Hitlers Hunde, Görings Löwen und die Kartoffelkäfer – aufschlussreiches Buch „Tiere im Nationalsozialimus“

Mal von der Selbstverständlichkeit abgesehen, dass man immer wieder auf jene Zeit zurückkommen muss: Ist über die Abgründe der NS-Herrschaft nicht schon alles Wesentliche gesagt, ist nicht jede dunkle Schattierung ausgeleuchtet worden? Nun ja. Selbst der damalige, gleichgeschaltete Alltag hatte etliche Aspekte; einer, der bislang eher episodisch abgehandelt worden ist: der oft recht widersprüchliche Umgang der Nazis mit der Tierwelt.

Sage niemand, diese Sichtweise führe geradewegs in die Verharmlosung und Relativierung. Nein, die Ansichten und Aussagen über Tiere sind zutiefst in der NS-Ideologie verwurzelt und eröffnen auch ungeahnte Zugänge. Just im vermeintlich Nebensächlichen scheinen neue Zusammenhänge auf. Und so ist es von Anfang an ein durchaus aussichtsreiches, schließlich auch verdienstvolles Unterfangen, wenn der Journalist und Autor Jan Mohnhaupt das Thema „Tiere im Nationalsozialismus“ umfänglich aufgreift.

Ideologie der Rassereinheit und der Zuchtwahl

Gewiss, es fallen auch ein paar „Anekdoten“ ab, die einer ernsthaften Betrachtung anscheinend eher entgegenstehen: dass etwa Adolf Hitlers Geliebte Eva Braun dermaßen eifersüchtig auf des „Führers“ Schäferhund „Blondi“ (wir lernen: Er hatte drei Tiere dieses Namens) gewesen sei, dass sie ihm – dem Hund – gelegentlich unterm Tisch Tritte versetzt habe, auf dass der durch sein Jaulen den überaus hundevernarrten GröFaZ verärgere und vielleicht weggeschickt werde…

Doch das Buch reicht weit über derlei wohlfeile Erzähl-Stöffchen hinaus. Vor allem die Konzepte der Rassen- und Zuchtwahl sowie wild wuchernde Phantasien über „Schädlinge“ verweisen direkt auf den Umgang mit menschlichen Minderheiten, ja, sie haben das mörderische Regime recht eigentlich mitgeprägt. Tierzucht und Menschenzucht im Sinne einer angestrebten „Rassereinheit“ betreffen den Kern der kruden NS-Vorstellungswelt. Noch höher als Rassenpurismus rangierte in der parteilich erwünschten Hundeschulung freilich der absolute Gehorsam des Tieres, das für alles abgerichtet werden sollte – nicht zuletzt für die grausame Hatz auf KZ-Häftlinge.

Zigtausend Pferde bestialisch in den Tod getrieben

Wie Mohnhaupt zeigen kann, hielten sich die Nazis selbst ein „anständiges“ Verhältnis zum Tier zugute und schrieben tatsächlich ein paar dauerhafte Regeln des Tierschutzes in die Gesetzbücher hinein. Allerdings handelten sie oft völlig konträr zu den Schutzbestimmungen, indem sie zum Beispiel zigtausend bis aufs Blut geschundene Pferde im Russland-Feldzug zu Tode brachten. Entgegen allem hohltönenden Geschwafel („Kamerad Pferd“) wurden allein auf der Krim rund 30.000 Pferde von der Wehrmacht binnen weniger Tage exekutiert, damit sie nicht den Sowjets in die Hände fielen.

Ansonsten war Tier nicht gleich Tier. So priesen die auf agrarische Autarkie versessenen Nazis das Schwein, das für „arische Sesshaftigkeit“ stehe – im konstruierten Gegensatz zum verachteten Nomadentum anderer Völker. Geschlachtet wurden die Schweine natürlich trotzdem. Erst kommt das Fressen, dann die angebliche „Moral“…

Katzen als „Juden unter den Tieren“

Grotesk wurde die Zuschreibung im Falle der Katzen, die als unzuverlässige, „orientalische“ Wesen galten. Der unsägliche NS-Autor Will Vesper verunglimpfte sie als „Die Juden unter den Tieren“. Die tieftraurige Geschichte des nachmals zum Ruhm gelangten Sprachwissenschaftlers Victor Klemperer, der – aus Selbstschutz für sich und seine Frau – seinen innig geliebten Kater Mujel einschläfern lassen musste, weil er als Jude kein Tier halten durfte, kann einem Mitleids- und Zornestränen in die Augen treiben.

Ungleich mehr als von Katzen hielten die Nazis von gefährlichen Raubtieren wie Wölfen, Tigern und Löwen, mit deren „gnadenloser Wildheit“ (so die Legende) sie sich selbst identifizierten. Auch hier geriet manches zur Farce. Vor allem der prunksüchtige „Reichsjägermeister“ Hermann Göring tat sich dabei hervor, er ließ für sich höchstpersönlich Löwen und Bären halten. Die Zoodirektoren von Berlin und München (übrigens Brüder) hatten bei der Auswahl zu Diensten zu sein. Eine auf Görings Wunsch angefertigte, heroisierende Hirsch-Statue findet sich noch heute im (Ost)-Berliner Tierpark – ohne jeden historisch einordnenden Hinweis, wie Mohnhaupt kritisch anmerkt. Der Vegetarier Hitler soll derweil von erzdeutschen Wald- und Jagdmythen nichts gehalten haben. Eine Randnotiz.

Raupen züchten für die Fallschirmseide

Ein auf den ersten Blick kurioses, aber wohl weit verbreitetes Phänomen mit Tierweltbezug war damals die von oben verordnete Raupenzucht, der sich im ganzen Reich zahllose Schulklassen widmen mussten, um die heimische Seidenproduktion (deren Zentrale in Celle angesiedelt war) anzukurbeln. Vor allem wurde der edle Stoff für militärische Fallschirme benötigt. Zugleich entbrannte ein internationaler (Propaganda)-Krieg um die Kartoffelkäfer, von denen Deutschland behauptete, die Franzosen setzten sie – quasi als „Biowaffe“ – gezielt gegen die deutsche Ernte ein. Paris erhob derweil die umgekehrte Anschuldigung.

Wie auf anderen Feldern auch, so wirkte gar vieles ungut in die Nachkriegszeit hinein, so etwa die Jagdregeln, die vollends erst im „Dritten Reich“ neu begründet und ausformuliert wurden. Auch darf von personellen Kontinuitäten der erschreckenden Art nicht geschwiegen werden. Was heute wohl nur wenige wissen: Der prominente Verhaltensforscher Konrad Lorenz (ja, der mit den Graugänsen) war in jenen finsteren Jahren ganz offenkundig ein NS-Parteigänger reinsten Wassers und ein ideologischer Protagonist mit Einfluss. Nach dem Krieg war auch sein schäbiges Verhalten allzu schnell vergessen. In der wirtschaftswunderlichen Bundesrepublik galt er erneut als Autorität.

