Ansichten eines Hörbuchjunkies (8): Der Hundertjährige, bei dem es nie langweilig wird

Jonasson_Jonas_Der_Hundertj_hrige_der_aus_dem_Fenster_stieg_und_verschwandNun kommt das 100-jährige Chaos auch als Film: Jonas Jonassons Erstling, der mich als Hörender platt machte. Das muss ich sehen.

Allan Karlsson soll zum so sehr besonderen Anlass seines 100. Geburtstages ein Fest im Altenheim von Malmköpping gegeben werden, eine Vorstellung, der Allan nur ungern und missvergnügt entgegen sieht. Und so fasst der ungewöhnlich rüstige ältere Herr einen wegweisenden Entschluss. Er öffnet das Fenster seines Altenwohnraumes, zwängt seine Gestalt trotz zugegebenermaßen rostiger Gelenke durch die Öffnung und entweicht in eine ihm fast unbekannt gewordene Freiheit. Wie der Titel schon sagt: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“.

Und dann beginnt eine Handlung, deren Absurdität nur einer übertreffen kann, der Autor Jonas Jonasson selbst, was er auch mit dem Nachfolgewerk „Die Analphabetin, die rechnen konnte“ tat. Doch noch sind wir bei Allan, der seine bewegungsallergische Gestalt hinaus in die nahe Ferne bewegt und an einer Bushaltestelle die erste Begegnung mit menschlichen Wesen der Gegenwart hat. Mit einem jungen Mann, der Allan bittet, mal kurz auf seinen Trolleykoffer aufzupassen, während er sich im WC erleichtern will.

Gutmütig willigt der alte Mann ein, klettert aber, als der Jüngling nicht schnell genug zurückkehrt, in den pünktlich eintreffenden Bus Richtung Strängnäs und entschwindet, mit Koffer und Inhalt, der aus sehr viel Geld besteht, wie sich später herausstellt.

Nun beginnt sich um Allan, während er sich immer weiter vom behaglichen Altenheim entfernt, ein Freundeskreis zu scharen, der seinesgleichen sucht. Es beginnt mit dem 70-jährigen Forstdieb Julius Jonsson, bei dem der gutherzige Kofferdieb einkehrt und alsbald wieder von dem ihn wütend verfolgenden Jüngling eingeholt wird, den die beiden Greise aber ungewollt nach kurzem Kampf einfrieren, weil sie vergessen, die Kühlung im Gefrierraum abzustellen, in den sie den Ganoven, Mitglied einer Rockerbande, einsperren.

Der sich zufällig erweiternde Freudeskreis gewinnt Julius, den Langzeitstudenten, hinzu, den ehemaligen Imbissbudenbesitzer Benny Ljungberg und die einsam auf ihrem Hof lebende Gunilla Björklund, auch „die Schöne Frau“ genannt, die eine aus einem Zoo in Växjö entflohene Elefantendame namens „Sonja“ ständig mit sich führt. Später gesellen sich noch der Rockerbandenchef und der ermittelnde Polizeibeamte dazu, der eine, weil er seinen Kindheitsfreund in der schrillen Gesellschaft wiedertrifft, der andere, weil er die Nase voll hat vom Leben des Beamten.

Zwischen die krassen Ereignisse rund um den wachsenden Kreis irrer Neuzeitgenossen streut Jonasson die Rückblenden auf das lange Greisenleben, vom begabten Jung-Sprengmeister, über den beiläufigen Geistesblitzer, der das Manhattan-Projekt in Los Alamos rettet und zum besten Kumpel von Harry Truman wird, mit Zwischenstation in China, wo er Maos Frau vor den bösartigen Attacken der Chiang Kai-chek-Gattin bewahrt bis zum Gefängnis in Teheran, wo Allan den staatsbesuchenden Churchill von einem fiesen Attentat bewahrt. Ach ja, und Stalin trifft er auch…

Episch breit und nie breit getreten, keine Sekunde langweilig, bunt und schrill wandert die Geschichte durch die Jahrzehnte, geleitet von einem zunächst beschränkt wirkenden Helden, dessen unbedarfte Art ihn stets die direktesten Wege gehen lässt, und der dabei über Brücken läuft, die kein anderer erkennt. Beiläufig zupfen Jonassons Figuren schier allem, was hohen Rang oder historischen Wert hat und an Institutionen, die mehr um ihrer selbst als wegen ihres gesellschaftlichen Gewichts existent gehalten werden, jede erdenkliche Maske der Seriosität ab.

