseriösen Forschungen basiert, die eben halbwegs populär umgesetzt werden müssen, will die Wissenschaft nicht im eigenen Saft schmoren.

In Wahrheit sind uns all diese Dinge natürlich nicht so nah. Es handelt es sich um fragmentarische Funde aus einer unvordenklich fernen Zeit, die erst einmal für sich gewürdigt und interpretiert werden müssen. Das ist vor allem Sache der Experten, die aus winzigen, vielfach schadhaften Gegenständen mit bewundernswerten Scharfsinn eine ganze Lebenswelt zu rekonstruieren suchen. Daraus ließe sich übrigens auch ein Plädoyer für die so genannten „kleinen Fächer“ an den Unis herleiten, die heute häufig von Sparmaßnahmen bedroht sind.

Wer aber würde der Versuchung widerstehen wollen, Uruk zur Gänze digital in 3-D-Manier zu rekonstruieren und virtuell zu überfliegen, wie es hier geschieht? In dieser Perfektion war das vor wenigen Jahren noch nicht möglich. Also nutzt man die Chance.

3D-Rekonstruktion des "Weißen Tempels", der auf einer 12 Meter hohen Terrasse steht. Uruk-Zeit, um 3450 v. Chr. (© artefacts-berlin.de; wissenschaftliches Material: Deutsches Archäologisches Institut)

3D-Rekonstruktion des „Weißen Tempels“, der auf einer 12 Meter hohen Terrasse steht. Uruk-Zeit, um 3450 v. Chr. (© artefacts-berlin.de; wissenschaftliches Material: Deutsches Archäologisches Institut)

Man müht sich eben rundum nach Kräften, die rund 300 Exponate (darunter auch Abgüsse) ins Heute und an die fachlich nicht vorbelasteten Besucher heranzuholen. Das führt mitunter zur Überinszenierung. So werden etwas Ansammlungen kleinster Tontäfelchen von hoch aufragender Ausstellungs-Architektur überwölbt.Da fällt es mitunter nicht leicht, sich auf die oft unscheinbaren, aber bedeutsamen und gut erläuterten Exponate zu konzentrieren.

40 deutsche Grabungskampagnen hat es seit 1913 gegeben. Die Engländer waren schon Jahrzehnte früher zugange. Dennoch sind erst rund 5 Prozent (!) des Areals ausgegraben, es bleibt also reichlich Arbeit für die nächsten 500 Jahre, wie Grabungsleiterin van Ess versichert. Wer weiß, welche Überraschungen da noch schlummern.

„Uruk. 5000 Jahre Megacity“. 3. November 2013 bis 21. April 2014. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Öffnungsziten: Di, Mi, Fr 9-17 Uhr, Do 9-19 Uhr, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr (geschlossen 24., 25. Und 31. Dez, 1. Jan.). Eintritt 5 Euro, ermäßigt 3 Euro, Schüler 2 Euro, Familienkarte 11 Euro. Katalog im Museum 24,95 Euro, sonst 39,95 Euro. Internet: http//www.uruk.lwl.org




Nichts als Gespenster: „Out of body“ tanzt in Bochum

„Ohne Wahnsinn kein Verstand“: Die Gummizelle hat eine Panoramascheibe, durch die das Publikum die entfesselten Tänzer beobachten kann. In wildem Furor werfen sie sich gegen die Wände, übereinander, auf den Fußboden. Sie sind völlig außer sich, als versuchten sie, mit den Grenzen ihres Körpers auch die der Vernunft zu überschreiten und sich in eine neue Dimension zu katapultieren. „Out of body“ heißt der im Schauspielhaus Bochum uraufgeführte Abend der Herner Tanzgruppe Renegade, die damit ihre dritte Koproduktion mit dem Bochumer Schauspiel zeigt.

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer aus uns allen“ – auch das ein Satz, der während der mehrsprachigen Aufführung als Übertitel eingeblendet wird. Zugleich ein Motto, denn der blassgeschminkte Conférencier kündigt im Halbdunkel ein schauriges Zombietheater an.

Da gibt es den Wissenschaftler, der sich der „Gefühlologie“ verschrieben hat und deswegen mit einem Dutzend leerer Plastikflaschen jongliert. Diese Leere fühlt er auch in sich. Seine Tochter musste darunter leiden: Den Kopf in eine Plastiktüte gewickelt, erzählt sie kurz vor dem Ersticken über die Schrecknisse ihrer Kindheit. Wie die Schmetterlingssammlung ihres Vaters ihr Angst machte; wie die Insekten sie in ihren Bann zogen, auf ihr herumkrochen, sie schließlich angriffen.

Doch der Spuk hat Methode: Atmosphärisch lehnt sich Julio César Iglesias Ungos Choreografie an Horrorvideos an, in denen es von Zombies, Untoten oder Vampiren wimmelt. So stoßen die Tänzer in einen Bereich vor, der jenseits des Materiellen liegt. Was passiert, wenn die Seele den Körper verlässt? „Am Ende aller Straßen wartet der Tod“, lautet der beruhigende Begleittext auf dem Spruchband.

Mit den Mitteln des Tanzes die Überschreitung des Körperlichen zu erreichen und in das Reich der Gespenster vorzustoßen: Keine leichte Aufgabe, die der kubanische Choreograph, der u.a. für Wim Vandekeybus und Samir Akika getanzt hat, sich da vorgenommen hat. Die Tänzer erfüllen sie mit Humor, großer Gelenkigkeit und einem Schuss Akrobatik. Allen voran der Junge mit den Dreadlocks, der in einem unfassbaren Slapstick einen Besuch in der Spielhölle vortanzt. Dabei scheint er eher dem Comicheft als dem Ballettsaal entsprungen zu sein. So kommt dieses Tanztheater ziemlich unverbraucht und überraschend daher; es zelebriert den Geist der Subkultur und zieht daraus seine Energie. Die Kooperation mit der freien Szene funktioniert als eine Art Bluttransfusion fürs Stadttheater, mit der auch jugendliche Publikumsschichten angesprochen werden.