Jan Mohnhaupt: „Tiere im Nationalsozialismus“. Hanser Verlag. 256 Seiten. 22 Euro.




Erst der „Echo“-Skandal, dann die Hakenkreuz-Binde im Theater: Provokation bis zur völligen Verblödung

Hitlers gespenstisch wiederkehrender Geburtstag wird in diesem Jahr besonders ausgiebig begangen. Nein, nicht nur von (Neo)-Nazis, sondern auch von mehr oder weniger kulturell angehauchten Institutionen. Zunächst hatten wir (und haben wir immer noch) die sich seit Tagen hinziehende „Debatte“ um den überflüssigsten aller Musikpreise, den „Echo“, der sich eh nur nach Verkaufszahlen richtet und Qualität quasi nur als nebensächlichen Zusatzeffekt duldet.

Manche Themen kann man eigentlich nur noch abstrakt bebildern. Wenn überhaupt... (Foto: BB)

Manche Themen kann man nur noch abstrakt bebildern. Wenn überhaupt… (Foto: BB)

Die idiotische, unsäglich antisemitische Zeile der Echo-dekorierten Rapper Kollegah & Farid Bang muss zwangsläufig dazu führen, den nunmehr vollends korrumpierten und verseuchten Preis künftig gar nicht mehr zu verleihen. Respekt allen aufrechten Künstlern, die ihre Echo-Auszeichnungen jetzt zurückgegeben haben – mit welcher kurzen Verzögerung auch immer. So. Jetzt haben wir das hier ebenfalls gesagt. Fürs Protokoll.

Ist ja auch wahr. Der Überbietungs-Wettbewerb in Sachen Provokationen geht einem doch schon seit vielen Jahren auf die Nerven. Ständige Grenzüberschreitung scheint irgendwann zwangsläufig mitten in die Verblödung zu führen. Und ich fürchte, dass sich darin, nämlich im unentwegten Lobpreis der Provokation, ein Erbteil der Achtundsechziger verbergen könnte. Wobei die Sache natürlich viel komplizierter liegt.

Von Kollegah bis Konstanz: Bodenlos am Bodensee

Während die Echo-Verleihung wohl eher zufällig in die zeitliche Nähe des besagten Hitler-Geburtstages geraten ist, bezieht sich das Theater in Konstanz ganz bewusst darauf – und legt seinerseits eine angeblich unerhört „kritisch“ gemeinte Provokation just zu diesem Tage auf, gleichsam nach dem Motto „bodenlos am Bodensee“: Zur Premiere – und eventuell zu weiteren Aufführungen – von George Taboris „Mein Kampf“ (Regie: der Kabarettist Serdar Somuncu) gibt’s Freikarten, falls die Besucher sich bereit erklären, im Theater eine Hakenkreuz-Binde zu tragen.

Einige Dutzend Leute haben sich anscheinend schon für die infame Aktion gemeldet – Hauptsache „Schnäppchen“, Hauptsache Betrieb, Hauptsache schrill und krass. Man soll ja keine billigen Scherze mit Namen machen, aber der Konstanzer Intendant, der die Idee gehabt haben soll, heißt nun mal Nix. Vorname Christoph. Er hat wahrscheinlich erkannt, dass Provozieren mit Ficken und dergleichen schon längst nix mehr bringt. Da muss schon härtere Nazi-Action her. Von Kollegah bis Konstanz.

Leider funktioniert der üble Marketing-Gag

Doch halt! Natürlich will das Theater nach eigener Darstellung mit all dem nur zeigen, wie leicht sich Menschen korrumpieren lassen. Was habt ihr denn gedacht? Aber damit nicht genug der Geschmacklosigkeit: Wer eine Karte zum Normaltarif kauft, „darf“ zur Aufführung einen Davidstern tragen – als Zeichen der Solidarität mit den Opfern, wie das Theater eilfertig versichert. O schreckliche Einfalt!

Was wird das für ein Hallo im Zuschauerraum geben! Wahrscheinlich rücken da einige TV-Teams an, die sonst mit „Kultur“ so gar nichts am Hut haben. Eine gewisse Polizeipräsenz ist unterdessen sicherlich ratsam. Es geht ja auch nicht um Kultur, sondern (letztlich ganz ähnlich wie beim „Echo“) um das selbstgefällig provokante Gehabe einiger Ar***. In diesem Falle wird es auch noch öffentlich subventioniert.

Der aberwitzige Marketing-Gag funktioniert selbstverständlich zuverlässig, denn nun reden sie von Flensburg bis Garmisch und von Aachen bis Cottbus über das ansonsten herzlich unbedeutende Konstanzer Theater. Es ist zum Speien!




Apps mit Adolf

Schock beim Download: "Er ist wieder da..." (Screenshot: BB)

Schock beim Download: „Er ist wieder da…“ (Screenshot: BB)

Hat das eigentlich noch niemand bemerkt und gegeißelt?

Wie, was, wo, warum? Ja, was, ich werd‘ euch sagen, was: Immer dann, wenn man eine App herunterlädt und beim Vorgang warten muss, taucht zwischendurch unversehens ein Hitler-Piktogramm auf – mit stilisierter Andeutung des berüchtigten Haarschnitts und des widerlichen Schnauzbarts. Wer’s nicht glaubt, sehe selbst. Man erlebt sein blaues Wunder. Screenshots lügen nicht.

Da hört sich doch alles auf! Gibt es denn wirklich keine unverfängliche Zeichensprache für den Download?

P.S.: Man macht mich darauf aufmerksam, dies sei ein reines Apple-Phänomen und komme so nur bei iPhone und iPad vor. Mag sein. In der Android-Welt bin in nicht daheim. Dann können wir aber auch schon ein Zusatzthema herbeiquälen. Apple hatte sich – aus welchen Motiven auch immer – jüngst geweigert, den US-Behörden beim Hacken eines Handys zu helfen, das einem toten Terroristen gehört hatte. Somit drängt sich die Frage auf: Was ist los in Cupertino?




„Der totale Rausch“: Erhellendes Buch über Drogenkonsum in der NS-Zeit

Es ist ganz offensichtlich ein blinder Flecken in der wissenschaftlichen Forschung über das NS-Regime, dem sich der Schriftsteller Norman Ohler in seinem Buch „Der totale Rausch“ zuwendet. Der Absolvent der Hamburger Journalistenschule ist bei Recherchen in diversen Archiven (u.a. Militärarchiv Freiburg, Bundesarchiv in Koblenz) auf bislang unbeachtete oder unbekannte Dokumente aus der Nazi-Zeit gestoßen, die Rückschlüsse auf enormen Drogenkonsum zulassen.

