Durst-Erlebnis zwischen Lippe und Glasesrand – Luigi Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auf der Bühne sieht’s ja aus wie in einem Speditionslager. Für Luigi Pirandellos modernen Klassiker „Sechs Personen suchen einen Autor“ (Regie: Paolo Magelli – Bühne: Jean Bauer) hat man in Wuppertal allerlei Gerümpel aus dem Möbel-Fundus in die Szenerie gestellt. Das Theater handelt von sich selbst und führt seine Mittel vor, auch die angestaubten.

In eine Schauspielprobe platzen jene sechs Personen, ein loser Verbund mit skandalös-inzestuöser und selbstmörderischer Vorgeschichte. Irgendein Schriftsteller, dem diese Figuren eingefallen sind, hat sie nicht ins Bühnenleben entlassen wollen. Nun geistern sie herum und wollen ihr Drama auf eigene Faust dem Theater andienen.

Der unnachgiebige Zergliederer Pirandello zeigt das Skelett eines möglichen, jedoch immer wieder in Frage gestellten und letztlich verweigerten Stückes. Im Spiegelkabinett von Schein und Sein glimmt alsbald die betrübliche Erkenntnis auf: Das Leben kann es nicht mit dem Theater aufnehmen, weil es nicht zur fest umrissenen Form findet; und das Theater kann sich erst recht nicht mit dem wahren Leben anlegen, weil es den eigentlich ungestalteten Rohstoff zu sehr auf konstruierten Sinn und Wirkung hin stilisiert.

Kompliziert genug: Schauspieler stellen auf der Bühne eine Handvoll typisierter Schauspieler (Diva, Trottel, Naivchen, Zampano) dar, andere Schauspieler die Gruppe der gespenstischen Lebe-Wesen. Ein Theaterdirektor (Nikolaus Kinsky) versucht das Chaos zu regieren, was sich doch dem künstlerischen Zugriff hartnäckig entzieht.

Für die Zuschauer ist’s ein ständiges Durst-Erlebnis zwischen Lippe und Glasesrand. So trocken kann Theater sich geben, wenn es seine eigenen Grundlagen untersucht, statt buchstäblich wie ums Leben zu spielen, spielen, spielen.

Doch so ausgedörrt wie in Wuppertal müßte es nicht sein. Schon die Eingangsszene, wenn die Schauspieler zur Probe hereinschlendern, wäre gewiß plastischer und auch komischer zu haben. Allem erkennbaren Bemühen und Vermögen der Schauspieler zum Trotz, wirkt das „Geschehen“ (wenn man es denn beherzt so nennen will) über weite Passagen diffus, gelegentlich auch konfus. Es ist aber auch unmenschlich schwer, einen Text zu spielen, der ganz bewußt immerzu kurz vor der Stück-Werdung innehält.

Friederike Tiefenbacher in der Rolle der Stieftochter, die als Hure im Hinterzimmer eines Hutsalons dem Vater (Horst Fassel) als Kunden begegnet, trifft die richtige Melange zwischen lasziver Verdorbenheit und verletzter Tugend. Wenn das Schauspieler-Trüppchen ihre und die weiteren Tragödien nachzustellen sucht, rutscht man freilich – gegen den ausdrücklichen Willen von Signore Luigi Pirandello – zu sehr ins Parodistische ab. Aus der doch so fragilen Bordellszene wird da nahezu ein gestisch angedeuteter Brutalporno. Eine Selbstkritik des Theaters, das heutzutage manchmal mit Schock-Effekten die Leute locken will?

Es gibt aber auch frappierende szenische Einfälle. Beispiel: Wenn etwa eine Passage aus lauter gesprochenen Ziffernfolgen (Sie: „21-22?“ – Er: ,,76!“) entwickelt wird, so spürt man einiges vom typisch theatralischen Schwebezustand zwischen verzweifelter Sinnproduktion und zungenfertig vorgetragener Absurdität.

Termine: 15., 17., 18., 19. und 22. Nov. (letzte Vorstellung), jeweils 19.30 Uhr (Karten: Tel. 0202/5634444).




Wenn die Bundeswehr „Gesellschaft“ spielt – Stefan Dähnerts Stück „Herbstball“ uraufgeführt

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein Theaterstück über die Bundeswehr – das tat wirklich not. Bemerkenswert, daß erst jetzt eins auf die Bühne kommt: „Herbstball“, geschrieben vom 25jährigen Stefan Dähnert, wurde am Samstag gleichzeitig in Wuppertal und Köln uraufgeführt.

Dähnert, Sohn eines Offiziers und selbst als „Kasernenkind“ aufgewachsen, verfährt nach erprobter Manier: Jedwede Ideologie läßt sich am besten da entlarven, wo man die Zügel schießen läßt, nämlich im Freizeitbereich. Also führt er uns auf besagten Herbstball im Offizierskasino, wo Alkohol die Zunge löst und die Gegenwart von Damen auch das „Thema Nummer eins“ ins Spiel bringt.