Nach einer Stunde und 15 Minuten ist der Spuk vorbei. Die Zombies sinken zurück in ihre Gräber. Wann sie wieder tanzen, erfahren alle Untoten und andere Nachtschattengewächse unter:

www.schauspielhausbochum.de




Hahne + Horn heute in Herne: Tanz und Neue Musik in den Flottmannhallen

Die Flottmannhallen in Herne bieten heute Abend (Daten siehe unten) ein außergewöhnliches Musik/Tanz-Ereignis an. „Rotlicht“ heißt das Programm der Tänzerin/Choreographin Henrietta Horn und der Komponistin Dorothée Hahne. Was uns dort erwartet ist nicht nur getanzte Neue Musik, wir erleben einen vielschichtigen Dialog, der ebenso die Sinne anspricht wie zum Nachdenken anregt.

Als sei der Tanzboden mit Mikrofonen unterminiert, werden in „Schrittweise“ die Bewegungen der Tänzerin zum Rohmaterial des Klangs. Wie überhaupt bei Dorothée Hahne die Live-Elektronik weniger ein Generator von Tönen als ein verwandelnder Reflektor von Vorgefundenem ist. Das klingt manchmal gruselig, wirkt verstörend, oder es kommt witzig daher.

„Portabel x“ spielt mit der „Tür“ und dem, was tragbar und was nicht mehr tragbar ist. Die Stimmen quietschender, knarzender, knarrender Türen werden gedehnt, gestreckt, gepitcht. Ölen wäre ruinös.

„Kanon“ ist unter dem Aspekt althergebrachter Harmonien vielleicht das „schönste“ Stück des Abends. Dorothée Hahne singt ein Gedicht von Christine Lavant aus „Spindel im Mond“ und zeigt dabei die Nähe von Loop und Kanon.

Drei Intermezzi führen kommunikative Standardsituationen mit ungewissem Ausgang vor. Annäherung oder Befremdung, Monolog und einfühlsames Miteinander.

Akustisch und optisch abwechslungsreich gestaltet sich das Programm, das am 3. Mai dieses Jahres im Pina Bausch Theater an der Folkwang Universität der Künste in Essen uraufgeführt wurde und heute Abend in Herne zu erleben ist. Jazz-Atmen, Zischen des Horns und Schmatzen am Mundstück, ein Alphorn wird geknutscht und gerieben; faunisch bläst Hahne das Schneckenhorn, schelmisch das Abflussrohr aus dem Baumarkt. Die verwitternden Eisenschalen von Blindgängerbomben, die nicht detonierten, klingen nun als Glocken. Die Musikerin wirft von Hand Patronenhülsen, Abfall von Projektilen, in einen umgekehrten Stahlhelm, und daneben stehen Eierbecher, die das Ganze ironisieren. Ein Ohren- und Augenspaß, der zugleich zu denken gibt.

Die neunte Nummer, „es geht, was kommt …“, schließt die Klammer, die eine kurze Stunde zuvor mit „es kommt, was geht …“ geöffnet wurde. Warum der Abend mit den neun Programmpunkten aber „Rotlicht“ heißt? Ein rotes Lämpchen „On Air“ aus einem Tonaufnahmestudio, das manchmal in der sparsamen Bühnenausstattung leuchtet, mag einen Hinweis geben.

Dorothée Hahne – Musik
Henrietta Horn – Tanz
am Freitag, 29. Juni 2012, 20:00 Uhr,
Flottmannhallen Herne
Straße des Bohrhammers 5
44625 Herne
Spieldauer: 60 Minuten

 

Die Komponistin Dorothée Hahne




Das Paradies liegt irgendwo bei Herne

Herne, Bahnhofstraße, in früherer Zeit

Jetzt habe ich also zum Fest die 4er-CD mit dem fast kompletten Liedschatz des gerade verstorbenen Franz-Josef Degenhardt geschenkt bekommen, und da muss ich doch unserem Vorarbeiter Bernd Berke danken. Der hat mich nämlich mit seinem Kommentar erst auf diese Wunsch-Idee gebracht.

Natürlich lagen Heiligabend sofort die „Schmuddelkinder“ auf dem Plattenteller, aber besonders viel Erinnerungs-Spaß brachte uns der „Tonio Schiavo“, weil nämlich ein Teil der Familie aus Herne stammt, und wie heißt beim italienischen Gastarbeiter Tonio der Refrain so schön? „Er kam aus der Ferne ins Paradies, und das liegt irgendwo bei Herne“.

Väterchen Franz und sein beißender Spott, er wirkt fast zeitlos.




Ästhetik aus der Tüte

Was haben die Künstler Max Liebermann, Otto Modersohn, Fritz Overbeck und Max Slevogt gemeinsam?

Sie alle entwerfen um 1900 Reklame-Bilder für die Schokoladenfabrik Stollwerck. Der Impressionist Slevogt geniert sich allerdings ein wenig dafür und lässt seine Signatur in diesem Umfeld beiseite. Werbung gilt nicht als sonderlich fein. Kann man sich damit gar den künstlerischen Leumund ruinieren? Vorsicht, Vorsicht!

Im Herner Emschertal-Museum wird das Wort Kunst hingegen schon graphisch im Titelschriftzug betont. Die aus Berlin kommende Wanderschau heißt „ReklameKunst auf Sammelbildern um 1900“, auch die aufdringlichere Schreibweise „ReklameKUNST“ findet sich im Faltblatt. Wir haben es also mit einem Phänomen im weiten Grenzgelände zwischen Kultur und Kommerz zu tun. Die Ursprünge der Gattung liegen um 1870 in Paris. Die Drucktechnik (Farblithos) erreicht zur Jahrhundertwende eine ungeahnte Blüte, vorherrschende Richtung ist der Jugendstil. Dass es bei aller Ästhetik knallhart um Absatzmärkte geht, steht rückseitig auf demselben Blatt.