Rauschgifte waren nicht nur unter NS-Größen verbreitet, sondern auch beim Volk und den Soldaten. Sie alle kamen ganz legal an Mittel, die heute unter Bezeichnungen wie Crystal Meth existieren. Damals hieß der Stoff Pervitin. Die methamphetaminhaltigen Substanzen wirkten leistungssteigernd, hellten die Stimmung auf, verringerten das Schlafbedürfnis drastisch und förderten schließlich auch die Libido.

ohlerJanusköpfige Haltung

Wer nicht so sehr auf Pillen stand, der konnte auch Pralinen kaufen, in denen Süßes mit sinnestäuschenden Mitteln vermengt war. Die damaligen Temmler-Werke in Berlin brachten das Mittel auf den Markt und das neue Produkt fand reißenden Absatz.

Dass das Regime den Konsum nicht nur duldete, sondern sogar noch forcierte, steht jedoch, wie der Autor hervorhebt, im vollkommenen Gegensatz zum NS-System. Drogen waren (eigentlich) verboten, 1936 führten die Nazis eine reichsweite Drogenpolizei ein und Süchtige selbst wurden inhaftiert, viele von ihnen ermordet.

Zu den Erklärungsversuchen des Verfassers für diese janusköpfigen Umgang mit Rauschmitteln gehört der Hinweis auf die Olympischen Spiele 1936 in Berlin, bei denen zahlreiche Sportler durch die Einnahme von Amphetamin Erfolge feierten. Bewusstseinserweiternde Medikamente passen ferner zu einer Zeit und einer Ideologie, die Aufbruchstimmung erzeugen will und sowohl Leistung als auch Stärke propagiert.

Pervitin für Volk und Soldaten

Doch nicht nur das Volk sollte sich mit Pervitin betäuben können, noch wichtiger war den Nazis offenbar, dass schon gleich zu Beginn des Krieges für die Soldaten die Pillen in ausreichenden Mengen vorhanden waren. Das lässt sich aus zahlreichen Belegen und Quellen erschließen. Millionen von Packungen wurden für die Truppen bestellt, wobei das Regime wenige Wochen vor dem Überfall auf die Sowjetunion den Hersteller in die Pflicht nahm. In einem Dokument der Reichsstelle Chemie heißt es, dass die Temmler-Werke für die Sicherung der Fertigung verantwortlich sind – verbunden mit der Notiz, dass das Mittel Pervitin „kriegsentscheidend“ ist.

Norman Ohler führt zahlreiche Situationen an, in denen die Soldaten durch die Einnahme des Mittels ihre Müdigkeit überwanden, auf Schlaf verzichten konnten oder ihre Niedergeschlagenheit überwanden. Es gab beim Heer sogar Erhebungen über die Wirkung des „Schlafbeseitigungsmittels Pervitin“. Dass sich die einfachen Soldaten, aber auch die Führungseliten auf diese Weise aufputschen konnten, stellt Norman Ohler in Beziehung zu den militärischen Erfolgen des Blitzkriegs im Westen. Dass der Feldzug gegen die Sowjetunion zur Niederlage von Stalingrad führen sollte, ließ sich allerdings auch durch noch so sehr gedopte Soldaten nicht verhindern. Vielmehr führten die Allmachtsvorstellungen Hitlers und die daraus resultierenden falschen strategischen Entscheidungen zum Untergang, stellt Ohler heraus.

Auch Hitler war nicht abstinent

Hitler selbst war keineswegs „abstinent“, sein Leibarzt Theodor Morell hatte schon Ende der 30er Jahre damit begonnen, den Patienten A, wie er den Diktator in seinen Aufzeichnungen nennt, mit Pervitin zu versorgen. Doch es blieb nicht nur bei diesem einen Mittel. Vitaminschocker waren da noch eher harmlosere Varianten, denn je länger der Krieg dauerte und je deutlicher klar wurde, dass Deutschland den Krieg verlieren wird, um so stärker wurden auch die Dosierungen weiterer Substanzen wie Kokain oder das Schmerzmittel Eukodal.

Sehr anschaulich beschreibt der Autor, wie sich Hitler immer mehr abkapselt und entsprechend mehr Stimmungsaufheller benötigt. Hitlers Leibarzt charakterisiert der Autor als einen nach Ansehen lechzenden Menschen, dem es gelungen ist, Hitlers Vertrauen zu gewinnen. So stolz er auch darauf ist, so tief erschüttert ist Morell, als ihn der „Führer“ (wenige Tage vor seinem Selbstmord) entlässt. Morell geriet übrigens nach dem Krieg in amerikanische Gefangenschaft und starb 1948.

Neben Hitler kommt auch Reichsfeldmarschall Göring nicht ohne Drogen aus. Als die Alliierten ihn festnehmen, hat er 24000 Tabletten bei sich.

Dass alle diese Substanzen Körper und Geist der Konsumenten schädigen war den Nazis sehr wohl bekannt und es gab in den Reihen von damaligen Wissenschaftlern durchaus kritische Stimmen, die vor ständigem Gebrauch warnten. Norman Ohler ist auf einen Anweisungszettel für die Soldaten gestoßen, wie sie umsichtig mit Pervitin umgehen sollen. Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll dürfte von solchen Ratschlägen kaum etwas gewusst haben, denn er ist, wie Ohler schreibt, als Soldat abhängig geworden.

Um herauszubekommen, welche Wirkung Drogen bei mehrmaliger Einnahme direkt nacheinander haben, gab es in mehreren KZs Menschenversuche. Zum Teil haben die Gefangenen vier Tage lang kein Auge zugetan, sie wurden künstlich wach gehalten.

Norman Ohler stellt klar, dass die gewonnen Erkenntnisse über den Drogenkonsum in der NS-Zeit keineswegs Sensationszwecken dienen, noch die Verbrechen erklären oder gar entschuldigen sollen. Der Autor sieht in den Rauschgiften ein „künstliches Mobilisierungspotenzial“, um das Volk und seine Soldaten bei Laune zu halten. Für den (im November 2015 verstorbenen) Historiker Hans Mommsen, der als Professor vor allem in Bochum lehrte und fürs vorliegende Buch ein Nachwort schrieb, besteht der Erkenntnisgewinn Ohlers unter anderem darin, dass die von den Nazis propagierte idealistische Motivation stark relativiert werde.

Norman Ohler: „Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich“. Mit einem Nachwort von Hans Mommsen. Kiepenheuer & Witsch. 364 Seiten, 19,99 Euro.