Bei dieser Festivität kann es natürlich nicht so subtil abgezirkelt zugehen wie etwa im Paare-Passanten-Reigen von Botho Strauß‘ „Trilogie des Wiedersehens“. Dähnerts Militär-Party ist schrill, grell und grotesk; am Ende des zweiten Teils rinnen gar Urin und Erbrochenes über die verheerend zugerichtete Bühne. Die stetige Steigerung des „Säuischen“ bleibt aber eine der wenigen „Entwicklungslinien“ in diesem Stück, das seltsam unstrukturiert und wie in einem Zug hingeschrieben wirkt. Es fehlen einfach die Spannungsbögen, die den Zuschauer drei Stunden lang in Atem halten könnten. Versuche, diesem Mangel (z. B. durch die Jagd auf einen Deserteur) abzuhelfen, bleiben schüchtern.

Der fast aphoristische, knappe Zugriff scheint hingegen Dähnerts Sache zu sein. Einzelne Passagen, messerscharfe Merksätze manchmal, weisen ihn als unerbittlichen Beobachter und Zuhörer aus. Die besten Szenen hat „Herbstball“ im ersten Teil, wenn noch nicht alles unterschiedslos in der Orgie ersäuft, sondern im geläufigen Party-Plausch die latente Gefàhrlichkeit reaktionärer Gesinnungen und Verhaltensweisen gerade erst durchschimmert. Ganz verkorkst ist aber die Schlußszene, in der ein idyllisches „Heimat-Konzept“ (Rekrut sehnt sich nach der Weinlese) als Gegenbild entworfen wird.

So desolat sieht Dähnert die Bundeswehr: Sie ist schizophren, weil auf etwas wartend, was nicht eintreten soll – auf den Ernstfall nämlich. Und: Sie ist immer noch von der Gesellschaft isoliert, quasi in der Wiederbewaffnungs-Zeit der 50er Jahre steckengeblieben. „Gesellschaft“ wird da eben nur gespielt, am deutlichsten bei Gelegenheiten wie diesem herbstlichen Ball. Gerade der enthüllt aber letztlich den Urgrund aus sexueller Verklemmung, Kampflust und Chaos.

Gastregisseurin Barbara Bilabel hat ein Gespür für Dähnerts grelle Bilder. Sie inszeniert in Wuppertal fast „filmisch“, in Totalen und Nahaufnahmen sozusagen: Sie wechselt zwischen dem Blick auf die ganze Party-Gruppe und intimeren Perspektiven, für die jeweils Einzelfiguren und Paare nach vorn „gezerrt“, vorgeführt und schließlich wieder in die Gruppe „zurückgestoßen“ werden. So wird das Stück wenigstens teilweise gerettet. Das gelungene Bühnenbild (Roger von Moellendorf) zitiert mit Clubsesseln und Bartresen die 50er Jahre.

Unter den Darstellem vor allem zwei, die einem den erforderlichen Schauer über den Rücken jagen: Horst Fassel als Oberst und – neu in Wuppertal – Andreas Peckelsen als Major.




Die Angst des Dorfrichters vor der Revision – Kleists „Zerbrochener Krug“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Der zerbrochene Krug“ steht und fällt – wörtlich wie im übertragenen Sinn – mit dem Dorfrichter Adam. Wird auch nur diese eine Rolle unzureichend besetzt, kann man Kleists Lustspiel-Klassiker, salopp gesagt, „vergessen“.

Ein Glück also, daß die Wuppertaler Bühnen Horst Fassel haben. Er verleiht dem fleischgewordenen Justizskandal, der ausgerechnet am Prüftag des Revisors über seine eigenen Eskapaden zu Gericht sitzen muß, das unabdingbare Komik-Profil, ohne in die Klamotte abzugleiten. Wie Fassel, bis in Haar- und Fingerspitzen elektrisiert, zwischen selbstgefälliger Seligkeit des Nicht-Ertapptseins und flatternder Angst hin und her hastet, ist sehenswert.

Daß Petra Dannenhöfers Inszenierung auf die Hauptfigur bauen muß, zeigt sich gegen Schluß. „Adam“ ist endgültig entlarvt und betritt die Bühne nicht mehr. Was folgt, ist ein langatmiges Aufdröseln nebensächlicher Aspekte. Die Luft ist ‚raus. Hier hätte man, zum Wohle des Stücks, Textkürzungen vornehmen sollen. Außer der Komik arbeitet diese Wuppertaler Einstudierung nur wenig „Überschuß“ heraus. Die herbe Justizkritik Kleists etwa, die das Recht als zwischen vielerlei Interessen relativiert und zerrieben beschreibt, wird eben nur „mitgeliefert“.

Die Darsteller lassen ihre Figuren mit unterschiedlicher Fortune lebendig werden. Während Maria Pichler mit Elan die resolute „Frau Marthe“ gibt und Gregor Höppner („Schreiber Licht“) als junger Ehrgeizling seine Aufgabe löst, bleiben René Schönenberger („Gerichtsrat Walter“) und besonders Sabine Schwanz („Eve“) eher blaß.

