„Schlechtes Theater ist mir völlig unerträglich“ – Zum Tod von Bruno Ganz: Erinnerung an ein Gespräch vor 20 Jahren

Bruno Ganz 2011 bi der Filmpremiere von „Satte Farben vor Schwarz" in der Essener „Lichtburg". (Foto: Loui der Colli / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Bruno Ganz 2011 bei der Filmpremiere von „Satte Farben vor Schwarz“ in der Essener „Lichtburg“. (Foto: Loui der Colli / Wikimedia Commons) Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Unermesslicher Verlust fürs Theater und fürs ambitionierte Kino: Der Schauspieler Bruno Ganz ist mit 77 Jahren in Zürich gestorben. Seine Biographie kann man an vielen Stellen nachlesen, so u. a. auch hier. Seit seinen Auftritten in Peter Steins großen Schaubühnen-Inszenierungen der 70er Jahre zählte der Schweizer zur allerersten Garde der Schauspielkunst.

Der vielfach mit Preisen dekorierte Bruno Ganz hat auch mit berühmten Filmregisseuren wie beispielsweise Eric Rohmer („Die Marquise von O“), Wim Wenders („Der Himmel über Berlin“), Werner Herzog, Volker Schlöndorff und Theo Angelopoulos gearbeitet. Als Angelopoulos‘ famoser Film „Die Ewigkeit und ein Tag“ herauskam, hatte ich die Freude, im Januar 1999 in Köln ein Gespräch mit Bruno Ganz zu führen. Bis heute ist er mir in Erinnerung als einer der angenehmsten Gesprächspartner überhaupt.

Bruno Ganz spielte für Angelopoulos den ergrauten griechischen Dichter Alexandros, der mit einem albanischen Flüchtlingsjungen durch reale und imaginäre Grenzgebiete streift. Der abschiedsschwere, vorwiegend melancholische Film errang die „Goldene Palme“ in Cannes. Hier ein Auszug aus dem Gespräch mit Bruno Ganz:

Frage: Eigentlich scheuen Sie Interviews. Jetzt machen Sie Ausnahmen. Sind Sie vom neuen Film besonders überzeugt?

Bruno Ganz: Auf jeden Fall. Vor allem in Relation zu dem, was derzeit sonst so im Kino gezeigt wird. Als ich den fertigen Film in Cannes zum ersten Mal sah, war ich sogar selbst ein wenig gerührt.

Zählt auch die heute so außergewöhnliche Langsamkeit zu den Qualitäten?

Bruno Ganz: Für mich ist dieser Erzähl-Rhythmus tief eingebettet und unerläßlich für dieses Thema. Es geht ja um die Grenzen zwischen Leben und Tod, es werden biographische Verluste registriert. Aber der alte Dichter bekommt auch die Möglichkeit, sich dem Kind gegenüber noch einmal zu öffnen und ungeahnte Zuwendung zu erfahren. Auch die wirkliche Grenze wirkt hier metaphorisch, irreal, wie eine Projektion von Angst. Es sind Bilder, die bleiben. Bilder, die ungeahnte Räume und Zeiten öffnen. Das ist Poesie fürs Kino. Daß Angelopoulos solche Sichtweisen nicht aus kommerziellen Erwägungen aufgibt, obwohl er wohl dazu gedrängt wird – allein das ist eine enorme Qualität.

Wie verlief denn die Zusammenarbeit am Drehort?“

Bruno Ganz: Ungewöhnlich. Angelopoulos mag es nicht, wenn gegessen wird bei den Dreharbeiten. Es gab nicht mal ein Klo. Wir mußten halt in die Büsche gehen. Dazu die Wartezeiten. Zwischendurch wurde mal eine ganze Woche nicht gedreht. Aber ich hatte viele Reclam-Büchlein dabei und habe dann gelesen. Es war asketisch, aber auch dagegen habe ich nichts. Und es war keine Willkür des Regisseurs, ich habe nie das Vertrauen zu ihm verloren. Im Gegenteil.

Hat es ein solcher Film schwerer als vor 20 Jahren?

Bruno Ganz: Damals war die Abrechnung an der Kasse nicht so prompt. Jetzt zählt nur noch der Mainstream. Heute bekommen Leute nach einem Mißerfolg Probleme, ihren nächsten Film zu machen. Sachen ausprobieren, auf eine eigene Art und Weise erzählen das ist viel schwerer geworden.

Gehen Sie oft ins Kino?

Bruno Ganz: Sehr gezielt. „Titanic“ habe ich nicht gesehen. Aber einen wunderschönen Dokumentarfilm über die Tibeter.

Aber Sie ertragen schlechtes Kino noch eher als schlechtes Theater?

Bruno Ganz: Ja. Schlechtes Theater ist mir völlig unerträglich. Es tut körperlich weh. Ich gehe oft vorzeitig ‚raus – ganz leise natürlich. Ich dürfte das eigentlich nicht tun, aber ich halt’s oft nicht mehr aus…

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Das Gespräch stand am 21. Januar 1999 in der Westfälischen Rundschau

 




Rituale statt Rebellion – Interview mit Martin Mosebach

An Martin Mosebach (56) scheiden sich manche Geister: Den Einen gilt der Frankfurter Schriftsteller und Büchner-Preisträger als Vorbote oder gar Leitgestalt einer „konservativen Wende”, die Anderen rühmen Werk und Wirkung. Jetzt hat Mosebach seinen Roman „Der Mond und das Mädchen” bei einer Lesung im Dortmunder Harenberg-Center vorgestellt – Gelegenheit zu einem Gespräch.

Was hat sich mit dem Büchner-Preis für Sie verändert?

Martin Mosebach: Die wichtigste Änderung war schon eingetreten, nämlich das Bewusstsein, dass ich jetzt einen Einschnitt erreicht habe in meiner Arbeit. Ich möchte einen Neuanfang versuchen. In welche Richtung, das wird sich zeigen. Der Preis hat das Gefühl eines Einschnitts nur noch bestätigt. Aber meine Romane unterscheiden sich ohnehin sehr stark voneinander. Ich bin niemals den gleichen Pfad gegangen.

Was können Sie mit dem Begriff „konservativ” anfangen”, der Ihnen immer wieder angeheftet wird?

„Konservativ” empfinde ich als ein sehr defensives Wort, ein Wort in Verteidigungshaltung. Das entspricht nicht meinem Lebensgefühl. So ängstlich bin ich nicht. Aber die Worte „aggressiv” oder „offensiv” wären auch falsch. Ich beziehe mich gar nicht so sehr auf Andere. Ich bin nicht besonders stark auf die Öffentlichkeit hin ausgerichtet.

Ganz anders als Grass?

Ja, er definiert sich selbst als politischen Menschen. Das trifft auf mich nicht zu.

Sie haben gefordert, die alte lateinische Liturgie in der Katholischen Kirche wieder einzuführen. Haben Sie damit etwas bewirkt?

Nun, eine Debatte habe ich bestimmt angeregt. Sie schwelte schon lange, wurde aber von der offiziellen Kirche nicht zugelassen. Ich glaube, dass der Ritus ein essentielles Bedürfnis ist – für die Religion, aber auch ganz allgemein für die Humanität. Der uralte Kultus verbindet uns mit der ganzen Menschheitsgeschichte. Das rituelle Empfinden ist im Westen seit längerer Zeit verkümmert, aber dabei darf es nicht bleiben.

Sie sind Jurist und haben im Nachhinein gesagt, sie hätten dieses Fach gern engagierter studiert. Warum?

Weil alles, was man wirklich intensiv lernt, letztlich interessant ist. Etwas langweilig zu finden, ist eigentlich ein Zeichen für Unerwachsenheit. Doch leider habe ich schlampig studiert. Die juristische Sprache ist eine Schule der Klarheit und Präzision.

1968 mit dem Rücken
zum Zeitgeist erlebt

Wie sehen Sie die Rebellion um 1968? Sind Sie „Anti-Achtundsechziger”?

Ich bin ein „Nicht-Achtundsechziger”. Ich habe mit dem Rücken zu allen Phänomenen von „68” gelebt. Auch die kulturellen Aspekte der Zeit – wie etwa die Musik – haben mich nicht berührt. Ich war in einer Art Emigrations-Zustand.

Ging das denn damals?

Ja. Ich habe die bedenkliche Gabe, Dinge, die mir nicht passen, zu verdrängen. Man selbst stellt ja auch eine Welt dar. Die war mir wichtiger.

Viele Ihrer Romane spielen in Frankfurt am Main. Sie haben Frankfurt eine der hässlichsten Städte genannt, die aber – als Vision – auch schön sein könnte.

Ich weiß gar nicht so genau, worin mein Verhältnis zu Frankfurt besteht. Die Stadt ist mir vollkommen selbstverständlich. In den Romanen wird sie zu einer Stadt der Phantasie, und meine Schilderungen strotzen vor Unwahrscheinlichkeiten. Ich schreibe nicht nach Stadtplan. Aber die Sprache erzeugt die Suggestion, es sei von realen Orten die Rede. Und schauen Sie mal, wie Nabokov oder Proust ihre Elternhäuser beschrieben haben. Wie krass sich das von der Realität unterscheidet! Romane sind eben keine Fotografien und keine Reportagen.

Und die Hässlichkeit?