Hitler als Liebling der Medien: „Er ist wieder da“ im Westfälischen Landestheater

Der Gedanke ist zugegebenermaßen ziemlich absurd, aber als Phantasiespiel nicht ohne Reiz: Wie wäre es, wenn Hitler wieder auftauchte? Wenn er nach 70jährigem Dornröschenschlaf in einer deutschen Gegenwart erwachte, in der es türkische Zeitungen und Comedians gibt und niemand Respekt vor dem Führer hat? Der Autor Timur Vermes hat dieses Spiel vor einigen Jahren in seinem Romanerstling „Er ist wieder da“ gewagt. Jetzt hat das Westfälische Landestheater in der Regie von Gert Becker daraus ein vorwiegend vergnügliches Bühnenstück gemacht und in Castrop-Rauxel uraufgeführt.

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In Pose: Guido Thurk als Hitler 1 (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Der Zeitungshändler, bei dem dieser merkwürdige Bärtchenträger in seiner abgeranzten, nach Benzin stinkenden braunen Uniform auftaucht, hält ihn für einen Comedian, für einen genialen Hitler-Imitator, der nie aus der Rolle fällt. Er vermittelt ihn an die Agentur „Flashlight“, und eine steile Karriere nimmt ihren Lauf. Jede Woche ist Hitler im Fernsehen zu sehen, seine Klickzahlen im Netz sind atemberaubend, „Youtube-Hitler – Fans feiern seine Hetze“ titelt die Zeitung mit den ganz großen Buchstaben. Bald schon erhält er (Achtung! Satire!) den Grimme-Preis, seit Loriot war kein Humorist so beliebt wie Adolf Hitler.

Und es bleibt nicht bei den im sattsam bekannten martialischen „Führer“-Duktus gehaltenen Reden. Wenn Hitler das NPD-Büro in Köpenick aufsucht und den Vorsitzenden wegen unvölkischer Gesinnung und einem indiskutablen Bekenntnis zur Demokratie vor laufender Kamera zusammenstaucht, feiert das Volk der Medienkonsumenten dies als Protestaktion gegen Rechts; und als er schließlich von Neonazis beschimpft und zusammengeschlagen wird, fliegen ihm endgültig die Herzen der Menschen zu. Es wird Zeit, das gut zweistündige Stück mit seinen monströsen Hitler-Phantasien zu beenden, was nun dankenswerterweise auch recht abrupt geschieht.

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Hitler 1 (Guido Thurk, links) und Hitler 2 (Burghard Braun). (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Doch das mulmige Gefühl, das sich trotz der zahlreichen eingebauten Lacher schleichend einstellte, will nach der letzten Szene nicht recht weichen. Vieles von dem, was Timur Vermes erzählt, könnte sich tatsächlich so abspielen in der Mechanik unserer stets gebannt auf Quote und Umsatz starrenden Medienwelt. Oder spielt es sich, die Frage steht im Raum, nicht auch so schon ab? Gibt es nicht längst schon diese Stars in Comedy und Talkshows, die reden dürfen, wie immer sie wollen, so lange sie nur Quote bringen, von Mario Barth bis Harald Schmidt?

Gewiss, das Grauen über den millionenfachen rassistischen Mord der Nazis und ihres „Führers“ findet in der Inszenierung seinen Platz, was auch zwingend sein muss. Gleichwohl hat Vermes’ Hitler, der darauf besteht, wirklich Hitler zu heißen und Hitler so gut nachmachen kann, dass man glaubt, er wäre Hitler, mit der historischen Person wenig zu tun. Er wird gezeichnet als komische Figur, als Sonderling mit Realitätsverlust, von dem keine politische Gefahr ausgeht. Es sei denn, skrupellose Rampensäue übernähmen die Macht. So wie vor mehr als 80 Jahren? Es zählt fraglos zu den Qualitäten dieser wüsten Geschichte, dass sie ihr Publikum wiederholt und scheinbar spielerisch auf die zentralen Fragen stößt, die die Nazi-Zeit uns hinterlassen hat: Wie konnte es dazu kommen und wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?

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Ein respektloser Zeitungshändler (Bülent Özdil, links), zwei Hitler. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Die Inszenierung leugnet nicht, dass sie vom Buch abstammt, und besetzt den Hitler doppelt. Guido Thurk ist Hitler 1, der die braune Uniform trägt und in den Szenen mitspielt. Burghard Braun hingegen trägt zivil, ist Hitler 2 und spricht verbindende Texte zwischen den Szenen, irritierenderweise in der Vergangenheitsform. Von welchem historischen Punkt aus blickt er zurück, könnte man sich fragen. Thurk grimassiert und rollt die Augen, Braun pflegt die beherrschte Pose, beides kennt man vom historischen Vorbild. Und beide Schauspieler sind famose „Führer“-Darsteller. In zahlreichen weiteren Rollen sind Julia Gutjahr, Samira Hempel, Vesna Buljevic, Thomas Tiberius Meikl, Bülent Özdil und Thomas Zimmer zu sehen, die einige Male stärker überspielen, als für dieses Stück nötig wäre.

Elke König schließlich schuf das Bühnenbild, eine erkennbar aus Holz gefertigte Betonlandschaft mit Türen, Rampe und Tisch. Nur in einer Nische erfährt es ab und an Veränderungen, die zu den Szenen passen. Mal taucht hier eine der vielen „Spiegel“-Titelseiten mit Hitler-Titelgeschichte auf, mal der Tramp Charlie Chaplin, der die Albernheit des „Führer“-Gehabes zu dessen Lebzeiten schon unübertrefflich entlarvte und für Menschlichkeit warb. Die konzentrierte Ausstattung ruft ins Bewusstsein, dass dieses Theater oft auf Reisen geht und dafür kompakte Kulissen braucht. Die nächsten Stationen dieser Produktion sind Rheine, Bocholt und Hamm.

Viel herzlicher Applaus für Darsteller und Inszenierung.

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Termine: 5.2.2015, 19.30h Rheine, Stadthalle
6.2.2015, 20.00h Bocholt, Städtisches Bühnenhaus
13.2.2015, 19.30h Hamm, Kurhaus
14.2.2015, 19.30h Witten, Saalbau
18.2.2015, 20.00h, Lünen, Heinz-Hilpert-Theater
14.3.2015, 19.30h Sulingen, Stadttheater im Gymnasium
14.4.2015, 19.30h Bottrop, Josef-Albers-Gymnasium.