Firmen wie Stollwerck, Liebig (Fleischextrakt), Palmin und Knorr haben mit ihren teilweise sehr liebevoll gestalteten Bilderserien zeitweise großen Erfolg. Schon bald gibt es zahlreiche Sammelalben und eine staunenswerte Themen-Differenzierung. Schulkinder sind zunächst die hauptsächliche Zielgruppe, später kommen auch beflissene Erwachsene aus dem Bürgertum hinzu. Neben halbwegs humorige Idyllen sowie frühe Sport- und Märchen-Motive tritt pittoresk aufbereitetes Bildungsgut mit leicht fassbaren Botschaften, etwa in Gestalt von Herrscherporträts, Bildnissen historischer Gestalten (Sokrates, Hannibal, Galilei, Luther) oder simplifizierende Ansichten zur Welt des Mittelalters. Volksbildung, sozusagen aus der Tüte. Ideologie raschelt vernehmlich mit.

Kein Wunder, dass ein solch massenhaft verbreitetes Medium irgendwann politisch in Dienst genommen wird. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs legt Palmin die deutschnationale Reihe „Unsere Kolonien“ auf, und der Süßwaren-Produzent Stollwerck feiert das stramm Soldatische mit heroischen Schlachtenmotiven. Eine ausgesprochene Rarität sind dagegen jene Ansichten von Mietskasernen aus dem Dickicht der Städte. Fast könnte man dahinter eine soziale Anklage vermuten, doch dies wäre sicherlich eine Überinterpretation.

Der erläuternde Untertitel klingt umständlich: „Eine Ausstellung des Museums Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin im Rahmen des Föderalen Programms der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.“ Mit solchen Übernahmen sparen regionale Museen Geld und Aufwand, sie müssen aber mit der vorhandenen Aufarbeitung und Präsentation vorlieb nehmen. Fix und fertig bedeutet auch lückenhaft. Im Falle der Reklamepostkarten wäre eine prägnantere Darstellung wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Hintergründe wünschenswert.

So vermittelt die Kollektion (Sammlung Detlef Lorenz) vorwiegend nostalgische Schauwerte, und zwar vielfach en miniature. Für Details ist hin und wieder gar eine Lupe ratsam, denn einzelne Bilder haben Briefmarkenformat. Liebling, ich habe die Werbung geschrumpft…

„Reklamekunst auf Sammelbildern um 1900“. Emschertal-Museum / Städt. Galerie im Schlosspark, 44629 Herne, Karl-Brandt-Weg 2. Bis 3. Januar 2010. Öffnungszeiten Di-Fr 10-13 und 14-17, Sa 14-17, So 11-17 Uhr. Tel.: 02323/16 26 59. Eintritt frei. Kein Katalog. Weiterführende Literatur: Lorenz, Detlef „Reklamekunst um 1900. Künstlerlexikon für Sammelbilder“, Berlin 2000.




Kleine Fluchten mit Faltboot

Zusammengelegt passt das Faltboot in einen mittelgroßen Rucksack. Mit ein wenig Geschick ist es in etwa 20 Minuten gebrauchsfertig montiert, der Rekord wurde bei einem Aufbau-Wettbewerb mit 6 Minuten gestoppt.

In den 1930er und den 1950er Jahren rief das Sportgerät wahre Massen-Bewegungen hervor. Es ermöglichte die „kleinen Fluchten“ an den damals noch kurzen Wochenenden – ein frühes Signal für die gerade erst als solche wahrgenommene und gestaltete Freizeit. Ohne diese Boote hätte sich auch das Campingwesen nicht so rasant entwickelt. Wenn man den ganzen Tag gepaddelt hatte, wollte man abends entlang der Wasserläufe übernachten. Also mussten Zelte und Zubehör mit ins Gepäck.

Das Herner Emschertal-Museum präsentiert jetzt im Schloss Strünkede Ausstellung rund um das populäre Wasserfahrzeug. Motto ist die einst im Werbespruch verwendete, treuherzige Aufforderung „Fahr fröhlich in die weite Welt…“ Es zeigt sich mal wieder: Man kann aus sämtlichen Gegenständen und Lebensbereichen eine Kulturgeschichte des Alltags gewinnen, so auch aus dem (Eschen)-Holzskelett mit Klappscharnieren und Stoffbespannung.

Experten wie der Sammler Markus Heise aus Willich bei Mönchengladbach, aus dessen einzigartiger Kollektion die kleine Herner Schau bestückt wurde, können stundenlang angeregt über die Materie reden. Auch Dr. Rainer Söntgen vom Mitverstalter Concultura GmbH (Bonn) kennt viele spannende Geschichten zum Thema. Ohne kundige Führung hat man leider nicht gar so viel von den Exponaten, zu denen z. B. zwölf historische Boote, ein umfangreiches Zelt-Ensemble der 30er Jahre, etliche alte Reklameprospekte und einschlägige Belletristik („Drei Mädel und ein Paddelboot“) gehören.

Erste Entwicklungsarbeiten waren zwar schon in England und Schottland geleistet worden, doch auf Dauer erwies sich das Faltboot vorwiegend als deutsche Angelegenheit (weshalb sich auch die Nazis der an sich harmlosen Begeisterung perfide bedienten). Engländer ruderten lieber, anstatt in Kajak oder Kanu zu paddeln, Holländer setzten die Segel, und Franzosen bevorzugten die „Kanadier“-Bootsform (großes Paddel taucht nur an einer Seite ein). Die Klassenfrage stellte sich auch: Faltboote sind – auch wegen der anfangs recht hohen Preise – vor allem eine Domäne bürgerlicher, akademischer Kreise gewesen. Arbeiter versuchten es gelegentlich mit der günstigen Marke Eigenbau.