. . . wird immer dann als besonders schmerzlich empfunden, wenn man die Schönheit noch kennt, die durch sie verdrängt worden ist. Denken Sie an den Kölner Dom und die absurde Domplatte. Wer nicht weiß, wie der Domberg vorher ausgesehen hat, wird unter dieser schwächlichen Brutalität viel weniger leiden. Es scheint, als habe im 20. Jahrhundert Schönheit nur entstehen können, wenn sie nicht beabsichtigt war: Fabriken sind gelungen, Opernhäuser fast nie.

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INFO

Martin Mosebach wurde 1951 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte Jura in Frankfurt und Bonn. Seit 1980 ist er freier Schriftsteller. Er lebt in Frankfurt, schreibt seine Bücher aber meistens im Ausland, um den nötigen Abstand zu haben.So spielt zwar auch sein jüngster Roman „Der Mond und das Mädchen” (Hanser Verlag) in Frankfurt. Verfasst hat ihn Mosebach aber in Marokko.

Weitere Romane: „Das Bett” (1983), „Westend” (1992), „Die Türkin” (1999) und „Der Nebelfürst” (2001).

Der Georg-Büchner-Preis, den Mosebach in diesem Jahr erhalten hat, gilt als wichtigste deutsche Literaturauszeichnung.

Aufsehen erregte Mosebachs Dankrede, in der er die Französische Revolution als Gesinnungsterror brandmarkte und zur Nazi-Diktatur in Beziehung setzte.

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(Der Beitrag stand am 30. November 2007 in der „Westfälischen Rundschau“)




„Die Chance darf man nicht verspielen“: Architekt Eckhard Gerber im Gespräch – nicht nur über Museumspläne fürs „Dortmunder U“

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Pläne für ein großes Kunstmuseum im früheren Brauereiturm „Dortmunder U“ scheinen vorerst gescheitert zu sein. Jetzt will auch die Dortmunder SPD-Fraktion das Projekt aus Finanzgründen zumindest auf Eis legen. Auch über diese neue Entwicklung sprach die WR mit dem Dortmunder Architekten Prof. Eckhard Gerber, dessen Planungen zum Umbau des Turms weit vorangeschritten sind.

KUlturseite der WEstfälischen Rundschau vom 14.7.2006 – Bild: Architekt Prof. Eckhard Gerber mit seinem Modell des „Dortmunder U". (Foto: Bodo Goeke)

Kulturseite der Westfälischen Rundschau (WR) vom 14.7.2006 – Auf dem Bild: Architekt Prof. Eckhard Gerber mit seinem Modell des „Dortmunder U“. (WR-Foto: Bodo Goeke)

Was nun? Ist das Museums-Projekt etwa vom Tisch?

Eckhard Gerber: Ich denke nicht. Klar ist doch: Der „U-Turm“ steht. Es muss etwas mit ihm passieren. Das Museum wäre die beste Lösung. Die Zeit wird es wohl bringen, die Sache muss reifen. Die politische Diskussion darüber hat sich geradezu tragisch entwickelt. Das „U“ wäre doch eine ganz große Chance, ein auffälliges Bild von Dortmund in die Welt zu transportieren. Damit könnte man das Image der Stadt ruckartig verbessern. Eine Stadt wie Dortmund kann und muss so etwas wirtschaftlich verkraften.

Das sehen einige Politiker anders. Ihnen erscheinen Umbau und Folgekosten schlichtweg als zu teuer.

Gerber: Nun, jede Stadt versucht, ihr Image aufzupolieren. In Hamburg wird die Elbphilharmonie gebaut – für 160 Millionen Euro, davon wird etwa die Hälfte aus privatem Geld bestritten. Auch das „Dortmunder U“ müsste zu einer Gemeinschaftsaufgabe der Bürger und der Wirtschaft werden. Die Stadt kann es auch ohne Fördermittel des Landes schaffen, es ist eine Frage der Prioritäten. Das „U“ kostet 35 bis 38 Millionen Euro. Höhere Zahlen sind einfach aus der Luft gegriffen.

Und die Folgekosten?

Gerber: Auch die wird man stemmen können. Das Museum wäre das Dortmunder Highlight zur Kulturhauptstadt Europas 2010. Eine große Chance, die nicht verspielt werden darf.  Nur mit diesem Projekt könnte Dortmund, die siebtgrößte Stadt Deutschlands, seine Position z. B. gegenüber Essen behaupten und über den Fußball hinaus internationale Aufmerksamkeit erreichen. Andernfalls würden wir im provinziellen Schlaf versinken.

Dortmunds CDU und FDP hatten bereits einen Bürgerentscheid gegen die Museumspläne angesteuert.

Gerber: Die Sache darf nicht zum politischen Ränkespiel werden. Man muss den Bürgern vermitteln, dass das Museum im „U“ notwendig ist, um unser Bild in der Welt neu zu formulieren.

Der Dortmunder Fall hat Hintergründe. Jährlich gibt es neue Besucherrekorde beim, „Tag der Architektur“. Zugleich verschärft sich der Wettbewerb der Städte um Wahrzeichen. Ist Baukunst bedeutsamer geworden?

Gerber: Es gibt zwei wichtige Aspekte, die Architektur ausmachen. Zum einen die Bedeutung von Architektur als Imageträger, zum anderen Architektur als uns ständig umgebender Lebensraum: Wir leben stets in und mit Architektur. Sie kann uns motivieren, aber auch traurig machen.

Wie verhält es sich mit der Städte-Konkurrenz?

Gerber: Architektur war immer schon ein Träger von einprägsamen Bildern. Eine Stadt verkörpert sich als „Bild“. Bei Paris denkt man gleich an den Eiffelturm, bei Köln an den Dom, bei Sydney an die Oper, bei Bilbao neuerdings an das GuggenheimMuseum von Frank Gehry. Ein solches Bild von Dortmund gibt es nicht – bestenfalls mit der Westfalenhalle: Auswärtige sehen die Stadt zuerst immer noch als einen Ruhrpott-Ort der Zechen und Stahlwerke. Doch dieser Stadt ist längst ein Ort von High Tech, Dienstleistung, Kultur und viel Grün. Die Wirtschaft muss fähige Menschen in die Städte holen. Dabei ist Kultur ein wichtiger Faktor.

Wie sehen Sie die Entwicklung des Ruhrgebiets?

Gerber: Die Region hat mit dem Niedergang von Kohle und Stahl eine enorme Entwicklung durchgemacht. Die neuen Universitäten waren treibende Kräfte. Trotzdem: Die Revierstädte sind noch zu unscheinbar. Eine Ausnahme wäre Essen mit der Zeche Zollverein, die ursprünglich abgerissen werden sollte. Heute ist sie ein international bekanntes Bild der Stadt, ein Ort der Kultur. Die neue Nutzung alter Industriegebäude stiftet neue Identitäten.

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HINTERGRUND

Es bleibt die Kostenfrage

  • Eckhard Gerber hat u. a. entworfen: Harenberg City-Center und RWE Tower (Dortmund), Stadthalle (Hagen), Marktplatzbereich der Neuen Mitte (Bergkamen, 1993), Neue Messe (Karlsruhe), King Fahad Nationalbibliothek (Riad/Saudi-Arabien).
  • Gerbers Museums-Entwurf fürs „Dortmunder U“ wird von der Stadtspitze favorisiert.
  • Das „U“ sollte nicht nur die Sammlungen des Ostwall-Museums (inklusive Depot) aufnehmen, sondern auch Medienkunst sowie Werke des 19. Jahrhunderts aus der Berliner Stiftung Preußischer Kulturbesitz („Kleine Nationalgalerie“).
  • Bleibt die Kostenfrage: Zum „Dortmunder U“ strebten CDU und FDP letztlich einen Bürgerentscheid gegen die Museumspläne an, für den mindestens 90 000 Stimmen erforderlich wären.
  • Jetzt hat sich auch die SPD-Fraktion festgelegt: Ohne Fördermittel des Landes NRW könne Dortmund das Museum nicht finanzieren, heißt es.
  • Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann, Befürworter des Museums, zur WR: „Da ist eine ungute Konflikt-Dynamik entstanden.“

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KOMMENTAR

Eine Hängepartie

Der Umbau des Dortmunder „U“-Turms zum Museum steht in allen Prospekten zur Revier-Bewerbung als Kulturhauptstadt 2010 – als sei er schon fertig. Mag sein, dass auch dieses ehrgeizige Projekt der Jury in Brüssel imponiert hat.

Bei aller Sympathie für kulturelle Visionen kann man die prekäre Finanzlage der Stadt nicht übersehen. Ohne Fördergeld des Landes und private Mittel dürfte das Großvorhaben kaum zu schultern sein. Beide Geldquellen sind noch nicht aufgetan. Man kann nur hoffen, dass sich dies ändert. Eine Hängepartie. Also Zeit für eine Denkpause.

Natürlich ist der Architekt Eckhard Gerber in diesem Falle auch „Partei“. Ganz klar, dass er das Wort fürs „U“-Museum ergreift. Doch hat der Mann Unrecht?

Eine solche Chance, bundesweit auf sich aufmerksam zu machen, kommt wohl so schnell nicht wieder. Und ein Fußball-Museum als „Ersatz“, von dem manche schon reden? Tja, das würde prima zum althergebrachten Dortmunder Image passen.