Ticket-Hotline 02305 / 9780 20

www.westfaelisches-landestheater.de




Heute vor 75 Jahren: Hitler kündigte den Angriff auf Frankreich und England an

„Mein Entschluss ist unabänderlich. Ich werde Frankreich und England angreifen zum günstigsten und schnellsten Zeitpunkt.“ Mit diesen Worten kündigte Adolf Hitler heute vor 75 Jahren, am 23. November 1939, in einer Ansprache vor den Oberbefehlshabern der Deutschen Wehrmacht den bevorstehenden sogenannten „Westfeldzug“ an. Der später so bezeichnete „Zweite Weltkrieg“ bekam damit eine ganz neue Dimension.

Auch auf der Avenue des Champs-Elysee marschierte ab 1940 die Deutsche Wehrmacht. (Foto von 2014/Hans H. Pöpsel)

Auch auf der Avenue des Champs-Elysee marschierte ab 1940 die Deutsche Wehrmacht. (Foto von 2014/Hans H. Pöpsel)

Hitler begründete den geplanten Überfall mit dem schon im Osten benutzten Argument: „Die steigende Volkszahl erforderte größeren Lebensraum…Hier muss der Kampf einsetzen.“ Bereíts am 1. September 1939 hatte die Wehrmacht Polen überfallen, und deshalb erklärten dessen Schutzmächte Groß-Britannien und Frankreich zwei Tage später dem Deutschen Reich den Krieg. Weil Hitler von der Überlegenheit der Wehrmacht und der deutschen Rüstungsindustrie überzeugt war, schmiedete er nun seine Angriffspläne in Richtung Frankreich.

Am 10. Mai 1940 begann dann der sogenannte Westfeldzug mit dem militärischen Überfall auf Belgien, Luxenburg und die Niederlande und deren Besetzung. Gut drei Wochen später begann am 5. Juni der Angriff auf Frankreich, das tatsächlich dem schnellen Vorrücken der deutschen Truppen wenig Widerstand leisten konnte.

Bereits am 4. Juni besetzte die Wehrmacht Frankreichs Hauptstadt Paris, aus der sich die noch vorhandenen Teile der französische Armee zuvor zurückgezogen hatten. Am 22. Juni 1940 unterzeichneten in Compiegne die Vertreter des französischen Militärs und der Staatsführung das Waffenstillstandsabkommens – im selben Eisenbahnwaggon, in dem 1918 Deutschland hatte kapitulieren müssen. Die Dritte Französische Republik war damit beendet, Marshall Petain verlegte seine Rest-Regierung nach Vichy.

Gut vier Jahre später, Ende Augsut 1944, begann mit der „Operation Overlord“ die Befreiung von Paris, nachdem bereits im Juni alliierte Truppen in der Normandie gelandet und in den Wochen darauf gegen die Hauptstadt vorgerückt waren. Mit einem Generalstreik in der Stadt und Angriffen der Widerstandskämpfer begann die Befreiungsaktion, die nur deshalb ohne große Schäden und Opfer gelang, weil der deutsche Stadtkommandant Dietrich von Choltitz am 25. August gegen den ausdrücklichen Befehl Hitlers kampflos kapitulierte. Der hatte nämlich verlangt, eher ein „Trümmerfeld“ zu hinterlassen als zu kapitulieren.

So also erlangte Frankreich seine Freiheit zurück, Paris war in doppeltem Sinne gerettet, und die Touristen aus aller Welt können sich auch heute noch an den herausragenden Bauwerken in der Stadt an der Seine erfreuen.




Politiker mit Widersprüchen: Buch lenkt den Blick auf die menschliche Seite von Willy Brandt

Die Willy-Welle schwappt durch das Land, unter anderem Spiegel, Stern und Zeit haben ihm ausführliche Rückblenden gewidmet. Der 100. Geburtstag von Willy Brandt am 18. Dezember ist auch der Anlass für die Neuauflage der Biographie von Gregor Schöllgen.

„Eine Annäherung“ wäre für das Buch des renommierten Professors für Neuere Geschichte an der Uni Erlangen wohl der treffende Untertitel, schaut der Autor doch vor allem auf den Menschen Willy Brandt mit allen seinen Widersprüchen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Schöllgen, der den Nachlass des Friedensnobelpreisträgers von 1971 mitherausgegeben hat, legt hier keine Homestory vor. Er zeichnet vielmehr den Lebensweg des langjährigen SPD-Politikers nach, einen Weg, auf dem Siege und Niederlagen, Höhen und Tiefen meist ganz nah beieinander lagen.

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Dabei war es wohl, wenn man den Ausführungen Schöllgens folgt, die menschliche Seite Brandts (der durchaus das Leben zu genießen wusste), die zu seiner Popularität maßgeblich beitrug. Aber es war auch die Achillesferse. Sehr deutlich arbeitet der Geschichtswissenschaftler heraus, dass Brandts Rücktritt 1974 keine zwingende Konsequenz aus der Guillaume-Affäre darstellte, sondern der Kanzler politisch müde, gesundheitlich angeschlagen und von Gegnern bedrängt das Amt aufgab.

Intimfeind Herbert Wehner

So sehr der Intimfeind, SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, an Brandts Sturz mitgewirkt haben mag, so kann man aber auch nicht übersehen, wie massiv den Sozialdemokraten die Strapazen, die die Aufgaben als Regierungschef mit sich brachten, und die ständigen Quengeleien in Fraktion und Koalition ihm zugesetzt hatten. Schöllgens Schilderungen lassen das Bild vom allzu schnell verglühten Stern am Polithimmel aufkommen, der mit dem zweiten Wahlsieg 1972 eigentlich schon seinen Zenit überschritten hatte.

Ein neuer Stil, weltoffen, modern und diskussionsfreudig, hatte mit ihm und seiner Frau Rut Einzug gehalten in das politische Bonn Ende der 60er Jahre. Trotz des positiven Echos, das dem Paar gegönnt war, ist Brandt selbst aber nie wirklich in Bonn heimisch geworden.

Sehnsucht nach Berlin

Mit Wehmut dachte er häufig an die Zeit als Regierender Bürgermeister von Berlin zurück, wo er sich eins fühlte mit der Bevölkerung und diese ihn hochachtete. In der geteilten Stadt gründete sich eine Popularität nicht zuletzt auf sein Verhalten beim Mauerbau. Er stand zu den Berlinern, als diese sich von Kanzler Adenauer und den Westmächten im Stich gelassen fühlten. Neue Pfade hatte Brandt aber auch in Berlin beschritten. Er setzte auf eine vorwärtsgewandte SPD, die sich zum einen mit den Realitäten des geteilten Deutschlands abfinden und zum anderen nicht mehr nur als Arbeiterpartei verstehen sollte. Seine Wahlkämpfe waren von Anleihen in der amerikanischen Politik geprägt, gezielt wusste er sein Familienleben in Szene zu setzen und für seine Zwecke zu nutzen.