Peter Weis‘ sonores Organ erzählt über 13 Stunden lang, als sei es sein eigenes Leben…

Jonas Jnasson: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“. Gelesen von Peter Weis. 13 Stunden und 25 Minuten. Der Hörverlag.

Kinostart: 20. März 2014 (u. a. Camera und Cinestar (Dortmund) / UCI, Union und Casablanca (Bochum) / Cineworld (Lünen) / Schauburg (Gelsenkirchen) / CinemaxX und Lichtburg (Essen))




Ansichten eines Hörbuchjunkies (7): München tut dem Franz Eberhofer gar nicht gut

Tja, nun hat es auch Franz Eberhofer aus Niederkaltenkirchen bei Landshut d‘erwischt. Der bodenverhaftete Kriminale, der mit dem dörflichen Freundeskreis in engstem Kontakt und dem Birkenberger, Rudi in schier Ehepaar ähnlicher Beziehung komplizierte Fälle löst, die sich Autorin Rita Falk ausgedacht hat, er hat einen klaren Durchhänger. „Sauerkrautkoma“ heißt der fünfte Eberhofer-Krimi, und in ein solches verfiel der Plot des Romans zeitweilig. Kurz: Hätte ich keinen seiner Vorgänger gehört, fände ich das Hörbuch recht unterhaltsam. Da ich aber alle vier dieser Niederkaltenkirchen-bei-Landshut-Saga genussvoll zu mir nahm und mich bisweilen tränenlachend bei meiner gesellschaftlichen Umgebung zum Deppen machte, ist mein heuriges Urteil: Ganz nett, aber diesmal wie alle anderen auch.

Franz Eberhofer, der ja mittlerweile als die Allzweckgeheimwaffe Bayerns im Kampf gegen vor lauter Dummheit nachgerade geniale Rechtsbrecher gilt, wird von der übergeordneten Behörde versetzt. Im heimatlichen Niederkaltenkirchen bei Landshut ist er den hohen Damen und Herren zu schade, er soll München mit seinen ermittlungstechnischen Alleingängen (natürlich gemeinsam mit dem Rudi) zur Gauner freien Zone machen. Daheim wird’s derweil von dem Simmerl (weltbester Metzger und Leberkäs-Bäcker) sein Bub‘ gerichtet.

Und kaum an der Isar, da landet unverhofft eine weibliche Leiche im Kofferraum von dem Papa sein Auto, das zuvor beim Familienbesuch in der Landeshauptstadt vom Parkplatz geklaut worden war. Rätsel über Rätsel, die natürlich vom Franz in gewohnter Weise gelöst werden.

In gewohnter Weise? Na, eben nicht. Der Franz passt nicht nach München. Der kann so was nur in Niederkaltenkirchen bei Landshut. Zu wenig Schrulliges vom kiffenden Papa, zu wenig Köstliches aus der Küche der Oma, die immer nur dann was hört, wenn sie beschlossen hat, das auch zu wollen. Zu wenig vom Freundeskreis (Metzger Simmerl, Wirt Wolfi, Klempner Flötzinger), dafür etwas zuviel von der Susi, die zu ehelichen sich der Franz nun doch entschlossen hat. Na, vielleicht nicht von der Susi, aber von den ganzen Hochzeitsvorbereitungen. Es fehlt dem „Koma“ eindeutig an der Authentizität des bayerischen Dorfes und seiner verrückten Gemeinschaft. Es fehlt dem Münchner Eberhofer eindeutig am anarchischen Ermittlungsgeschehen. Und es fehlt dem Krimi-Plot vollkommen die schräge Note und der „Och-Effekt“, den seine Vorgänger  auszeichneten.