Als eigentlicher Erfinder der zusammenklappbaren Boote gilt der Architekturstudent Alfred Heurich, der am 30. Mai 1905 mit einem Prototyp die Isar von Bad Tölz bis München befuhr. Er lernte kurz darauf den Rosenheimer Schneider Johann Klepper kennen, der bis dahin vor allem Skikleidung angefertigt hatte und nun half, die Boots-Idee marktreif zu machen. Beim Namen Klepper klingelt was: Klepper-Faltboote waren alsbald und sind bis heute die deutschen Branchenführer auf diesem Sektor.

Schon 1914 (kurz vor dem Ersten Weltkrieg) wurde der Deutsche Kanu-Verband gegründet. Der erste ganz große Aufschwung kam um 1920 im Zuge der Wandervogel-Bewegung. Auch FKK-Anhänger (siehe Illustration) ließen sich nicht lange bitten.

In den 30er Jahren gab es bis zu 65 deutsche Werften, die (auch) Faltboote fürs „Wasserwandern“ herstellten, heute sind noch ganze zwei übrig. Denn längst haben leichte Plastikboote die hölzernen Faltlinge verdrängt. Vor allem mit dem massenhaften Aufkommen der Privat-Pkws in den 60er Jahren schwand der Faltboot-Absatz, denn nun konnte man ja komplette Boote aufs Autodach schnallen oder im Hänger transportieren. Daraus kann man indirekt auch schließen, dass sich die Faltboote in der DDR ein wenig länger gehalten haben als im Westen.

Zwar kommt man in der Regel nur mit 6 bis 8 Stundenkilometern voran, doch können Faltboote durchaus für athletische Action und Abenteuer herhalten: Ein Schotte wagte sich bereits kurz nach 1900 mit einem Faltboot-Vorläufer auf die Ströme Euphrat und Tigris. Erfahrene oder auch tollkühne Paddler riskieren Ostsee-Touren, Überfahrten nach Helgoland, Überquerungen des Ärmelkanals, Atlantik-Trips oder Wildwasserfahrten auf reißenden Gebirgsbächen.

Schon der Rhein ist für Anfänger zu schwierig. Novizen sollten ihr Können deshalb erst einmal auf Kanälen erproben. Da gibt es gerade auch im Ruhrgebiet so manche taugliche Strecke. Die gemütlichere Variante der Kanufahrt wird auf dem Museumsfaltblatt „binsenbummelnd“ genannt. Man kann sich was drunter vorstellen.

Alles nur reine Nostalgie? Nicht unbedingt. In letzter Zeit zeichnet sich sogar – etwas hochtrabend gesagt – eine „Renaissance“ ab, die sich ökologisch begründen ließe, aber auch mit weltweiter Mobilität zu tun hat. Man kann solche Boote nämlich per Rucksack auf Fernreisen mitnehmen und dann etwa in Kanada, Alaska oder auch Asien zu Wasser lassen.

Auch die Eskimos haben gehörigen Anteil an diesem Bootswesen. Zum einen stammt das Wort Kajak nicht von ungefähr aus ihrer Sprache, zum anderen gibt es jene furiose „Eskimo-Rolle“ (seitwärts kopfüber kentern und auf der anderen Seite wieder hochkommen), die man vielleicht trainiert haben sollte, bevor man sich auf heiklere Strecken traut.

Das vorgeschriebene Mindestalter für (allein paddelnde) Kanuten ist übrigens 14 Jahre. Und noch eine Bestimmung: Jedes Boot muss einen deutlich sichtbaren Namen haben. Besagte Firma Klepper lieferte zeitweise sogar Sekt in Piccolo-Fläschchen zur Bootstaufe gleich mit dazu.

„Fahr fröhlich in die weite Welt…“ Zur Geschichte des Faltboots. Ausstellung des Emschertal-Museums Herne im Schloss Strünkede (Karl-Brandt-Weg 5). Bis zum 4. Oktober 2009. Geöffnet Di-Fr 10-13 und 14-17 Uhr, Sa 14-17 Uhr, So 11-17 Uhr. Eintritt: Erwachsene 1 Euro, Kinder 0,50 Euro. Tel. Museum 02323/16-1072.




Als Fernsehgeräte noch Rembrandt und Leonardo hießen – Herne zeigt nostalgische TV-Ausstellung „In die Röhre gucken“

Von Bernd Berke

Herne. Allein das Ambiente lohnt einen Ausflug: Das schmucke Heiner Wasserschloss Strünkede liegt in einem herrlichen Park. Dazu und zu den sonstigen alltagsgeschichtlichen Schätzen gibt’s jetzt im „Glockenraum“ des Renaissance-Baus (16./17. Jahrhundert)eine Extra-Portion Nostalgie. Wer in den Nachkriegs-Jahrzehnten mit dem Fernsehen aufgewachsen ist, wird hier seine Aha-Erlebnisse haben.

„In die Röhre gucken“ heißt die kompakte Ausstellung des Emschertal-Museums. Im Titel schwingt Enttäuschung mit, doch die stellt sich allenfalls ein, weil die Schau nicht umfangreicher geraten ist. Mit mehr Zeit und Geld ließe sich das kulturhistorische Thema üppiger aufbereiten. So hat man eben überwiegend auf Eigenbesitz zurückgegriffen und die Bevölkerung animiert, in ihren Fernseh-Souvenirs zu kramen.

Im Zeitraffer also durcheilt der Besucher die Zeit zwisehen 1952 und heute. Wie sehr sich die Formen der TVGeräte gewandelt haben! Und doch schließt sich irgendwie der Kreis, wenn auch auf ungleich höherem technischen Niveau: In den frühen 50ern waren die Bildschirme noch zwangsläufig winzig, jetzt gibt’s (neben imposanten Riesengehäusen) jene Geräte im Handy-Format, die stolz ihre winzigen Displays vorweisen.

Als die sündhaft teuren Gerate noch „Raffael“, „Rembrandt“ oder „Leonardo“ hießen und manche sich für den Fernsehabend eigens fein machten, prunkten Truhen mit Edelholz. In den späten 60ern wurden sie schockbunt (Plastik, grellrot oder orange), und nun gibt sich die avancierte Technik eher „cool“.