Jemand wie Brandt reizte folglich zum Widerspruch – auch und gerade in den eigenen Reihen. Die Stärke des Buches liegt vor allem darin, diese Konfliktlinien sehr deutlich herauszuarbeiten. Die Partei wusste, was sie an ihm hatte, und für ihn, der nach heutigen Maßstäben in einer Patchwork-Familie aufwuchs, erfüllte die Partei eine Ersatzfunktion familiärer Art. Sein Redetalent, seine Schreibbegabung (als gelernter Journalist), seine Fähigkeit, „mit Menschen zu können“, brachten ihm viele Sympathien und anfänglich auch den Rückhalt von Wehner ein, der immer mehr von ihm ließ, als vermeintliche Schwächen sich bemerkbar machten. Zu einer echten Versöhnung sollte es auch später nicht mehr kommen, anders beim innerparteilichen Kontrahenten Helmut Schmidt, mit dem er sich in den letzten Lebensjahren zumindest aussprach.

Schwieriges Verhältnis zur SPD

Das Verhältnis zwischen Brandt und der SPD war längst nicht durchgängig entspannt. Beispielhaft steht dafür die Haltung des Vorsitzenden zum Nato-Doppelbeschluss und die Proteste Anfang der 80er Jahre.
Partei hin oder her, sind mit dem Namen Willy Brandt aber nicht viel mehr Ereignisse wie der Kniefall von Warschau, der Tag von Erfurt oder sein Slogan „Mehr Demokratie wagen“ verbunden? Wo bleiben sein Engagement als Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen oder der Nord-Süd-Kommission? Das alles sind, daran lässt Schöllgen keinen Zweifel aufkommen, Marksteine im politischen wie auch persönlichen Leben des Sozialdemokraten.

Wer Brandt aber verstehen möchte, der muss seinen Werdegang von Beginn an nachvollziehen. Dazu gehört die kleinbürgerliche Welt in der Geburtsstadt Lübeck, was keineswegs despektierlich zu verstehen ist, dazu gehört vor allem auch sein Exil in Norwegen und Schweden, als er vor den Nazis flüchtete. Die Jahre sollten Stoff liefern für Diffamierungen und Verleumdungen, unter anderem machte man ihm zum Vorwurf, mit der Sowjetunion kollaboriert zu haben. Verbindungen hätten zwar in Ansätzen existiert, aber nach dem Überfall Hitlers auf die UdSSR sei er da keineswegs allein gewesen, unterstreicht der Autor. Die immer wiederkehrenden Anwürfe gegen den Sozialdemokraten lassen nach den Worten von Schöllgen vor allem übersehen, dass Brandt sich politisch gegen die Nazis engagierte und der Widerstand in Deutschland sehr wohl den Kontakt zu ihm gesucht habe.

Frauengeschichten nur Nebensache

Widersacher, die ihm das Leben schwer machen, hat Brandt zur Genüge erlebt, doch auch er wusste auszuteilen, beispielsweise, als die Teilung Deutschlands überwunden war. Von Oskar Lafontaine, den er zunächst protegierte, wandte er sich enttäuscht ab, als der die Einheit Deutschlands mit großer Skepsis betrachtete.

Ist Brandts Biographie eigentlich unvollständig erzählt, wenn man die Frauengeschichten weglassen würde? Wurden sie ihm nur angedichtet, um ihn zu Fall zu bringen? Schöllgen stellt hier eher Aussage gegen Aussage und lenkt, und da ist man als Leser auch nicht befremdet, den Blick auf die Lebensleistung des Sozialdemokraten.

Sein eigenes Leben hat Willy Brandt vor allem durch Schreiben verarbeitet und so viele Bücher veröffentlicht wie kaum ein anderer Politiker des 20. Jahrhunderts. Es wurde aber auch über kaum einen anderen so viel geschrieben wie über den Mann, mit dem die SPD erstmals einen Kanzler stellte, der zwei Mal in dieses Amt gewählt wurde, der drei Mal verheiratet und Vater von vier Kindern war. Schöllgen gibt einen Überblick über die Literatur und ordnet sie ein – auch das ist eine lesenswerte Orientierungshilfe.

Gregor Schöllgen: „Willy Brandt. Die Biographie“. Berlin Verlag. 336 Seiten. 19,99 Euro.




Kennedys frühe Deutschland-Reisen: Seine Berlin-Rede hatte eine lange Vorgeschichte

Der Besuch von US-Präsident Barack Obama ruft nicht nur Erinnerungen an den legendären Auftritt von John F. Kennedy wach, dessen Aufenthalt in Berlin sich in diesen Tagen zum 50. Mal jährt. Er bietet auch einmal mehr Anlass, die Rede des damaligen Hoffnungsträgers historisch einzuordnen und zu analysieren.

Dass die vier Worte „Ich bin ein Berliner“, mit denen Kennedy Geschichte schrieb, mehr waren als nur ein momentaner oder spontaner Ausdruck von Solidarität mit den Menschen in der geteilten Stadt, versucht Oliver Lubrich in seinem neuen Buch dem Leser nahezulegen. Es handelte sich, so betont der Professor für Neue deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Uni Bern, wahrlich nicht um den ersten Besuch von JFK in Deutschland, sondern Kennedy hatte während seiner Reisen in den 30er und 40er Jahren eine ganze Reihe von Eindrücken gesammelt. Diese spiegeln sich in Briefen und Tagebüchern wider, die nach Aussage von Lubrich jetzt erstmals vollständig in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden.

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Wer allerdings nun auf ausführliche und weitreichende Betrachtungen über Deutschland, den Krieg, Nazi-Regime und Wiederaufbau hofft, der wird den aufwändig gestalteten Band wohl eher enttäuscht zur Seite legen. Kennedy berichtet zwar über seine drei Reisen in den Jahren 1937, 1939 und 1945, doch insgesamt betrachtet, sind es nur wenige Passagen und die mitunter auch noch in knappen, kurzen Sätzen. Gleichwohl sollte Kennedy mit einigen Einschätzungen und Prognosen richtig liegen, wie es Herausgeber Lubrich in seinen ausführlichen Erläuterungen hervorhebt. Gleichwohl sind auch Aussagen zu finden, die irritierend wirken.