Was ist nur aus der fröhlichen Gesellschaft geworden, die einst die Susi aus Italien zurück holte. Wo sind die verbalen Sticheleien zwischen dem Franz und seinem unfehlbaren Bruder Leopold, dem nun auch noch Eheweib Panida nebst Töchterchen abhanden zu kommen drohen. Wo bleiben die unvergleichlichien Szenen, in denen Franz seine Oma durch die Weltgeschichte kutschieren muss, weil die doch dringend die Sonderangebote des wohnortnahen Einzelhandels einsammeln muss.

Rita Falk ist diesmal arg in den Trott der handelsüblichen Krimi-Autoren gestolpert, was dem fünften Fall nicht gut tat. Aber, ich gebe ja die Hoffnung nicht auf. Der sechste wird hoffentlich kommen, dann erfahre ich sicher, was auch dem kurz vor knapp nun doch nicht verheiratetem Paar geworden ist, das der Lamborghini-Fahrer mit der von ihm entführten Susi anstellt, was Oma zum Trost ihrem Enkel zubereiten wird und woran der Birkenberger Rudi sich beim ermitteln diesmal den Magen verdirbt.

Und vielleicht hat’s den Franz dann auch wieder nach Niederkaltenkirchen bei Landshut zurück verschlagen, denn er ist und bleibt kein rechter Großstadtermittler.




Ansichten eines Hörbuch-Junkies (5): Frank Goosens Liebe zum Revier

Mir wird ja zunehmend klarer, dass es Texte gibt, die nur als Hörbuch wirklich das wiederzugeben in der Lage sind, was ihr Autor aussagen will.

Sie wirken abgestimmt und wohl legiert – vom Verfasser über den Sprecher oder dessen weibliche Entsprechung auf den Hörleser und seine weibliche Entsprechung ein. Sie malen buntfarbige Bilder oder dralldreisten Unfug mit Sprache und Stimme, stellen für mich als ausgewiesen Junkie dieses Genres inzwischen eine eigenständige Kunstgattung dar. Das war schon häufiger der Fall, beispielsweise bei den Eberhofer-Krimis von Rita Falk, deren Würze nicht zuletzt durch das bayerische Idiom des Christian Tramitz schmackhaft wird, oder beim abgedrehten „Er ist wieder da“ von Timur Vermes, in dem Christoph Maria Herbst den „Föhrer“ grandios durch sechs Stunden trompetet, ohne zu albern oder zu ernst dabei zu wirken, so dass die Gratwanderung dieses feinsinnigen Versuches weder plump noch plöd daher kommt.

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Und nun nahm mich Frank Goosens „Sommerfest“ gefangen, weil Frank Goosens Stimme es mir vorlas und ich zunehmend felsenfester überzeugt war, dass nur er, genau er dazu in der Lage war, seinen Text zu sprechen. Denn nur er kann „Tüss“ so sagen, dass es zwar seine hochdeutsch gemeinte Anmutung bewahrt, aber voll nach Revier klingt, oder Klümpchen, den Begriff, den man schon in Köln nicht mehr als revierne Schwester der Kamelle erkennt. Nur er kann unsere Sprache so sprechen, als sei sie eben d a s Kommunikationsinstrument einer Kulturregion, der einzigen, die rund 60 Kilometer Autobahn sperren kann, um den längsten Tisch der Welt mit fröhlich palavernden Menschen zu füllen.

Zugegeben, ganz fein anders klingt es, wenn ein Bochumer spricht, in den Ohren eines Nachbarn, der aus Köln vor Jahrzehnten nach Dortmund einwanderte, also in meinen Ohren. Aber es klingt dennoch wie zuhause, es fühlt sich fast so an, als erzähle er meine Geschichte, weil ich so vieles wiedererkenne. Wie den generationsübergreifenden Zusammenhalt in einer Kleingartensiedlung, die Unterhaltung Erwachsener, während die Brut pöhlt und um die Entdeckung für die zweite Liga kämpft. Oder das Erinnerungsgedusel alter Freunde, die sich in unterschiedlichen Schichten des Bochumer Soziotops wiedertreffen und nachts beschließen, wie früher zu sein, als sie noch jung waren. Oder die Geschichte von der goldenen Schraube, aus Adolf Winkelmanns Film „Jede Menge Kohle“, die mir Adolf so um 1967 einmal erzählte. Kea, das konnte der auf zwei lockere Stunden ausdehnen bis der Gag kam: „Und drehte, und drehte … und dann fiel ihm der Arsch ab!“