Alte Geräteprospekte (ach, all die verschwundenen Marken wie Nordmende, SchaubLorenz, Graetz oder Saba!), Programmzeitschriften aus längst verflossenen Jahren und Fan-Kollektionen kommen hinzu. Eine ältere Dame klebte Illustriertenbilder ihrer Fernsehlieblinge (Lembke, Carrell, Biolek) fein säuberlich ins Album, andere sammelten z. B. jene Mini-Fernseher aus billigem Kunststoff mit aufgepappten oder per Walze rotierenden Bildchen.

An den Programm-Schwerpunkten hat sich nicht gar zu viel geändert. Ein Auszug vom 10. Januar 1954 verzeichnet zunächst die Fußballübertragung, dann den bunten Abend, der heute als Comedy-Show firmieren könnte. Nur: Damals lief die Kiste nicht rund um die Uhr.

Man sieht nicht nur dokumentarisch Relikte, sondern auch etwas Kunst: Bernd Ikemann (Jahrgang 1956), von dem Aquarelle zu sehen sind, gehört zur Generation, deren erste Fernseherlebnisse „Fury“, „Lassie“ oder „Bonanza“ hießen. Er kommt vom Thema einfach nicht los und malt immer wieder gutbürgerliche Wohnzimmer-lnterieurs mit TV-Geräten. Auf der Suche nach der flimmernden Kindheit streift er durch menschenleere Räume. Mobiliar und Fernsehapparat halten geisterhafte Zwiesprache miteinander.

Chaos fürchtete hingegen der DDR-Künstler Bernhard Heisig („Der Lichtbringer“, 1982). Simultan und kakophon branden die Programm-Partikel auf den Betrachter zu. Vielleicht war’s die Angst, mit Nichtigkeiten (aus dem damaligen Westen?) überschwemmt zu werden.

„In die Röhre gucken“. Emschertal-Museum im Schloss Strünkede. Herne, Karl-Brandt-Weg 5 (Nähe Abfahrt Herne-Baukau). Noch bis zum 21. September. Di-Fr 10-13 und 14-17, Sa 14-17 Uhr.




Für jede Laune das passende Kleid – Ausstellung in Herne zeigt künstlerische Mode-Phantasien

Von Bernd Berke

Herne. Kleidet sich so die Dame von Welt? Zwei Plastiktrichter betonen barsch die Brustform; die Taille wird von Trinkstrohhalmen und ausgerissenen Autoscheibenwischern auch nicht gerade sanft umschmeichelt. Und auf dem Kopf trägt diese seltsame Frau einen umgestülpten Blumenkorb mit zwei angepappten roten Stöckelschuhen. So kann sie sich nirgendwo sehen lassen. Doch. Im Museum.

Denn die skurrile Dame ist ein Kunstwerk. „Haut und Hülle“ heißt ihre Ausstellungs-Station in Herne. Untertitel: „Künstler machen Kleidung“. Das beschriebene Wesen ist eine Skulptur von Achim Hundhausen (32) aus Bergisch-Gladbach. An anderen Puppen hat dieser Künstler erprobt, wie es wohl aussieht, wenn wir den sprichwörtlichen Gürtel mal ganz eng schnallen müssen – mit Phantasie-Kleidung aus Mülltüten und zerfetzten Kunststoffbechern.

Gleichsam als Ikone der Gattung hängt Joseph Beuys berühmter Filzanzug (Exemplar von 1970) erhöht im Raume. Ringsum gruppieren sich, durch kein striktes Konzept-Korsett eingezwängt, die verschiedensten Formen der künstlerisch inspirierten Haute Couture.

Die in Schwerte geborene, heute in Köln lebende Rosemarie Trockel hat einen „Schizo-Pullover“ mit zwei Halsöffnungen gestrickt. Qual der Wahl: Durch welchen Ausguck schauen wir denn heute in die Welt?

Ulrike Kessl aus Düsseldorf fertigt – aus lauter transparenten Klebebandstreifen – sackartig verdickte Kleider-Grundformen und füllt sie mit Erde. Ein Verweis auf die Vergänglichkeit alles Körperlichen?

Hineinschlüpfen und sich wohlfühlen?

Anne Jendritzko, früher schon mal als Ausstatterin an der Dortmunder Oper und Kostümdesignerin der Schrillnudel Hella von Sinnen tätig, appliziert ihren Modellen veritable Aufbauten, zum Beispiel aus Neonröhren und TV-Bildschirmen. Es schwillt der Leib vor lauter Plunder.

Julia Baur (Reutlingen) hat ein überdimensionales Nesselhemd mit geschätzter Ärmelspannweite von zehn Metern geschneidert. Schlüpft man wie ausdrücklich erwünscht darunter, so fühlt man sich, als stünde man in einem Zelt. Paßt und hat Luft.

Barbara Schimmel (Köln / Dortmund) stellt 40 kleine Figuren auf, die nach gemischten Gefühlen („unsinnig-gekräuselt“, „windig-gewagt“ usw.) gewandet sind. Altbekannte Wechselwirkung: Kleider erzeugen seelische Stimmungen. Oder, anders gewendet: Eine vorhandene Laune kann durch „Klamotten“ ausgedrückt werden.

Es scheint so, als tummelten sich mehrheitlich Frauen auf dieser speziellen künstlerischen Szene. Doch siehe da: Just die Kreationen eines Mannes, des 1992 verstorbenen Herners Kai Wunderlich, kommen den Einfällen „richtiger“ Modeschöpfer am nächsten. Ein wenig verrückt, aber durchaus tragbar. Fast wie in Mailand oder Paris.

„Haut und Hülle“. Herne, Flottmann-Hallen (Flottmannstraße). Bis 23, Juni, geöffnet Di-So 14-20 Uhr.