                                                                                                                               Bernd Berke

 




„Dortmund ist kein Vorort von Essen“ – Gespräch mit Jörg Stüdemann / Nach der Wahl des Reviers zur Europäischen Kulturhauptstadt

Von Bernd Berke

Dortmund. Gestern war „Tag eins“ nach der Wahl Essens und des Ruhrgebiets zu Europas Kulturhauptstadt 2010. Anlass genug, um mit dem Dortmunder Kulturdezernenten Jörg Stüdemann über die Lage in der Region zu sprechen.

Woran denken Sie beim Stichwort „Hauptstadt des Ruhrgebiets“?

Jörg Stüdemann: (lacht) Na, an Dortmund natürlich. Aber mal im Ernst: Eigentlich denke ich da an gar keine bestimmte Stadt. Ich habe früher in Bochum und Essen gearbeitet und habe nie eine Hauptstadt erblickt. Im Grunde gibt es hier kein Zentrum, sondern eine gesunde Rivalität zwischen den Städten,

Besteht nicht die Gefahr, dass Essen jetzt Dortmund kulturell „abhängt“?

Stüdemann: Überhaupt nicht. Gut, einige Sponsoren werden sich nun stärker in Essen engagieren. Aber das ist auch schon so ziemlich alles. Der Etat für die Kulturhauptstadt ist doch relativ bescheiden, verglichen mit unserem städtischen Kulturhaushalt.

Wohlweislich später eingestiegen

Ist Dortmund ins Thema Kulturhauptstadt nicht zu spät eingestiegen?

Stüdemann: Solange die Kulturhauptstadt mit der Idee einer auf Essen zentrierten „Ruhrstadt“ verbunden war, konnte sie in Dortmund oder Duisburg nicht viel Sympathie erzeugen. Dortmunds Größe und Tradition sprechen dagegen, sich degradieren zu lassen. Wir sind kein Vorort von Essen. Damals haben wir gedacht: Wir werden uns wohlweislich erst einmal davon distanzieren. Inzwischen verhält sich die Sache anders. Es gibt einen weiteren Grund für den späteren Einstieg. Im Gegensatz zu Essen sind wir Fußball-WM-Stadt. Das bedeutet enorm viel Arbeit und finanziellen Einsatz. Daneben war ein stärkeres Engagement für die Kulturhauptstadt nicht zu leisten.

Was trägt Dortmund zur Kulturhauptstadt bei?

Stüdemann: Es wäre unredlich zu behaupten, Dortmund werde das Zentrum des Geschehens sein. Bochum und Duisburg übrigens auch nicht. Das ist nun mal Essen. Doch wir machen eine Menge. Wir haben das multikulturelle „Melez“-Festival in Bochum organisiert und die Dortmunder „Twins“-Konferenz mit den europäischen Partnerstädten ausgerichtet.

Und in Zukunft?

Stüdemann: Es gibt drei Schwerpunkte. Erstens die Medienkunst, unter anderem in der Phoenixhalle. Zweitens das Brückstraßen-Viertel als künftige „Musik-Meile“: Konzerthaus, Orchesterzentrum, Chorakademie, das „domicil“ für Jazz und Weltmusik. Spätestens 2010 soll es außerdem ein großes Musikfest in Dortmund geben, und wir planen ein Zentrum für Musikwirtschaft – mit Tonstudios, Agenturen und dergleichen. Drittens bringen wir das Projekt „Dortmunder U“ ein.

Dieser frühere Brauereiturm steht als künftiges Museum in den Bewerbungsunterlagen zur Kulturhauptstadt, als wäre alles schon fertig. Aber es hakt doch weiter bei denLandeszuschüssen, oder?

Stüdemann: Wir gehen immer noch davon aus, dass wir dort 2010 ein großes Museum haben werden. Die Idee ist einfach toll, viele hochkarätige Fachleute aus anderen Städten sind davon angetan. Was die Landeszuschüsse betrifft: In Essen steht mit der Zeche Zollverein ein unglaublich teures Projekt, da fragt offenbar niemand nach Bau- und Folgekosten. Der dortige Umbau, der 1986 eingeleitet wurde, sollte anfangs 30 Millionen Mark kosten, inzwischen liegt man bei etwa 190 Millionen, mit steigender Tendenz. Trotzdem hat das Land dort stetig mitgefördert. Beim „Dortmunder U“ aber wird penibel nachgerechnet. Auch in Dortmund selbst werden von manchen Leuten immer nur die Schwierigkeiten aufgespürt. Jeder Krümel wird da langwierig ausgewalzt.

Das hieße also: Dortmund ist noch nicht genügend begeistert, um auch das Land für die Idee zu gewinnen?

Stüdemann: So ist es. Leider. Dabei geht es beim „Dortmunder U“ um vergleichsweise geringe 17 Millionen Euro Landesförderung. Mal so gefragt: Muss sich wirklich alles im Rheinland abspielen? Fast 80 Prozent der Landesmittel für Museumsbau sind in den letzten Jahrzehnten dorthin geflossen.

Der Dortmunder Krimi-Verleger Rutger Booß (Grafit-Verlag, d. Red.) sagt: Spätestens Jetzt, im Rahmen der Kulturhauptstadt, braucht das Revier ein Literaturhaus. Eine Option für Dortmund?

Stüdemann: Von der Tradition her schon. Dortmund wäre dafür prädestiniert. Und die Region kann ein solches Haus bestens verkraften. Aber wir haben schon zahlreiche andere „Baustellen“…

Wie wird sich die Kulturhauptstadt im Umland auswirken? Haben auch die Sauerländer etwas davon?

Stüdemann: Unbedingt! Das ist doch klar. Bei einer so großen Kampagne für die Kultur will sich keine beteiligte Stadt blamieren. Das werden die Besucher aus dem Umland merken. Nicht nur kulturell, sondern auch baulich wird sich einiges verbessern. Davon haben alle etwas. Und Nachbarstädte wie Unna mit seinem wunderbaren Lichtkunstzentrum sind ohnehin fest eingebunden.

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ZUR PERSON

Mann mit „Szene“-Erfahrung

  • Jörg Stüdemann (Jahrgang 1956) ist Dortmunds städtischer Dezernent für die Bereiche Kultur, Sport und Freizeit. Sein Werdegang:
  • Von 1984 bis 1987 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum.
  • Von 1987 bist 1992 Mitarbeiter im soziokulturellen Zentrum „Zeche Carl e. V.“ in Essen. Diese Einrichtung der „Alternativ“-Szene genießt einen guten Ruf im gesamten Ruhrgebiet.
  • Ab 1992 Leiter des „Pentacon“ (Zentrum für Medienkultur) in Dresden.
  • Von 1994 bis 2000 Dezernent für Kultur, Jugend und Sport in Dresden. Aus der sächsischen Landeshauptstadt wechselte Jörg Stüdemann nach Dortmund.

 




Dortmunder „U“: Der Turm, die Stadt und die Kunst – Gespräch mit Kurt Wettengl, dem Direktor des Ostwall-Museums

Dortmund. Die Museumslandschaft Dortmunds steht vor einem folgenschweren Umbruch. Das traditionsreiche Ostwall-Museum soll etwa 2009 oder 2010 in den ehemaligen Brauereiturm „Dortmunder U“ umziehen. Ein Architektenwettbewerb zum Umbau läuft. Bereits im Mai soll eine Jury die besten Entwürfe auswählen, dann muss der Stadtrat über das Großprojekt entscheiden. Ein Gespräch mit Ostwall-Direktor Dr. Kurt Wettengl.

Frage: Sie waren jahrelang in Frankfurt am Main tätig. Damit verglichen ist doch die Dortmunder Museumsszene etwas dürftig, oder?

Kurt Wettengl: Die beiden Städte sind halt sehr unterschiedlich. Es gibt in Frankfurt etwa zehn städtische Museen, die viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die sich aber auch gegenseitig Konkurrenz machen. In Dortmund liegen die Dinge klarer: Hier gibt es das historische Museum an der Hansastraße, das naturkundliche Museum und eben das Ostwall-Museum für Kunst, dazu ein paar kleinere Spezialmuseen. Damit sind die wesentlichen Bereiche abgedeckt.

Warum brauchen wir trotzdem das „Dortmunder U“?

Wettengl: Dort hätten wir viel mehr Platz für die Ostwall-Sammlung. Ungefähr 5200 Quadratmeter statt etwa 1600 am jetzigen Standort. Man könnte dann manches aus den Depots hervorholen, beispielsweise Video-Installationen.

Ist denn der fensterlose Brauereiturm als Ausstellungsort für Kunst geeignet?

Wettengl: Ich hab mir die Situation angesehen. Die großen Räume sind im Prinzip sehr gut geeignet. Es kommt natürlich auf die Umbaupläne der Architekten an. Auch darauf, wie das Gelände erschlossen wird. Die Beleuchtung wird nicht ganz einfach sein. Aber wenn alles gelingt, wäre das Haus ein Anziehungspunkt fürs gesamte Ruhrgebiet. Mindestens.

Was geschieht nach einem Umzug mit dem bisherigen Ostwall-Gebäude?

Wettengl: Die Ratsmehrheit hat bereits beschlossen, dass das „U“ Vorrang genießt und dass man die konkurrierende Idee eines Ausbaus am bisherigen Standort nicht weiter verfolgt. Was aus dem jetzigen Haus wird, weiß ich nicht. Das ist eine politische Frage.