Das Bühnenbild Sigrid Greils ist (was die Aufbauten betrifft) zweckmäßig und schlicht. Reichlich herbeigezerrt scheint mir jedoch die Bedeutung zu sein, die dem Bühnenboden beigemessen wird. Vier Keile weisen, abwechselnd rot und blau, ins Zentrum. Sie sind, wie sich erst bei Lektüre des Programmhefts enthüllt, dem Papierfalt-Spiel „Himmel und Hölle“ abgeguckt und sollen offenbar eine optische Entsprechung zum Hin- und Hergerissensein der Handelnden abgeben.




Emigrant gerät in Schweizer „Eiszeit“ – Thomas Hürlimanns Stücvk „Großvater und Halbbruder“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Lag’s an den Osterferien oder befürchtete man, Schwerverdauliches vorgesetzt zu bekommen: Zur Wuppertaler Premiere von Thomas Hürlimanns „Großvater und Halbbruder“ blieb gut die Hälfte des Gestühls im Schauspielhaus unbesetzt.

Zur Aufführung kam das knapp drei Jahre alte Stück eines heute 32jährigen Schweizer Autors, dessen Vater eidgenössischer „Bundesrat“ und als solcher für die Kultur des Alpenlandes ministeriell zuständig ist. Das Stück hat, obwohl während des 2. Weltkriegs spielend, viel mit dem Generationskonflikt zu tun, der sich Anfang der 80er Jahre in der „Zürcher Revolte“ am Mißverhältnis zwischen offizieller und Subkultur entzündete und heftig entlud.

Thomas Hürlimanns Hauptfiguren entstammen dem konkret-familiären Bereich: „Mein Großvater; meine Mutter; mein Vater Hans Hürlimann.“ An Hand dieser privat anmutenden Konstellation zeigt der Autor die historische Dimension der in den 80ern erneut offenbarten Schweizer Gefühls-Eiszeit: Auf einer Badewiese nah der deutschen Grenze verfolgt man den Nervenkitzel des drüben im „Reich“ sich verschärfenden Kriegs wie ein Theaterstück oder ein Prachtfeuerwerk, zwischen Hoffen und Bangen (kommt der insgeheim bewunderte Hitler, oder kommt er nicht in die Schweiz?). Für den Emigranten Alois ist in dieser Welt kein Platz.

Clou: Der Emigrant (Horst Fassel) gibt sich als „Halbbruder Hitlers“ aus, und es hätte dem Text zufolge in der Schwebe zu bleiben, ob er das nicht wirklich sein könnte, oder ob er – wie die Polizei argwöhnt – ein in der „ordentlichen“ Schweiz unerwünschter, aus Deutschland geflüchteter Jude ist. Genau hier liegt die Schwäche der Wuppertaler Inszenierung (Petra Dannenhöfer). Viel zu früh wird Alois eindeutig als Jude kenntlich. Was danach nur noch aufgesetzt wirkt, in voller Tragweite aber fehlt, fehlen muß, ist die Doppeldeutigkeit, aus der sich erst der hellsichtige Wahn (bzw. Durchblick) des „Großvaters“ (Heinz Voss) ergibt, dem (als einzigem) „der Jud'“ zum Problem wird. Alle anderen setzen sich, sei es kraft vorhandener Dummheit, erzeugter Dumpfheit (Suff) oder durch Law-and-Order-Gehabe mit der Souveränität ewiger Spießer darüber hinweg.

Gegen den grundsätzlichen Lapsus läßt es sich schwerlich anspielen. So gut einzelne Schauspielerleistungen sind (besonders: Alexander Pelz als karriereversessener, indirekter Kriegsgewinnler „Vater Hürlimann“, Metin Yenal als spastisch gelähmter „Tötschlivetter“ und Bernd Schäfer als Lehrer „Tasso Birri“), das Spiel als Ganzes bleibt über weite Strecken plan, eingleisig und vielfach schwammig statt aufschlußreich-doppelgesichtig.

Erst die letzten Szenen – nach Kriegsende feiert besinnungslose Schweizer Gemütlichkeit, nunmehr wieder gänzlich unbehelligt, Urständ – erreichen wieder eine gewisse Dichte und Aussagekraft. Gelungen das Bühnenbild (Sigrid Greil) mit lichtblauem Schweizer Postkartenhimmel, der von einer überdimensionalen Rolle herunterhängt, somit treffend kitschige Tapetendekoration.

Trotz eklatanter Mängel: eine im Grundsatz richtige und mutige Entscheidung, dieses Stück auf den Wuppertaler Spielplan zu setzen. Was sich „so fern“ in Schweizer Bergen zuträgt, hat auch Bedeutung für uns, die wir Kriege jenseits unserer Grenzei nur noch am Bildschirm verfolgen. Solche Querverbindungen freilich blieben in Wuppertal allzu nebulös.