„Tegtmeier“ lebt nicht mehr – Ruhrgebiets-Komiker Jürgen von Manger mit 71 Jahren in Herne gestorben

Von Bernd Berke

Für alle Auswärtigen war er die idealtypische Verkörperung des Ruhrgebiets-Kumpels: Jürgen von Manger, der mit 71 Jahren in Herne gestorben ist, erfand 1962 seine Figur „Adolf Tegtmeier“ – und verschmolz nahezu mit dieser Rolle.

Landauf landab verbinden die Menschen das Revier mit seinen Auftritten und glauben zu wissen, wie die Leute hierzulande reden. Was „Tegtmeier“ von sich gab, war allerdings niemals echtes Revier-Deutsch, sondern ein Kunstdialekt.

Tegtmeier war jener „kleine Mann“ von der Straße, der sich freilich bildungsbeflissen gab, sich möglichst gepflegt ausdrücken wollte – und dabei immer wieder in arge Sprachnöte geriet. Komischer Kontrast: Gerade wenn ihm eigentlich die Worte fehlten, war dieser Tegtmeier höchst mitteilungsfreudig. Und er hätschelte seine gesammelten Vorurteile, als seien es Weltweisheiten.

Mit Schiller trieb er besonders viel Schabernack

Besonders am hohen und pathetischen Ton eines Friedrich Schiller konnte sich dieser Tegtmeier regelrecht aufreiben. Unvergessen sein Bericht von einer „WaIlenstein“-Aufführung („Dat is von dem, der auch Schillers Räuber geschrieben hat“). Ähnliche Wirkung erzielte er mit eigenwilligen Deutungen von „Maria Stuart“ und ..Wilhelm Teil“.

Tegtmeier hatte natürlich auch das Patentrezept gegen jeden Bildungsballast parat: „Bleibense Mensch'“ empfahl er stets. Mit anderen Worten: Nur nicht zu weit abheben, alles halb so hoch hängen. Und das war nun wiederum ganz nach Art des Menschenschlags im Ruhrgebiet.

Jürgen von Manger stammte jedoch gar nicht aus dem Revier, er wurde am 6. März 1923 in Koblenz geboren. Seine Schulzeit erlebte er dann allerdings bereits in Hagen, wo er das Humanistische Gymnasium besuchte und im Jahr 1941 Abitur machte. Der Sohn eines Staatsanwalts studierte von 1954 bis 1958 in Köln und Münster Rechtswissenschaften, hatte aber zuvor schon erste Bühnenerfahrungen gesammelt, zunächst als Statist.

Nach einer soliden Schauspiel- und Gesangsausbildung wirkte er an den Bühnen in Hagen (bis 1947), Bochum (1947 bis 1950) und Gelsenkirchen (1950 bis 1963). Dabei spielte er auch unter dem legendären Bochumer Theaterchef Saladin Schmitt.

Die Markenzeichen gepflegt

Jürgen von Manger bekam im Theater zwar mitunter einige ernste Rollen, war aber schon bald als Spezialist für das Fach „Charakter-Komik“ gefragt.

Wie jeder bekannte Komiker, so pflegte auch Jürgen von Manger seine Markenzeichen. Da waren Schnauzbart und Kappe (die er angeblich wegen seiner „Maläste mitte Ohren“ trug), der immer irgendwie schiefgestellte, die Buchstaben geradezu genüßlich-quälerisch mahlende Mund, der so recht ahnen und mitfühlen ließ, wie Tegtmeier nach Worten rang, wenn er uns Gott und die Welt nach seinem Strickmuster erklären wollte; da war das listige Blinzeln unter den buschigen Augenbrauen, und da waren schließlich die immer wiederkehrenden Formeln und Floskeln wie das berühmte „Also äährlich!“

Hinter der etwas biederen Maskierung entfalteten sich manchmal ganz schön makabre Gedanken, zum Beispiel, wenn Jürgen von Manger einen seiner bekanntesten Sketche zum besten gab: den vom „Schwiegermuttermörder“. Dieser Mörder („Da hab‘ ich se gesäächt“) war weder teuflisch noch reumütig, sondern schilderte ganz beiläufig die Einzelheiten seiner Tat, so als gehe es um das Selbstverständlichste von der Welt. Es war übrigens eines der allerersten „Stücksken“ von Manger, mit dem er eigentlich nur die Wirkung beim Publikum testen wollte. Sie war durchschlagend, und er kam von der Figur nicht mehr los.

Makabre und peinliche Situationen

Manger ließ Tegtmeier fortan in alle möglichen und unmöglichen peinlichen Situationen geraten – von der Fahrschulprüfung („Hier hat die Omma Vorfahrt“) bis ins Eheinstitut (wo er eine Dame „mit dicke Oberaahme“ suchte), von der Delinquentenzelle bis in den Lehrgang für Unteroffiziere: „Womit wäscht sich der Soldat? – Mit Seife, Herr Unteroffizier! – Nein, mit nacktem Oberkörper.“ Tegtmeier geriet jedenfalls immer vom Regen in die Traufe, stolperte von einer Kalamität in die nächste. Doch er wurstelte sich immer irgendwie durch.

Großen Anklang fanden nicht nur Mangers insgesamt zwölf Langspielplatten, sondem auch seine Fernsehreihen wie zum Beispiel „Tegtmeiers Reisen“ mit gelegentlich hintersinnigen Plaudereien an den Orten des Massentourismus, wo er auch schon mal einen besonders schönen Kartoffelsalat und Übernachtungen in Jugendherbergen empfahl.

Im August 1985 erlitt Jürgen von Manger einen schweren Schlaganfall und war seither halbseitig gelähmt. Auch das Sprachzentrum wurde in Mitleidenschaft gezogen. Tapfer kämpfte er gegen die Krankheit an und hatte sogar schon bald wieder Pläne für neue Auftritte. Doch er mußte die Pläne aufgeben. Er hat sich nie wieder ganz erholt. Zuletzt lebte der Opern- und Antiquitäten-Kenner sehr zurückgezogen mit seiner Frau Ruth in Herne.