Wäre denn ein Verkauf oder gar ein Abriss tatsächlich denkbar? Würde das nicht zu Protesten weit über Dortmund hinaus führen?

Wettengl: Nun, das Gebäude hat eine Geschichte, es ist ein Ort der Erinnerung. Viele Kunstfreunde hängen einfach daran – auch emotional. Das Haus ist nicht zuletzt ein Symbol für den demokratischen Aufbruch in der Nachkriegszeit. Es wäre schon gut, wenn es weiterhin kulturell genutzt würde.

Es gibt Stimmen, die sagen, das Haus könne zu einem „Museum der Sammler“ umgewidmet werden, zu einem Platz für mäzenatische Leihgaben oder Schenkungen.

Wettengl: Mh, davon höre ich jetzt zum ersten Mal. Aber wenn der Beschluss fürs „U“ gefasst ist, wird man sich schon Gedanken machen.

Ist eigentlich noch die Idee lebendig, dass die großen Museen der Region ihre Bestände zeitweise austauschen oder zu einer großen Schau zusammenlegen?

Wettengl: Der Gedanke lebt immer mal wieder auf, ist aber zur Zeit etwas eingeschlafen. Falls Essen und das Ruhrgebiet Europäische Kulturhauptstadt 2010 werden, könnte die Idee zu einem gemeinsamen starken Auftritt allerdings wieder befördert werden.

Woher kommen eigentlich Ihre Besucher am Ostwall?

Wettengl: Manchmal aus Düsseldorf oder Köln. Meistens aber aus Dortmund selbst und aus der näheren Umgebung: Münsterland, Sauerland, Kreis Unna. Mit dem „Dortmunder U“, das sehr nah am Hauptbahnhof liegt, würde sich das Einzugsgebiet wohl erheblich vergrößern.

Wird Ihnen die Fußball-WM mehr Besucher bringen? Oder sind das ganz verschiedene Zielgruppen?

Wettengl: Ich glaube schon, dass auch wir davon profitieren werden. Viele Gäste kommen nicht nur wegen des Fußballs nach Deutschland. Sie wollen auch die WM-Städte und ihre Kultur kennen lernen. Neulich war schon ein Fernsehteam aus dem Teilnehmerland Trinidad-Tobago bei uns im Museum. Wir werden ab 8. Juni einen „WM-Erfrischungspavillon“ haben: eine Ausstellung über Kioske im Revier, unter anderem mit selbst kommentierter Live-Übertragung vom Spiel Brasilien – Japan aus dem Dortmunder Stadion.

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HINTERGRUND

Ein Umzug ins „U“ wird nicht billig

  • Dr. Kurt Wettengl ist seit rund einem Jahr Chef des Dortmunder Museums am Ostwall.
  • Das markante, 1926/27 errichtete „Dortmunder U“ war früher das Gär- und Lagerhaus der Union-Brauerei.
  • Insgesamt könnte der U-Turm auf sechs Geschossen 11000 Quadratmeter Museumsfläche bieten.
  • Neben den Ostwall-Beständen, die um 2010 hierher umziehen sollen, gäbe es noch reichlich Platz für bisher nicht gezeigte Video-Installationen der Ostwall-Sammlung, für die „Kleine Nationalgalerie“ (Kunst des 19. Jahrhunderts / Leihgaben aus Berlin), ein Kindermuseum und Depots.
  • Die Umbaukosten sollen rund 34 Millionen Euro betragen, der Innenausbau dürfte weitere 3 Mio. Euro kosten. Später werden laufende Betriebskosten anfallen.
  • Die Stadt Dortmund hofft auf Zuschüsse vom Land – in Höhe von mindestens 50 Prozent der Baukosten. Bisher gibt es noch keine Zusage aus Düsseldorf.

(Der Beitrag stand in ähnlicher Form am 4. April 2006 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund)




„Bloß nicht in Schönheit sterben“ – Interview mit Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa über Programme und Perspektiven

Von Bernd Berke

Dortmund. Auch das Dortmunder Konzerthaus kommt nicht an der Fußball-WM vorbei. Direkt vor dem Auftakt des sportlichen Großereignisses wird die einschlägige brasilianische Tanzproduktion „Maracana“ in der Westfälischen Philharmonie gastieren. Doch nicht nur darüber sprach die WR mit Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa (40).

Frage: Konzerthaus und Kicken – wie geht das zusammen?

Benedikt Stampa: Berechtigte Frage. Ich bin Fußballfan, und ich bin Kulturfan. Aber im Prinzip bin ich kein großer Freund der Verbindung zwischen Kultur und Fußball.

Warum nicht?

Stampa: Es passt oft nicht. Es funktioniert bestenfalls auf einer höheren Gedanken-Ebene. Die musikalischen Versuche schlagen meistens fehl. Auch gibt es kaum einen authentischen Fußball-Spielfilm. Die Schauspieler sind fast immer schlechte Fußballer und umgekehrt. Am besten geht es wohl gerade im Tanztheater-Bereich. Hier spielt Athletik ohnehin eine große Rolle. Und der Fußball hat ja seine spezielle Choreographie, die allerdings auch vom Zufall bestimmt wird.

Wie muss man sich „Maracana“ vorstellen?

Stampa: Die Hamburger Premiere sehe ich selbst erst am Donnerstag. Fest steht: 16 Tänzerinnen und Tänzer sind dabei. Die Musik ist eine Mischung aus Samba, HipHop und Funk. Der Rasen wird zu sehen sein – in Form einer grünen Wand. Es wird ein „Spiel“ geben, mit Fouls und Fallrückziehern. Als ich hörte, dass diese Produktion entsteht, dachte ich gleich: Die müssen wir nach Dortmund holen. Schließlich spielen die brasilianischen Fußballer ja auch hier. Das wird ein Highlight: Drei Tage vor der WM, wenn die Spannung auf dem Siedepunkt ist, geht es los. Die Tanztruppe gastiert vom 6. bis zum 8. Juni bei uns. Dann werden auch viele Journalisten aus aller Welt hier sein…

Wir freuen uns drauf. Mal was anderes: Wie sehen die aktuellen Auslastungszahlen im Konzerthaus aus?

Stampa: Nun, das Haus hat die Gründungsphase mit einigen – auch schmerzlichen – Erfahrungen hinter sich. Die Zahlen haben sich stabilisiert und beginnen allmählich zu steigen. Wir liegen jetzt alles in allem bei 63 Prozent Auslastung. Wir wissen, dass etwa50 Prozent der Besucher aus Dortmund selbst kommen – ein guter Wert. Aber wir strahlen auch weit in den Kreis Unna, ins Sauerland und Münsterland aus. Wichtig ist die gute Mischung aus Abonnements und freiem Verkauf.

Manche Musikfreunde beklagen, dass Sie zu wenig Kammermusik anbieten.

Stampa: Wir werden auf diesem Feld künftig mehr machen – im wirtschaftlich vernünftigen Rahmen. Kammermusik ist ja die Grundlage des sinfonischen Schaffens.

Trügt der Eindruck, oder haben Sie das Programm in letzter Zeit popularisiert?

Stampa: Wenn man ihn richtig versteht, kann ich am Begriff „populär“ nichts Nachteiliges finden. Wir haben einen Bildungsanspruch, aber wir wollen nicht „in Schönheit sterben“. Übrigens bietet ein Dirigent wie Christian Thielemann, der gerade zweimal mit den Münchner Philharmonikern bei uns gastiert und unter anderem Brahms gespielt hat, auch eine Art Mainstream. Aber eben auf höchstem Niveau. Und es gibt natürlich eine Untergrenze.

Wo liegt die denn? Wen würden Sie nicht einladen?

Stampa (lacht): Das werde ich Ihnen nicht konkret sagen. Aber schau’n Sie einfach mal, wer nicht bei uns auftritt…

Sie haben lange in Hamburg gearbeitet und sind jetzt seit Herbst 2005 in Dortmund tätig. Wie unterscheidet sich das westfälische Publikum vom hanseatischen?

Stampa: Das Publikum in Dortmund ist wesentlich neugieriger, es geht mehr mit. Das hat mir auch Christian Thielemann bestätigt. In Hamburg gibt es eine alte, ehrwürdige Musiktradition. Viele Leute haben dort schon vieles gehört und sind vielleicht ein wenig saturiert.

Ihre bislang schönsten Dortmunder Konzert-Erlebnisse?

Stampa: Es gab einige. Die erwähnten Thielemann-Auftritte gehören unbedingt dazu. Aber natürlich auch das Gastspiel von Anna Netrebko.

Wird sie irgendwann erneut nach Dortmund kommen?

Stampa: Ich habe ihr gesagt, dass alle Türen offen stehen. Eigentlich singt sie am liebsten in Konzerthäusern. Die Frage ist nur, ob sie künftig zu Auftritten in großen Stadien und Arenen gedrängt wird.

Konkurrieren Sie mit Dortmunds Oper ums Publikum?

Stampa: Wohl weniger. Die Last des kulturellen Lebens einer Stadt kann nicht nur auf einem einzigen Haus ruhen. Wenn es gut läuft, ziehen wir uns gegenseitig hoch.