Kennedys erste Begegnung mit Deutschland, ein Jahr nach den Olympischen Spielen in Berlin, war Teil einer Europareise, die ihn unter anderem nach Oberammergau, München und Köln führte. Gemeinsam mit einem Studienfreund unternahm er wohl vor allem auf Geheiß des ehrgeizigen Vaters Joseph P. Kennedy die Tour durch Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland. Tiefgreifende politische Betrachtungen sucht man hier vergebens, bis auf wenige und dann auch eher schwierige Passagen. Nachdem er seinen Herbergsbesitzer als „großen Hitler-Fan“ bezeichnet hat, schlussfolgert er: „Es besteht kein Zweifel, dass diese Diktatoren im eigenen Land aufgrund ihrer wirkungsvollen Propaganda beliebter sind als außerhalb“. Munter erzählt JFK von weiblichen Bekanntschaften und vom Besuch im Nachtclub. Doch zum Tagesablauf des Katholiken gehörten nicht nur amouröse Abenteuer, sondern auch ein klar strukturiertes Kulturprogramm. Beindruckt war er unter anderem vom Kölner Dom, „Glanzstück der gotischen Architektur“.

Als sich Kennedy zwei Jahre später erneut auf den Weg über den großen Teich macht, hat er zunächst einmal das Ziel, für seine Abschlussarbeit an der Harvard-Universität zu forschen. Das Münchner Abkommen von 1938 lieferte die Blaupause, will sich doch JFK, dessen Vater inzwischen zum amerikanischen Botschafter in Großbritannien ernannt worden ist, mit der Nachgiebigkeit der Demokratien befassen. Kurz vor Kriegsbeginn weilt er unter anderem in München, Berlin, Danzig und Warschau. Seine politischen Reflexionen sind inzwischen aber weit intensiver als noch beim Besuch 1937, wie aus einem Brief an den Freund, mit dem er die erste Deutschlandtour unternahm, hervorgeht. Kennedy gibt seiner Sorge Ausdruck, dass das NS-Regime Polen in die Rolle des Aggressors drängen könnte. Und tatsächlich: Beim Einmarsch am 1. September 1939 bezichtigt die NS-Propaganda den polnischen Staat unter anderem, den Sender Gleiwitz überfallen zu haben.

Beim dritten Besuch ist der Krieg vorbei, Kennedy arbeitet als Journalist für den Medienunternehmer Hearst und hat Gelegenheit, die Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) aus nächster Nähe zu erleben und Hitlers Berghof auf dem Obersalzberg zu besuchen. Er schreibt aber nicht nur seine politischen Einschätzungen nieder, wie etwa, dass die Russen wohl in Deutschland eine eigene Sowjetrepublik gründen wollen, er berichtet auch über die Eindrücke aus dem völlig zerstörten Berlin. „In manchen Straßen ist der Gestank der Leichen überwältigend- süßlich und ekelerregend“. Besonders geißelt Kennedy, dass russische Soldaten in großer Zahl deutsche Frauen vergewaltigen. Überhaupt sei der Umgang der Sowjetarmee mit der deutschen Bevölkerung so, „wie es die Propaganda vorhergesagt hatte“.

Verstörend wirken indes die Sätze Kennedys ganz am Ende seines Berichts, als er noch einmal auf Hitler zu sprechen kommt. „Sein grenzenloser Ehrgeiz für sein Land“ hätten ihn zwar zur Bedrohung für den Weltfrieden gemacht, aber „er hatte etwas Geheimnisvolles“. Es sei, so meint Kennedy, „der Stoff, aus dem Legenden sind.“ Der Herausgeber des Buches liefert für die Worte eine Erklärung, über die jeder Leser selbst urteilen sollte: Die Aufzeichnungen seien im Eindruck des Obersalzbergs entstanden und damit vor einer überwältigenden Naturkulisse…

Festhalten lässt sich gewiss, dass Kennedy schon bei seiner ersten Reise von der Schönheit deutscher Landschaften und Städte als auch von dem Leben der Menschen angetan war, wie es seine Aufzeichnungen bezeugen. Wahrscheinlich lässt sich mit dieser Begeisterung auch die kleine Episode erklären, mit der Kennedys Besuch 1963 in Deutschland endete. Im Gespräch mit dem damaligen Kanzler Konrad Adenauer kommt die Sprache auf die politische Großwetterlage und die schwierigen internationalen Bedingungen in Zeiten des Kalten Krieges. Kennedy erzählt nun das, was er am Vorabend bereits dem hessischen Ministerpräsident gesagt hatte. Seinem Nachfolger, also dem nächsten US-Präsidenten, werde er eine Mitteilung hinterlassen mit der Aufschrift „Bei Mutlosigkeit öffnen“. Darin stehen, so Kennedy, dann nur drei Worte: „Geh nach Deutschland“.

Oliver Lubrich (Hg.): „John F. Kennedy – Unter Deutschen“. Aus dem amerikanischen Englisch von Carina Tessari, mit einem Geleitwort von Egon Bahr. Aufbau-Verlag, 256 Seiten, 22,99 Euro.




Vor acht Jahrzehnten in Ennepetal: Schüsse und Verletzte zur Machtübergabe an Hitler

Am 30. Januar 1933, vor acht Jahrzehnten, machte der alte Soldat und Reichspräsident Hindenburg den Anführer der Nationalsozialisten, Adolf Hitler, zum Reichskanzler. Hindenburg und seine rechtsnationalen Freunde glaubten, diese Meute im Griff zu haben, doch in Wirklichkeit bedeutete die Machtübergabe den Beginn der schlimmsten Diktatur der europäischen Geschichte.

Hitler und Hindenburg in Potsdam.

Hitler und Hindenburg in Potsdam.

Im ganzen deutschen Reich wurde noch am Abend des 30. Januar der Machtwechsel mit Fackelzügen gefeiert. Aber auch Gegner der von diesen damals schon so bezeichneten „Hitler-Papen-Diktatur“ waren noch aktiv, wie das Beispiel der kleinen Stadt Ennepetal zeigt. Die „Milspe-Voerder Zeitung“ (MV) berichtete am Nachmittag des 31. Januar 1933: „Heute in aller Frühe zog ein Sprechchor durch die Straßen. Vermutlich handelte es sich um Anhänger einer Linkspartei, die Niederrufe auf die neue Regierung Hitler erklingen ließen.“

Die Lage wurde aber dramatischer, als am 2. Februar auch Schusswaffen ins Spiel kamen. Die MV-Zeitung schrieb am Tag danach: „Eine Prügelei entstand gestern Mittag zwischen politischen Gegnern hinter dem Amtsgebäude, wobei ein Anhänger der NSDAP bedrängt wurde und eine Schusswaffe zog, worauf er von der herbeieilenden Polizei in Schutzhaft genommen wurde. Es sammelte sich eine große Menschenmenge an, doch konnte die Polizei im Verein mit dem alarmierten Schwelmer Überfallkommando die Ordnung aufrechterhalten“.