Natur-Erkundung mit „Lauschangriff“ – Herne: Vier Kunst-Positionen im Umgang mit Holz

Von Bernd Berke

Herne. Möglichen „Lauschangriffen“ sind jetzt die Besucher einer Ausstellung in Herne ausgesetzt. Wenn sie durch den Ausstellungstrakt der Flottmann-Hallen wandeln und etwas sagen, kann es jederzeit auf Tonband aufgezeichnet werden.

Damit alles seine rechtliche Ordnung hat, findet man gleich am Eingang Handzettel vor, die auf die „Abhöraktion“ aufmerksam machen. Die von der Decke herabhängenden Mini-Mikrophone gehören zu einer künstlerischen Arbeit der Düsseldorferin Anja Wiese. Die hat insgesamt 14 alte Tonbandgeräte installiert. Von einer 96 Meter langen Bandschleife, die nacheinander durch all diese Apparate läuft, erklingen durch den Raum wandernde Säge-Geräusche. Und damit wären wir beim Thema der Herner Schau: Vier Künstler befassen sich. auf sehr unterschiedliche Weise, mit dem Natur- und Werkstoff Holz.

Während Anja Wiese nur akustisch die Säge ansetzt und die Kommentare der Besucher aufzeichnet (anschließend wird verfremdet bzw. gelöscht) und somit vielleicht auch Kritik an ihrer Arbeit vom Band zu hören bekommt, hat sich Minka Hauschild dem Holz ungleich direkter genähert. Angeregt von Reisen nach Tibet und Indien, wo sie überall Gebetstücher sah, begab sie sich mit Stoffbahnen in den Wald und holte sich Abdrucke von Baumrinden. Als sie dort auf die Leiter kletterte, die Buchen (am besten geeignete Baumsorte) von oben bis unten umwickelte und den Stoff mit einer Mixtur aus Kleister und Erdpigmenten bestrich, hat so mancher Spaziergänger sich verwundert die Augen gerieben.

Wenn der Baum sich direkt äußert

Doch Minka Hauschild hatte natürlich die forstamtliche Genehmigung in der Tasche. Und sie hatte jede Menge Assoziationen: In den Baumrinden, so die Künstlerin, stecken die Spuren von Generationen, in Form von Verletzungen bis hin zur berüchtigten Herzchenritzung. Via Abdruck im Tuch könne sich der Baum sozusagen ganz direkt äußern, es spreche die Natur selbst, ja es sei fast wie eine „Weihegabe“ des Baums. Die Tuchbahnen, die nun in Herne hängen, wirken wunderbar leicht und licht. Man muß gar nichts Esoterisches oder Naturmagisches hinzudenken, um Gefallen daran zu finden.

Einen wiederum anderen Zugang zum Thema fand der Holländer Geurt van Dijk, mit 53 Jahren rund zwei Jahrzehnte älter als die drei anderen Teilnehmer. Er lebt mitten im Grünen, betätigt sich eifrig als Sammler von Holzabfällen und Reisig. Daraus baut er große, nahezu naturbelassene „Nester“, „Kathedralen“ oder menschenähnliche Wesen. Zwei rissige Figuren aus Eichenholz, Mann und Frau, stehen wie zufällige Findlinge da. Beim Mann reckt sich, just in der Körpermitte, ein Zweig empor. Auch das ist Natur…

Weitaus mehr handwerkliche Bearbeitung läßt Markus Mußinghoff dem Holz angedeihen. Er fertigt raumgreifende Gebilde aus Brettern und Bohlen. Hier hat sich Technik des natürlichen Materials bemächtigt, um mit großer Geste Zeichen zu setzen.

„Unter Holz“. Flottmann-Hallen, Herne. Bis 13. März. Di.So 14-20 Uhr. Katalog 20 DM.




Theaterbüro vertritt nun die freien Gruppen – Neue Einrichtung in Herne hofft auf Landesgelder

Von Bernd Berke

Herne. Ein Magier aus der freien Theaterszene ließ sich von Dr. Eugen Gerritz (SPD-Mitglied des NRW-Kulturausschusses) einen Zehnmarkschein aushändigen. Das gute Stück verschwand unter einem Tuch und kam in einer Apfelsine wieder zum Vorschein. Der Auftritt hatte Symbolwert: So frei möchten die Theatermacher gern über Landesgelder verfügen, doch da sind die knappen Kassen vor.

So war man gestern schon heilfroh, als man in Herne ein Büro eröffnen konnte, das die Interessen der professionellen freien Gruppen in NRW wirksam vertreten soll. Besagter Finanz-Zauber war Beiwerk zum „Gründungsakt“.

Schon 50 von rund 100 freien Theatergruppen in NRW sind Mitglieder in der „Kooperative professioneller freier Theater“, die seit 1984 besteht und nun das genannte Büro in der Castroper Straße 184 (Herne-Börnig/Tel.: 02323/32379) betreibt. Die Stadt Herne unterstützte das Büro zweimal mit 6800 DM. Pro Mitgliedstruppe kassiert die Kooperative außerdem 250 DM Jahresbeitrag – ein schmales Polster, denn davon werden u. a. Kataloge über freie Produktionen bestritten. Auch das zweimal in Dortmund veranstaltete und für 1989 erneut angesagte Festival „Theaterzwang“ ist ein Werk der Kooperative.

Zukunftspläne, die das Büro vorantreiben soll: eine „Theaterbörse“ in Herne, eine Kabarett-Reihe in den dortigen Flottmann-Hallen – und die große „Fouché“-Produktion mit Willi Thomczyks Herner „Theater Kohlenpott“ zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution. Solche Projekte und die Beratung der Mitglieder erfordern so viel Arbeit, daß man die Bürostelle von Jörg Berger, die zunächst als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme läuft, möglichst bald in eine Festanstellung umgewandelt und durch eine Pädagogenstelle ergänzt wissen möchte. Erst dann, so Gerd Bührig von der „Kooperative“, könne die Einrichtung wirklich zum Forum werden und sich auch in die NRW-Kulturpolitik einmischen. Vorbilder sind bestehende Büros anderer Sparten: das Rockbüro (Wuppertal), das Filmbüro (Mülheim), die Literaturbüros in Unna, Gladbeck, Düsseldorf.