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HINTERGRUND

„Fußballer sind die besten Tänzer der Welt“

  • Die brasialianische Tanzproduktion „Maracana“ ist benannt nach dem weltgrößten Fußballstadion in Rio de Janeiro (Fassungsvermögen heute etwa 120 000 Zuschauer).
  • Die Auftrags-Produktion, offizieller Beitrag zum FIFA WM-Kulturprogramm, hat just heute in Hamburg Weltpremiere und gastiert vom 6. bis 8. Juni im Dortmunder Konzerthaus. Einziger weiterer Spielort in NRW ist Köln (ab 9. Februar).
  • Die renommierte Choreographin Deborah Colker (43) aus Brasilien ist nicht nur ausgebildete Tänzerin, sondern auch Pianistin und überdies Diplom-Psychologin.
  • Ausgiebig studierte sie für ihr Tanzstück die Bewegungsabläufe im realen Fußball. Ihr Eindruck: „Fußballer sind die besten Tänzer der Welt.“

 

 

 




Adolf Muschg: „Ich bin mit mir selbst nicht identisch“

Der Schweizer Adolf Muschg (71) zählt zu den führenden Köpfen der deutschsprachigen Literatur. Der Büchner-Preisträger ist auch kulturpolitisch einflussreich: Er war Mitglied der Jury, die das Ruhrgebiet bei der Vorauswahl zur Kulturhauptstadt 2010 bereist hat. Und er ist Präsident der hochkarätigen Berliner Akademie der Künste. Eine Gespräch mit Adolf Muschg im Dortmunder Harenberg City-Center – vor einer Lesung aus seinem bei Suhrkamp erschienenen neuen Roman „Eikan, du bist spät“.

Frage: In Ihrem Roman geht es um einen Cellisten, seine Lebens- und vor allem Frauen-Krise. Was hat Sie an dem Thema gereizt?

Adolf Muschg: Das Cello ist von allen Streichinstrumenten das mit dem größten Körper-Engagement. Musik als spirituelles Prinzip – und zugleich das Sinnlichste, was es gibt. Ein interessanter Widerspruch. Außerdem wollte ich mir ein Gebiet erobern, das mit eher fern liegt, ich habe nur als kleiner Junge ein wenig Klavier gespielt. Es läuft hinaus auf das Motiv der Wiederholung, was die Frauengeschichten angeht. Das Wiederholungsmotiv ist im Grunde ein uraltes in der Liebe, man denke nur an Tristan und Isolde. Unser Leben besteht aus Wiederholungen – und wir alle haben den Anspruch, einmalig zu sein.

Ihr Cellist Andreas Leuchter wird aus all seinen Frauen nicht klug…

Muschg (lacht): Das gehört zum Wenigen, was ihn mir sympathisch macht…

Kann ein Mann denn aus Frauen im Wortsinne klug werden?

Muschg: Nein. Aber man könnte im Umgang mit ihnen ein bisschen weiser werden. Doch auch das würde nichts helfen. Ich glaube: Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist nicht dazu geschaffen, „vernünftig“ zu sein – obwohl es ohne Vernunft auch wieder nicht auszuhalten ist. Schon die Erfindung der Zweigeschlechtlichkeit ist ja eine große Kühnheit der Natur, davor hat sie sich mit Kopien und Zellteilungen begnügt.

Leuchter versäumt seine große Liebe…

Muschg: Das ist ein Verdacht, der Männer häufig beschleicht: „Ich bin etwas schuldig geblieben.“ Man kann sich auf triviale Formeln einigen: Die Chemie hat nicht gestimmt. Aber in der Liebe steckt ganz wesentlich eine massive Überforderung der Beteiligten.

Sie kommen in Ihren Büchern immer wieder auf Japan als das ganz Andere, Fremde zurück, so auch diesmal. Die zweite Hälfte des Romans spielt dort.

Muschg: Der erste Impuls liegt ganz lange zurück. Meine Halbschwester, 30 Jahre älter als ich, war Hauslehrerin bei einer schweizerisch-japanischen Familie. Als sie zurückkam, hat sie ein Kinderbuch geschrieben – es war das allererste Buch, das ich in meinem Leben gelesen habe. In dem Buch kam mein eigenes Elternhaus vor, und eines in Kyoto. Japan steht für das Fremde, man hat es sozusagen auch in sich, denn Identität ist nichts Festes, ich bin mit mir selbst nicht identisch. Ich bin überhaupt allergisch gegen das Wort Identität, weil damit auch politisch so viel Schindluder getrieben werden kann. Was ist eine schweizerische, was eine deutsche Identität? Oder eine europäische Identität? Europa hat sich immer wieder verändern lassen: die Germanen durch das Christentum, das Christentum durch die Aufklärung. Europäisch ist die Fähigkeit, sich fremde Dinge produktiv anzuverwandeln.

Von Europa zum Ruhrgebiet. Welchen Eindruck haben Sie bei Ihrer Jury-Reise in Sachen „Kulturhauptstadt“ gewonnen?

Muschg: Ich hatte vorher keine Ahnung, dass das Ruhrgebiet mein Favorit werden würde. Hier erscheint Kultur als fundamentaler Sachverhalt. Dieses ganze Gebiet hat sich neu erfinden müssen. Es ist ein erstaunlich waches Stück Deutschland. Die Menschen waren hier unglaublich erfinderisch. Kultur bedeutet ja nicht nur Theater oder Oper, sondern was man aus sich selber macht! Was das Ruhrgebiet jetzt zu stemmen versucht, das muss auch in Nordfrankreich oder in englischen Industriestädten geschehen. Man wünscht dem Ruhrgebiet so sehr, dass es gelingt. Da ertappe ich mich fast bei einer Art Liebesverhältnis.

Würde sich für die Akademie der Künste bei einem Regierungswechsel etwas ändern? Bundeskanzler Schröder hat Sie ja neulich zur „Einmischung“ in die Politik aufgefordert.

Muschg: Ja, dazu werden wir oft aufgefordert – bis wir es dann tun! Grundsätzlich wird sich wohl nicht viel ändern. Wir müssen weiterhin deutlich machen, dass Kunst kein Luxus, sondern Lebensmittel ist. Was mich am meisten beunruhigt, ist der zunehmende Druck des Marktes auf die Kultur. Da geht es oft nur noch um Neuheiten, Saisonartikel, Events. Übrigens fährt man als Künstler unter der CDU nicht schlechter. SPD-Regierungen sind nicht unbedingt kulturfreundlich. Aber die jetzige Kulturstaatsministerin Christina Weiss, die ja parteilos ist, die würden wir schon sehr vermissen.

(Der Beitrag stand am 25. Juni 2005 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund)




Elmar Goerden: „Man muss die Texte ernst nehmen“ – Gespräch mit dem neuen Bochumer Theaterchef

Bochum. Mit der nächsten Spielzeit tritt er als neuer Intendant Matthias Hartmanns Nachfolge in Bochum an: Was darf das Theaterpublikum von Elmar Goerden (42) und seinem neu formierten Ensemble erwarten? Ein Gespräch mit Goerden im Bochumer Rathaus, wo sein „Vorbereitungs-Büro“ die neue Saison plant.

Elmar Goerden beim Interview (Bild: Bernd Berke/WR)

Elmar Goerden beim Interview (Bild: Bernd Berke/WR)

Sie kommen gerade aus den Proben. An welchem Stück arbeiten Sie denn?

Elmar Goerden: An Goethes „Iphigenie“. Das wird Mitte Oktober eine wesentliche Säule des Eröffnungsprogramms sein. Wir werden dann in 14 Tagen fünf oder sechs Premieren auf die Bühne bringen, drei davon gleich am ersten Wochenende. Selbstverständlich werden wir auch Gegenwartsautoren spielen – unter anderem von Botho Strauß, Peter Handke und Sarah Kane.

Welche Konturen hat das neue Ensemble? Und welche Darsteller aus Hartmanns Team gehören weiter dazu?

Goerden: Zunächst einmal: Ich halte das Ensemble für eine der größten Errungenschaften des deutschen Theaters. Ich bin ein Liebhaber des festen Ensembles, das zusammenwächst. Es kommen Schauspieler aus Wien, Berlin, München und Hamburg. Einige bleiben Bochum aber auch erhalten: Margit Carstensen, Veronika Bayer, Lena Schwarz, Jele Brückner, Maja Beckmann, Ernst Stötzner, Manfred Böll, Martin Rentzsch – und natürlich die Seele des Hauses, Tana Schanzara. Sie ist ja ein unglaubliches Geschöpf, für das man nur danken kann. Ganz selten, dass man so etwas noch findet…

Wer kommt neu hinzu?

Goerden: Stellvertretend für ein starkes Ensemble: Zum Beispiel Imogen Kogge von der Berliner Schaubühne, aus Wien die Nestroy-Preisträgerin Ulli Maier, vom Burgtheater Agnes Riegl, Henning Hartmann haben wir Peymann „abgeluchst“. Cornelia Froboess wird hier spielen, Catrin Striebeck, Michael von Au – und einige andere.

Haben Sie Angst vor den Erwartungen in Bochum? Die jetzigen Zuschauerzahlen sind ja kaum noch zu steigern.

Goerden: Das verstehe ich eher als Ansporn.

Spüren Sie eine Konkurrenz mit Bühnen in den Nachbarstädten?