Schauspieler Stefan, der aus München angereist ist, um das Elternhaus einem Makler zu übergeben, auf dass der es verkaufe, weil kürzlich der letzte Bewohner dahin schied, ein Nennonkel, der es in Schuss gehalten hatte, nachdem die Eltern gestorben waren, Stefan ist der „Local Heroe“. Was soll er mit einem Haus in Bochum, wenn sein Theater den Vertrag nicht verlängert; wenn er am Montag doch an der Isar Vorsprechen hat, für eine Fernsehserie, die er nicht einmal kennt. „Toto“ Starek, der leicht eindimensionale Handlanger von „Diggo“ Decker, dem gar nicht so dusseligen Grobschlachter, Frank Tenholdt, der gebildete Bewahrer des Industriekultur-Erbes seines einst Kohle kratzenden Vaters, Franks schöne Frau Karin, die mal Stefan geküsst hat und natürlich „Charly“, also Charlotte, die Enkelin des Masurischen Hammers, der „Omma“ Luises (Stefans Omma) ewige Liebe war, aber auch deren unerfüllte. „Charly“, die erste Liebe von Stefan, der er den ersten Kuss seines Lebens gab, die ihn, wenn auch ein einziges Mal beischlafenderweise, aber stets als kleinen Bruder betrachtet hatte, oder? Sie und noch viele mehr begleiten ihn, den Schauspieler, aus München angereist („Muss man dich kennen?“), durch ein langes Wochenende, in dessen Verlauf Stefan nichts von dem geregelt kriegt, was er eigentlich tun wollte. Aber alles, das den Willen zur Lebensumkehr bei ihm auslöst.

Anka, die Freundin im fernen München, verliert sich, ebenso wie dieses immer fremder werdende München. Bisweilen tölpelt der ewige Ruhri aus Stefan heraus, bisweilen sehnt er sich selbst angesichts der pöbelnden Ruhris aus seiner wiedererkannten Jugend an die Isar zurück, das aber immer seltener. „Was soll ich denn hier?“ heißt es einmal hilflos aus Stefans Mund. „Was sollst du woanders?“ lautet die Entgegnung der „Charly“-Charlotte. Dafür merkt man ihm und dem Erzähler Frank Goosen an, wie der Held mit jeder Begegnung und jeder Erweckung von Erinnerung immer mehr am Heimweh l e i d e t und die Gegenwehr nachlässt, wenn er wieder einmal innerlich feststellt, dass „Totto“ blöd ist, Frank Tenholdt ein Spinner, „Diggo“ Decker das Urbild des Revier-Prolls und … ach „Charly“.

Da ich noch vielen anderen gönne, die wunderschönen Stücke zu genießen, lasse ich es mal dabei und empfehle jedermensch, sich anzuhören, was Frank Goosen seinen Leuten daheim und Fliehenden – in welche Himmelsrichtung auch immer – an die Hand gibt. Dass jeder und jede dahin gehört, wo er/sie sich am wohlsten fühlt, und das ist bei uns, ist doch klar. Stefans Koffer fährt allein nach München zurück, die Bahn nimmt ihn mit, aus der Stefan im letzten Moment noch springt, um doch noch bei „Charly“ nachzufragen, ob sie gemeinsam was machen, so etwa Theater in der alten Kneipe vom Masurischen Hammer, „Omma Luises“ ewige Liebe. Im Koffer ist auch der Schlüssel zum Elternhaus, das er immer noch nicht verkauft hat. Tja, und wie es ausgeht, das erzählt Frank Goosen noch, aber nicht, wie es weiter geht mit dem Hinterzimmertheater und allen anderen Plänen, mit den „Tottos“, Diggos“, mit Frank und seiner untreuen Karin. Aber das können wir uns ausdenken.

Frank Goosen (Autor und Vorleser): „Sommerfest“. Hörbuch (6 CDs / 425 Minuten) im Verlag Roof Music; Tacheles! Ca. 22 €