Dr. Eugen Gerritz, als Vertreter des Landtags-Kulturausschusses zur Eröffnung geeilt, stellte eine faire Überprüfung der Effektivität dieses Büros in Aussicht. Er sehe gute Chancen, daß ab 1991 Landesmittel fließen. Bis dahin müsse man noch von einem „platonischen Verhältnis“ des Landes zum Büro sprechen.

An Eros dachte auch Gerd Bührer: „Ohne Subventiônen bleibt das freie Theater wie ein Liebesbrief ohne Briefmarke.“ Viele gute Ansätze seien aus Geldmangel „gestorben“, existierende Gruppen hielten sich meist durch „Selbstausbeutung“ über Wasser. Freie Produktionen mit kurzfristig zusammengekauften Crews seien ein Greuel. Wenn sich keine festen Ensembles bilden könnten, komme es zur „Dequalifizierung“.

Eugen Gerritz hingegen überraschte mit seiner Warnung an die freien Gruppen, sich allzusehr zu etablieren: „Suchen Sie sich keine festen Spielstätten. Tingeln Sie lieber!“ Seine Hoffnung: Die „Freien“ sollen die Stadttheater beflügeln.

Der Gesprächston zwischen freien Theatermachem und Politikem war übrigens sehr höflich. Man weiß; was man aneinander hat. Vom Land wird „Staatsknete“ erwartet, von den Schauspielern, daß sie gegen Ödnis in den Städten anspielen




In fünf Fabrikhallen wird Revier-Kultur produziert – „Flottmann“-Eröffnung am Wochenende in Herne

Von Bernd Berke

Herne. Alle Künste unter einern Dach – dieser Wunsch ist ab sofort auch in Herne, das bislang eher den Stiefkindern der Revierszene zuzurechnen war, keine Utopie mehr. „Flott nach Flottmann“ heißt der saloppe Slogan. Gemeint sind die Flottmann-Hallen, denkmalgeschützte Jugendstilarchitektur aus dem Jahr 1908 und ehemalige Fabrikgebäude. Früher wurde hier vor allem Bergmannsgerät hergestellt.

Ein flott laufendes Männchen mit Bohrhammer wurde denn auch zum Signet der neuen Einrichtung erkoren. Am heutigen Samstag (ab 16 Uhr) und Sonntag (ab 11 Uhr) – jeweils Ende offen – wird die Kulturschmiede mit großem Zirkus-, Theater- und Musikprogramm ihrer vielfältigen Bestimmung übergeben.

Der Komplex am Südrand Hernes umfaßt insgesamt fünf Hallen. Die Hallen 1 und 2 sind für vor allem Ausstellungen reserviert. Besonders freut dies den Leiter des örtlichen Emschertalmuseums, Dr. Alexander von Knorre, der hier, anders als im angestammten und beengten Hause, auch einmal größere Objekte vorzeigen kann. Den Auftakt machen elf Bildhauer aus dem Ruhrgebiet. „Skulptur Ruhr“ dauert bis zum 16. November und zeigt dreidimensionale, zumeist revierspezifische Arbeiten, vor allem künstlerische Auseinandersetzungen mit Massenprodunkten und industriellen Werkstoffen wie Metall.

Halle 3 soll – mit rund 250 Sitzplätzen – vor allem als feste Spielstätte für Willi Thomczyks „Theater Kohlenpott“ dienen, aber auch Gastspiele anderer (freier) Truppen sind geplant. Der Theater-Etat für 1987 beträgt 50000 DM („Kohlenpott“) plus 25 000 DM (Gastspielbetrieb). Konzerte, so u.a. eine Jazz- und eine Folk-Reihe, sollen gleichfalls Besucher in Halle 3 locken. Die Hallen 4 und 5 schließlich stehen u. a. für Breitensport und Spiel, eventuell für größere Kulturveranstaltungen zur Verfügung.

Umbaukosten von 3,4 Mio. DM (davon 2,2 Mio. Landeszuschüsse) waren erforderlich, um ehemalige Versandhallen, Schmiede und Schlosserei zu einem Kultur- und Begegnungszentrum umzubauen, das seine industrielle Vergangenheit ganz bewußt nicht unter den Scheffel stellt. Kein schnieker, aufpolierter Kulturpalast also, sondern ein durchweg robust sich gebender Bau, wie geschaffen für das anvisierte Zielpublikum der 16- bis 30jährigen, die – so wünscht man sich – möglichst aus der gesamten Region hierher strömen sollen. Der Programmbeirat (Vertreter der Stadt und Künstler) hat sich einiges vorgenommen: 22 Veranstaltungen sollen noch in diesem Jahr über die Bühne gehen, im nächsten Jahr sollen es rund 120 sein. Ein Kraftakt, ja ein Kunststück, auf das man ziemlich gespannt, sein darf – bei einem Gesamt-Jahresetat von gerade mal 95.000DM…

Mit Rock-Veranstaltungen gehobener Lautstärke wird man übrigens nicht aufwarten können. Die Hallen liegen nämlich mitten in einem Wohngebiet, und schon der Umzug der Flottmann-Fabrik von hier in ein Gewerbegebiet erfolgte 1983 vor allem aus Lärmschutzgründen.

Aus dem Raum Dortmund ist die Fabrik z. B. über die A 43 (Richtung Recklinghausen), Abfahrt Bochum-Riemke, dann Bochumer Straße in Richtung Herne, zu erreichen. Auf der rechten Seite, kurz hinter der Stadtgrenze Bochum/Herne, geht’s zur Flottmannstraße.