Goerden: Nein. Warum auch? Es ist nicht meine Art, ängstlich nach nebenan zu schielen. Jeder macht das Theater, das er machen muss. Wir brauchen sicherlich ein eigenes Profil. Und das Bochumer Schauspiel wird ein Gesicht haben, das man erkennt. Ich gönne Nachbarn wie Dortmund und Essen jeden Erfolg. Es ist doch schön, dass es in dieser Region eine so hohe Reibungsdichte künstlerischer Impulse gibt. In München habe ich fast in einer Diaspora gearbeitet. Da gibt es Theater-Reichtum in der Stadt, aber ringsum praktisch nichts. Als gebürtiger Niederrheiner fühle ich mich überhaupt im Ruhrgebiet zuhause. Hier versteh’ ich die Leute auch besser.

Kein Problem, wenn in drei Städten dasselbe Shakespeare-Stück herauskommt?

Goerden: Stören würd’s mich nur, wenn alle drei Inszenierungen gleich wären. Übrigens braucht man ja eine bestimmte Situation im Ensemble, wenn man gewisse Stücke spielen will. Wenn Sie keinen Hamlet haben, können Sie keinen „Hamlet“ machen. Entscheidend ist: Welche Stoffe binden wir an welche Leute? Wer passt wozu? Da ist es wichtig, dass man Menschen hat, die hier bleiben wollen. Deshalb werden wir auch einige Regisseure fest ans Haus binden, zum Beispiel Tina Lanik und Jan Bosse.

Wie schätzen Sie das Publikum in Bochum ein?

Goerden: Hier gibt es eine allgemeine Gründüberzeugung, dass Theater ein Mittelpunkt der Stadt ist. Das Publikum ist ausgesprochen offen, manchmal kann es sich geradezu leidenschaftlich an eine Aufführung „verschenken“ – und es ist sehr strapazierfähig.

Sind denn Strapazen zu erwarten?

Goerden: Nun, wenn wir mit Goethes „Iphigenie“ beginnen, dann kommt das nicht von ungefähr, sondern es ist bereits eine Art „Notenschlüssel“. Ein solches Stück ist kein Steinbruch, aus dem man sich nach Gutdünken bedienen kann. Man muss die Texte ernst nehmen, man muss sich fragen: Was geht in ihnen um? Und n i c h t gleich bei auf ersten Probe sagen: Was soll das m i r? Was kommt m i r davon nahe? Dann würden die Inszenierungen sehr schmal werden, die Sprache würde verarmen. Wir wollen keine allseits bekömmlichen 60-Minuten-Versionen anbieten, keine Fernsehformate.

Also geht es im Prinzip werktreu zu?

Goerden: Die Texte müssen sich entfalten, sie brauchen ihren besonderen Hallraum. Nicht, weil wir Antiquitäten-Fans sind, sondern weil wir glauben, dass darin etwas aufgehoben ist, was uns heute fehlt: Schicksale und Gefühlskräfte von einer Größe, wie es sie so nicht mehr gibt. Man kann ein Wort wie „Ach“ von Goethe kurzerhand streichen. Man kann sich aber auch fragen, ob es nicht ein besonderer Herzenslaut ist. Es handelt sich dabei keineswegs um „Werktreue“, wie sie Bundespräsident Horst Köhler kürzlich angemahnt hat. Die Werke einfach so zu lassen, wie sie sind, das wäre nur die Abwicklung von Reclam-Heften. Ich will die Stücke vor das Licht der Zeit halten, in der wir leben. „Zeitlose“ Klassiker gibt es gar nicht.

Da darf man sich wohl auf ziemlich lange Theaterabende einrichten?

Goerden: Nicht unbedingt. Ich betrachte Theater nicht als strenges Exerzitium. Es geht mir nicht darum, den Leuten zu vermitteln: Haha, ihr lebt so in den Tag hinein, jetzt zeigen wir euch mal, wo der Hammer hängt. Demonstrative Belehrung von der Bühne herab ist langweilig.

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ZUR PERSON:

Elmar Goerden wurde am 29. März 1963 in Viersen/Niederrhein geboren.
Schon als Jugendlicher trampte er öfter zum Bochumer Schauspielhaus. Nach Claus Peymanns Aufführung der „Hermannsschlacht“ von Kleist stand der Berufswunsch des damals 15-Jährigen fest: Theaterregisseur! Zwischenzeitlich wäre Goerden allerdings fast Fußballprofi geworden. Das Zeug dazu hätte er wohl ebenfalls gehabt.
Goerden studierte Kunstgeschichte, Anglistik und Theaterwissenschaft in Köln, Edinburgh, Birmingham und New York. Von 1991-1994 arbeitete er als Regieassistent für die Berliner Schaubühne am Lehniner Platz. Seine Lehrmeister dort waren u. a. Andrea Breth, Luc Bondy, Robert Wilson und Peter Stein.
Ab 1996 war Goerden Hausregisseur am Stuttgarter Schauspielhaus. 2001 ging er als Regisseur und Oberspielleiter zum Residenztheater in München.

(Der Beitrag stand in ähnlicher Form am 28. Mai 2005 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund. Das Gespräch führten die Kulturredakteure Bernd Berke und Arnold Hohmann).




Peter Rühmkorf: „Ich wollte Tag für Tag mein Ich zusammensetzen“

Den „großen Roman“ hat er nie geschrieben, als Dramatiker blieb er glücklos. Doch Peter Rühmkorf gilt vielen als wichtigster lebender Lyriker in Deutschland. Jetzt hat er – mehr als 30 Jahre „danach“ – unter dem Titel „Tabu II“ bei Rowohlt seine Tagebücher von 1970/71 vorgelegt. Es war die Zeit des beginnenden RAF-Terrors, des allmählichen Zerfalls der APO (Außerparlamentarische Opposition) – und eine Zeit, in der Rühmkorf in Hamburg eine heimliche Liebschaft hatte. Ein Gespräch mit Rühmkorf auf der Frankfurter Buchmesse.

Frage: 1970 waren Sie knapp über 40 Jahre alt, und da haben Sie etwas Erschreckendes geschrieben, nämlich dass ein Mann sich ab 40 am besten einbalsamieren lassen soll…

Peter Rühmkorf: Mh. Habe ich das wirklich geschrieben?

Nun, das genaue Wort lautete wohl „mumifizieren“. Aber Sie haben sich damals doch auch ganz schön ins Leben gestürzt: St. Pauli, die Kneipen…

Rühmkorf: Naja, einerseits war ich heimisch wie meine Katze, die in den Aufzeichnungen ja eine große Rolle spielt. Aber sie büxte manchmal aus. Und auch ich habe mich in die Welt begeben. St. Pauli hatte so einen gewissen Hautgout, dass es mich da öfter hingezogen hat. Ich war häufig mit dem Autor Hubert Fichte dort, der damals noch gelebt hat. Er kannte verschwiegenste Winkel auf St. Pauli. Damals ging es dort noch richtig familiär zu.

Jetzt wohl nicht mehr?

Rühmkorf: Heute weht da ein ganz scharfer Wind. Es gibt Bandenkriege.

Sie haben damals ein sehr junges Mädchen kennen gelernt, eine Schülerin, noch dazu Kapitänstochter.

Rühmkorf: Oh, das war eine gefährliche Partie. Mit Lolitas hatte und habe ich nichts im Sinn. Aber junge Mädchen in dem Alter, in dem die Schoten kurz vorm Platzen sind, die haben einen großen Reiz – vor allem dann, wenn man selbst so’n bisschen das Alter in die Knochen steigen fühlt.

Hatten Sie damals kein schlechtes Gewissen gegenüber Ihrer Ehefrau?

Rühmkorf: Doch, doch! Auch das hat mich an den Schreibtisch getrieben. Das wollte mit aufs Papier. Ich dachte kürzlich noch: Wenn das jetzt als Buch `rauskommt – hoffentlich lässt sie sich nicht scheiden! Als Flaneur kannte sie mich ja schon, das hat sie mit dem Mantel der Liebe zugedeckt. Aber ein festes Verhältnis in Hamburg über so lange Zeit, von dem sie absolut nichts wusste… Ich lese zu Hause nie Manuskripte vor, ich zeige immer nur Gedrucktes. Das Buch habe ich ihr mit Bibbern und Zagen in die Hand gedrückt. Aber wenn etwas gut geschrieben ist, dann überwiegt bei ihr das literarische Vergnügen. Es ist ein Pflaster für die Wunden.

Die Episode steht zunächst im Vordergrund, dann aber kommt mehr und mehr das Politische ins Spiel.

Rühmkorf: Die Außerparlamentarische Opposition hat sich damals in Gruppen und kleinste Grüppchen zersplittert. Der Zusammenhalt der Linken ging verloren. Fast wie seinerzeit in der Französischen Revolution. Aber gottseidank hatten sie 1970 keine Guillotine mehr! Man hat mich nur einige Male bei öffentlichen Veranstaltungen von der Bühne gepfiffen. Ich bin an den Rand der Linken gespült worden. Das war auch ein Motiv, dieses Tagebuch zu beginnen. Ich wollte wissen, welchen roten Faden ich in meinem Leben noch verfolgen sollte. Ich wollte mein eigenes Ich wieder zusammensetzen. Tag für Tag, aus dem Moment heraus, mit ganz knappen Skizzen.

Sie beschreiben die Baader-Meinhof-Gruppe als eine Art Tourneetheatergruppe des Terrorismus.