Nicht berichtet wurde in der Zeitung, was sich in den Akten über schwere Unruhen mit drei Schwerverletzten am Tag nach der Machtübergabe in Gevelsberg und Milspe (heute Ennepetal) abspielte: Ein Demonstrationszug mit NSDAP-Anhängern sowie SA- und SS-Leuten hatte sich am Abend des 1. Februar von Gevelsberg aus in Bewegung gesetzt und war in Richtung Milspe gezogen. Gegen 22.40 Uhr kam er in Milspe an und wollte nach links in Richtung Voerde abbiegen. Den Schluss bildete eine SA-Gruppe. „Plötzlich fielen drei Schüsse kurz hintereinander“, heißt es im Polizeiprotokoll. „Die Menge stob auseinander. Die Polizeibeamten, und zwar nur zwei, liefen zurück und fanden ein Gewoge auf der Straße, das sie alleine nicht beherrschen konnten.“ Drei Verletzte wurden sofort in eine benachbarte Arztpraxis geschleppt. Weil sich vor Ort nicht habe klären lassen, ob die Schüsse aus dem Zug heraus oder vom Publikum am Straßenrand ausgegangen seien, „konnten irgendwelche Ermittlungsmaßnahmen nicht getroffen werden“, heißt es in den Akten. Jedenfalls wurden der Sozialdemokrat Thomas Drabent, der christliche Arbeiter Karl Grothe und der Kommunist Hermann Schott durch Schüsse schwer verwundet.

Am Tag danach kursierte ein Flugblatt: „Arbeiterblut floss in Milspe! Das ist der Auftakt der Hitler-Papen-Diktatur! Die SA räumt mit der Pistole in der Hand die Straße“. Eine für den Nachmittag angekündigte Demonstration der KPD gegen „die braunen Mordbanden“ wurde von der Polizei jedoch verboten. Die NSDAP erklärte in einem Brief an die Zeitung unter der Überschrift „Kommunistische Mordhetze fordert drei Opfer“, dass „die zaghafte Behandlung dieses … verführten Untermenschentums ein Ende haben muss.“ Wenige Wochen später wurden die Gemeinderatsmitglieder der KPD und einige Sozialdemokraten verhaftet, die NSDAP sicherte sich auch vor Ort die Macht.

 




Das Ruhrgebiet war gegen Nazis nicht immun: Schon 1932 füllte Hitler die Westfalenhalle

Die Neonazis beunruhigen Dortmund – zu Recht. Ein kleiner historischer Abstecher zeigt nämlich, dass das Ruhrgebiet keineswegs immun war gegen die Nazis um Hitler.

Die alte Westfalenhalle (Foto: Stadtárchiv Dortmund)

Vor gut 85 Jahren, Mitte Juni 1926, kam der Anführer der Nationalsozialisten zum ersten Mal ins Ruhrgebiet. Wegen seiner persönlichen Kontakte zu den Hattinger „Parteigenossen“ begann Hitler seine Rundreise in der Stadt Hattingen. Im Lokal „Märker“ traf er sich mit den örtlichen NSDAP-Mitgliedern, und auf der Treppe vor dem Lokal entstand ein Erinnerungsfoto, auf dem zum ersten Mal auch die Mädchengruppe der NSDAP Hattingen zu sehen ist. Anschließend fuhr Hitler weiter nach Bochum, Elberfeld und Essen, wo er jeweils vor großen Versammlungen seine umjubelten Reden hielt. Die Polizei hatte darauf bestanden, dass diese Kundgebungen als „Mitgliederversammlungen“ aufgezogen wurden, was den Ortsgruppen natürlich entgegen kam. An den Eingängen mussten die Zuhörer Personalausweis, den Partei-Mitgliedsausweis und eine Einlasskarte vorzeigen, und dennoch waren die Versammlungen überfüllt. Wer noch nicht Mitglied war, wurde gleich an der Kasse aufgenommen. Allein für Bochum schätzte die Polizei die Teilnehmerzahl im Evangelischen Gemeindehaus auf etwa 1000.

Im März 1932 war Hitler wieder einmal im Ruhrgebiet, und diesmal sprach er in der Westfalenhalle vor mehr als 18.000 begeisterten Anhängern. Es ging um die Reichspräsidentenwahl, in der Hitler später gegen den Amtsinhaber unterlag.

Bei den letzten freien Reichstagswahlen am 6. November 1932 erhielt die NSDAP entgegen ihren Erwartungen „nur“ 33,1 Prozent der Stimmen. Sie verlor reichsweit 34 Mandate, allerdings lagen die Verluste der Nazis im Ruhrgebiet unter dem Reichsdurchschnitt. Es gibt also im Revier keinen Grund, von einer besonderen Resistenz auszugehen.




Attacke auf Hitler-Wachfigur

Kommentar:

Reichlich wirr

Von Bernd Berke

Ganz gleich, ob es nun eine Wette war oder ob wirklich politische Motive mitgespielt haben: Der 41-jährige Mann, der am Samstag der Berliner Wachsfigur von Adolf Hitler den Kopf abgerissen hat, muss ein reichlich wirrer Zeitgenosse sein. Gewiss verbirgt sich auch eine persönliche Misere dahinter.

Niemand kann ernsthaft glauben, dass eine Aktion dieser Sorte irgend etwas am schrecklichen Lauf der Geschichte ändert. Ja, selbst als noch so gut gemeintes antifaschistisches Signal für die Gegenwart taugt diese Handlung nicht. Dazu ist der Vorgang einfach zu lächerlich. Ein Spektakel, das der Berliner Tussauds-Filiale zu allem Überfluss auch noch unfreiwillige Werbung beschert.

Es knüpft sich jedoch eine weitere Frage an den Zwischenfall: Warum muss man überhaupt eine Wachsfigur Hitlers für exorbitante 200 000 Euro anfertigen lassen und sie derart zur Schau stellen? Der bloße Anblick sagt nichts, aber auch gar nichts über die Verbrechen Hitlers aus. Er verniedlicht die Gestalt des NS-Diktators zum Erlebnismoment für Touristen.

Zwar ist es offiziell verboten, sich im Wachsfigurenkabinett neben der Figur fotografieren zu lassen. Doch wer will dies eigentlich verhindern, wenn schon der rabiate Zugriff am Samstag nicht unterbunden werden konnte? Am besten wäre es daher wohl, wenn das beschädigte Stück nicht repariert und nicht mehr gezeigt würde, wenn also künftig eine (vielsagende) Leerstelle bliebe.

Bemerkenswert, dass es auch in Hamburg und London „Hitler in Wachs“ gibt. In der Hansestadt ist seit 48 Jahren nie etwas passiert, die Figur in London wurde hingegen schon mehrfach beschädigt. In Berlin und London wiegt die wahrhaft zwiespältige Symbolwirkung einer solchen Darstellung schwerer als andernorts. Somit ist das Ganze denn doch ein schauriges Lehrstück über die anhaltende, manchmal geradezu unheimliche Kraft des Symbolischen.