Rühmkorf: Ja. Damals gab es überall Mitmach-Theater, mobiles Theater, das die Menschen einbeziehen wollte. Die Schauspieler kamen von den Bühnen herunter. Alles fauler Zauber! Und Baader-Meinhof passte in die Zeit. Sie erschienen mir als das allermobilste Reise-Theater: gefälschte Pässe, Perücken, immer neue Gewänder, den Colt in der edlen Aigner-Tasche. Ein eigenartiges Spektakel, für das sich die ganze Republik interessierte…

INFO:

Am 25. Oktober 2004 wird der in Dortmund geborene Rühmkorf 75 Jahre alt. Er wird daher in diesem Herbst besonders oft gerühmt und ausgiebig veröffentlicht. Neben seinen Tagebüchern ist jetzt u.a. auch ein bebilderter Band zu seiner Biographie erschienen: „Wenn ich mal richtig ICH sag“ (Steidl Verlag).

Zur Erläuterung, weil sie indirekt im Gespräch vorkommt: Seine Frau Eva Rühmkorf war in jenen frühen 70er Jahren reformfreudige Gefängnisdirektorin und wurde später Kultusministerin von Schleswig-Holstein.

(Das Gespräch führte Bernd Berke / Der Beitrag ist in ähnlicher Form am 23. Oktober 2004 in der „Westfälischen Rundschau“ erschienen)




„Das Leben ist ein Festival der Zufälle“ – Gespräch mit Wolf Wondratschek auf der Buchmesse

Von Bernd Berke

Wolf Wondratschek (60) zählte zeitweise zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern. Einst galt er, mit Bänden wie „Chucks Zimmer“ und „Carmen oder Ich bin das Arschloch der achtziger Jahre“, als führender „Pop- und Rock-Poet“ des Landes. Außerdem erregte er Aufsehen mit Texten über die ruppigen Milieus der Boxer und Bordelle. Die WR sprach mit ihm auf der Frankfurter Buchmesse:

Sein neuer Roman „Mara“ (Hanser, 202 Seiten, 17,90 Euro) gibt sich thematisch gediegener: „Titelheld“ ist ein berühmtes Stradivari-Cello (Beiname „Mara“ nach dem ersten Besitzer). Es erzählt in Ich-Form seine fast dreihundertjährige Geschichte quer durch die Epochen. Und es schildert das Leben der Virtuosen, die sehr unterschiedliche Temperamente verkörpern.

Das Instrument gibt es also tatsächlich, es ist viele Millionen wert. Heute spielt es der Österreicher Heinrich Schiff, mit dem der Roman denn auch endet. Dass es noch existiert, grenzt an ein Wunder. Denn 1963 ging es bei einer Havarie vor Argentinien über Bord und wurde zu nassem Kleinholz. Wahre Könner haben es wieder restauriert.

„Ich höre immer noch Grateful Dead“

Früher schrieb er über Jagger und Zappa, jetzt entstehen Romane über Mozart und Cellomusik. Hat sich Wondratschek mit den Jahren bürgerlich bemhigt? Der Autor wehrt sich gegen diese Annahme:

„Ich habe die klassisehe Musik keineswegs neu für mich entdeckt, sie ist nur in den Vordergrund getreten. Ich habe als Kind selbst Cello gelernt, lange bevor ich die erste Dylan-Platte hatte. Doch die Medien haben mich nun mal als Rock-Poeten inthronisiert.“

Es gebe keinen Bruch, allerdings verschlage es ihn von Zeit zu Zeit in andere Bereiche. Wondratschek: „Das Leben ist ein Festival der Zufälle. Aber der Autor von ,Mara‘ kennt sich immer noch sehr gut in ,Chucks Zimmer‘ aus. Ich höre immer noch Stones, Grateful Dead und Miles Davis. Aber eben auch Haydn. Vieles besteht nebeneinander.“

„In der Kunst ist man stets gefährdet“

Überdies gebe es Parallelen zwischen Komponisten, Cello-Virtuosen und Rockstars. Auch früher hätten Musiker in ihrer Kunst Dämonen heraufbeschworen und vielfach Drogen genommen. „Wenn man in der Kunst, egal in welcher, das Äußerste wagt, so ist man stets gefährdet; ganz gleich, ob am Schreibtisch, im Atelier oder auf der Bühne.“ Das heutige Konzertpublikum wisse von diesen Extremen meist nichts. Daher könne es weder diese Musik richtig verstehen noch einen Maler wie Immendorff. Wondratschek: „Man kann kein friedliches Familienleben führen und dann so denken wollen wie Nietzsche. Das Absolute ist kein Spaß!“

Ihm selbst sei seine Bordell-Thematik als Etikett angeheftet worden. Manche hätten naiv gerätselt, ob er schon mal ein Etablissement aufgesucht habe. Wondratschek: „Lächerlich! Ich bin nicht nur einmal trunken hineingewankt, sondern habe zehn Jahre auf St. Pauli gelebt, war mit Zuhältern und Mädchen befreundet. Ähnlich war es im Box-MiIieu. Ich war nie bloßer Tourist. Ich lasse mich auf Lebensumstände ein. Anders geht es auch gar nicht.“

Auch der Cello-Roman verlangte tiefes Eintauchen ins Thema. Wondratschek: „In den 300 Jahren ist unglaublich viel passiert. Es gab anfangs keine Sinfoniekonzerte im heutigen Sinn, Musik wurde nur im kleinen Kreis gespielt, sie war dem Adel vorbehalten. Also kommt die ganze Gesellschaftshistorie mit hinein. Und natürlich eine Liebesgeschichte…“




„Ich bereue gar nichts“ – Gespräch mit dem scheidenden Ruhrfestspiel-Intendanten Hansgünther Heyme

Von Bernd Berke und Arnold Hohmann

Recklinghausen. Seit 1990 leitet er die künstlerischen Geschicke der Ruhrfestspiele. Jetzt absolviert Hansgünther Heyme seine 13. und letzte Saison in Recklinghausen. Über das Ende dieser Ära, die Zukunft der Festspiele unter dem Dach der RuhrTriennale und über seine persönlichen Vorhaben sprach die Westfälische Rundschau (WR) mit dem Theaterchef.

WR: Spüren Sie so etwas wie Abschiedsschmerz?

Hansgünther Heyme: Eigentlich nicht. Obwohl die künstlerischen Verluste durch die von Gerard Mortiers Gnaden gestoppten Projekte wie „Saul“ spürbar sind. Das hat uns ganz hart getroffen. Insofern ist es auch ein Schmerz: Denn das, was wir in Zusammenarbeit mit Mortiers RuhrTriennale machen wollten, ist fehlgeschlagen. Trotzdem haben wir ein gutes Programm. Und meine Zeit in Recklinghausen war insgesamt gut und sinnvoll. Ich bereue gar nichts.

Die Abgründe der NRW-Kulturpolitik

WR: Haben Sie schon persönliche Pläne für die nächsten Monate?

Heyme: Noch nicht viel Konkretes. Es gibt da ein „Prometheus“-Filmprojekt, gemeinsam mit dem Autor Christoph Hein. Ansonsten ist es wegen der Geldknappheit die mieseste aller Zeiten, um wieder ins „freie Wasser“ zu springen. Es ist fürchterlich, dass die Landesmittel für Theater jetzt weiter gekürzt werden. Also, die Kulturpolitik des Landes ist für mich sowieso ein Abgrund. Ganz furchtbar! Ich bin ja einer der alten Kämpen, die sich immer für die Theater der Region eingesetzt haben. Es gab Konfrontationen mit Rau, mit Clement. Daher bin ich gestählt in Gefechten mit Düsseldorf. Und wir haben sehr viel ‚rausgeholt, oder wir haben das Schlimmste verhindert. Aber jetzt ist es noch viel schlimmer. Die „Schlachten“ mit Herrn Vesper (NRW-Kulturminister, d. Red.) müssten geschlagen werden – und zwar ganz groß, von allen Intendanten.

WR: Spüren Sie die Konkurrenz der diesmal zeitlich parallelen RuhrTriennale?

Heyme: Oh ja, sehr. Wir schaffen das zwar; aber nur, weil wir früher mit dem Vorverkauf begonnen haben. Als die bei der Triennale aufgewacht sind, hatten wir bereits viele Karten abgesetzt. Die Auslastung liegt bei 70 Prozent. Aber mit der Triennale ist es derzeit ein feindliches Gegeneinander, kein Miteinander. Auch der Spielplan der „Akzente“ in Duisburg ist eindeutig gegen Recklinghausen gerichtet, denn das Land hat das Zusammengehen der Revierfestivals unter dem Titel „T 7″ zerschmettert. Vernünftige Absprachen zwischen den Festivals gibt es seitdem nicht mehr. Aber man darf nicht nur die Triennale bezichtigen, das wäre lächerlich. Die Krise reicht tiefer: Die Menschen geben nicht mehr so leicht Geld für Theater aus.

„Mortier hatte vom Revier keine Ahnung“

WR: Wie geht es wohl weiter mit den Ruhrfestspielen?

Heyme: Ich wünsche den Ruhrfestspielen die Anwesenheit derer, die hier die Zukunft gestalten. Wenn die aber nie da sind, wird es schwierig. Außerdem hoffe ich, dass eine Art von politischer Theaterarbeit fortgesetzt wird. Frank Castorf (designierter Ruhrfestspiel-Chef, d. Red.) ist das zuzutrauen. Was Mortier betrifft: Wenn die nächsten Ruhrfestspiele beginnen, ist der schon gar nicht mehr da, sondern in Paris. Er kam damals von Salzburg und hatte keine Ahnung, wie teuer es ist, große Hallen im Ruhrgebiet zu bespielen. Teurer jedenfalls, als gemachte Betten in Salzburg zu lüften…

WR: Droht bei den Ruhrfestspielen ein Vakuum?

Heyme: Ja, natürlich. Der eine künstlerische Leiter geht, der andere ist noch nicht da. Dabei müsste Castorf längst am neuen Spielplan arbeiten und die hiesigen Strukturen kennen lernen. Bei mir hat er sich bisher nicht erkundigt.

WR: Haben Sie die Mensehen im Ruhrgebiet so erreicht, wie Sie es wollten?

Heyme: Im Großen und Ganzen ja. Manchmal war es ein schweres Ringen. Fremdsprachige Produktionen sind selten ausverkauft. Aber es ist wichtig, dass diese Theatergruppen zu uns kommen.

WR: Bleiben Sie im Revier?

Heyme: Ich hab‘ Schwierigkeiten mit Städten, in denen ich mal gearbeitet habe. Nach meiner Essener Intendanz habe ich dort nie wieder eine Inszenierung gesehen. Mit Recklinghausen wird es auch so sein. Am liebsten würde ich im Ausland inszenieren. Griechenland. Spanien. Weg vom deutschen Mief.

 




Religion darf die Welt nicht spalten – Gespräch mit dem Schriftsteller Thomas Hürlimann

Von Bernd Berke

Noch nie gab es auf ein Buch von Thomas Hürlimann (51) ein so vielfältiges Echo wie auf die Novelle „Fräulein Stark“, erschienen im Zürcher Ammann-Verlag. Ein Hauptgrund: Kritikerpapst Reich-Ranicki hatte dem Autor vorgeworfen, das Thema Judentum unangemessen nebensächlich behandelt zu haben. Schon über 50000 Exemplare wurden verkauft, die vierte Auflage wird gedruckt. Die WR sprach mit Hürlimann auf der Frankfurter Buchmesse.

Haben Sie mit einer solch breiten Reaktion auf ihr Buch gerechnet?

Thomas Hürlimann: Überhaupt nicht. Ich habe sogar mit dem Verleger gewettet, dass nicht mehr als 30000 Exemplare verkauft werden. Jetzt muss ich ihm und seiner Frau einen mehrtägigen Aufenthalt im Grand Hotel Victoria in Interlaken spendieren.

Das wird nicht billig.

Hürlimann (lacht): Bei der Auflage kann ich’s mir ja jetzt erlauben.

Marcel Reich-Ranicki hat behauptet, in Ihrem Buch werde die jüdische Herkunft des Ich-Erzählers so verborgen, dass man sie kaum bemerkt.

Hürlimann: Genau das ist ja das Thema: Dass die jüdischen Vorfahren des Jungen vor ihm verborgen werden, dass er es selbst erst langsam herausfindet. Wenn man von einem Lügner erzählt, muss man ihn lügen lassen. Erzählt man von einem Tabu, so muss es erst einmal bestehen. Da lässt man nicht gleich die Katze aus dem Sack.

Der Stoff ist stark autobiographisch gefärbt?

Hürlimann: Ja. Der Junge, der einen letzten Sommer als Bibliothekshelfer verbringt, bevor er acht Jahre lang in die Klosterschule kommt, das bin ich im Jahre 1963. Er kommt zwei Geheimnissen auf die Spur: dem anderen Geschlecht, indem er den Bibliotheks-Besucherinnen heimlich unter die Röcke schaut – und dem eigenen Geschlecht, also seiner familiären Herkunft. In der Schweiz sagen wir „Geschlechtsname“ statt „Familienname.

Das Fräulein Stark, die Haushälterin des Bibliothekars, ertappt den Jungen immer wieder und will ihn von sündigen Gedanken abbringen. Aber sie ist auch lebenslustig.

Hürlimann: Ja, auf eine versteckte Art. Es ist noch der Geist der 50er Jahre. Und sie hat katholisch motivierte Vorurteile gegen das Judentum. Das gab es bis in die 60er Jahre hinein. Die Schweiz hat so etwas wie einen Zusammenbruch des Faschismus nicht erlebt. Man sah keinen Grund, eine große Korrektur anzustellen. Man wähnte sich auf Seiten der Sieger.

Auch an Sie die Frage: Verändern die Terroranschläge des 11. September die Literatur?

Hürlimann: Literatur sollte nie derart ins Tagesgeschehen eingreifen. Aber Bücher, die so etwas erfassen können, sind immer schon geschrieben worden. Das, was in New York geschehen ist, ist ja fast archaisch. Quer durch die Weltliteratur gibt es Texte, die solche Katastrophen schildern – angefangen beim Alten Testament und bei Homer. Vorahnungen hatte Botho Strauß, den man vor einigen Jahren heftig attackiert hat wegen seines „Anschwellenden Bocksgesangs“, weil er von künftigen Kriegen schrieb und weil er gesagt hat, wir müssten Begriffe wie Soldat und Priester wieder ernst nehmen.

Haben Sie Strauß damals auch gescholten?

Hürlimann: Oh, nein. Ich selbst habe zehn Jahre in Berlin-Kreuzberg gelebt. Mit den türkischen Nachbarn verstand ich mich eigentlich gut. Doch eines Tages wurde der Tochter verboten, mich zu grüßen, weil ich kein Moslem bin. Wenn wir Bier tranken, durften sie alle nicht mehr das Glas verwenden, das ich als „Ungläubiger“ benutzt hatte. Das war so ein schleichender Vorgang, es entstand da eine Frontlinie, da riss etwas auf.

Die Klosterschule schwebt als ständige Bedrohung über dem Jungen in ihrer Novelle. Haben Sie dort einen „christlichen Fundamentalismus“ kennen gelernt?

Hürlimann: Es war sehr ideologisch. Das hat ja auch etwas Großartiges, dass man an ein Jenseits glaubt. Dass ich diesen Glauben verloren habe, empfinde ich auch als Verlust. Aber wenn Religion die Welt in Gut und Böse einteilt, dann sage ich: Rette sich, wer kann!




„Schreiben ist für mich eine Lust“ – Gespräch mit Wilhelm Genazino

Von Bernd Berke

Mit seinem Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ hat Wilhelm Genazino nicht nur das „Literarische Quartett“ im ZDF überzeugt. Die Geschichte eines arbeitslosen Stadt-Flaneurs, der auf seinen Wegen gelegentlich gegen Entgelt Luxus-Schuhe testet, registriert allerlei „Merkwürdigkeiten“ unseres täglichen Lebens. Unaufdringlich, aber höchst eindringlich. Die WR traf Genazino am Buchmessestand des Carl Hanser Verlages.

Die unvermeidliche Frage dieser Tage: Müssen sich Autoren nach den Terroranschlägen vom 11. September thematisch neu orientieren?

Wilhelm Genazino: Nein. Wer das fordert, ist töricht. Die Literatur kann doch nicht unentwegt den Terror nachspielen. Man hat ja immer noch wenigstens ein Bein im normalen Leben. Wenn es nur noch Bücher über Terror gäbe, dann wäre der wirkliche Terror ausgebrochen.

Und was sagen Sie zum Befund, die Spaßgesellschaft sei nun vorüber, eine neue Ernsthaftigkeit müsse einkehren?

Genazino: Die „Spaßgesellschaft“ war sowieso immer eine Fiktion, die Erfindung einiger Medienvertreter. Gucken Sie sich nur die Hauptquelle unseres angeblichen Spaßes an, das Fernsehen. Wie todtraurig ist das, wie lustlos. Bald wird es uns allen zum Hals heraushängen. Immer mehr Menschen wenden sich davon ab…

Manche Kritiker halten Ihnen vor, sie hätten sich nach Ihrer „Abschaffel“-Romanreihe über das Leben der Angestellten von der sozialen Wirklichkeit entfernt.

Genazino: Das stimmt einfach nicht. In meinem neuen Buch geht es um seelische Folgen eines der zentralen Probleme der Gegenwart: Arbeitslosigkeit. Meine Eltern sprachen noch von einer „Lebens-Stellung“. So etwas gibt es heute kaum noch. Die Schleuderbewegung der Arbeitsgesellschaft wird immer mächtiger. Sie erfasst auch meinen Erzähler: Die Arbeit trägt sein Leben nicht mehr, er droht abzugleiten. Er bekommt Identitäts-Probleme, lebt nur noch nach innen. Identität bedeutet ja auch: zu wissen, was man arbeitet. Arbeit konturiert und erdet das Leben.

Wie sehr steigern Sie sich in eine solche Figur hinein?

Genazino: Eigentlich überhaupt nicht. Ich setze meine Ideen mit einiger Coolness um. Es ist eben schon mein 18. Buch. Inzwischen ist das Schreiben ein äußerst sachlicher, handwerklicher Vorgang. Man fällt nicht mehr vom Stuhl vor lauter Erregung oder Einfühlung. Wenn ich hitzig schriebe, ginge es schief. Dann hätte ich ein nasses Hemd, aber kein Buch. Ich bin auch kein Quäl-Schreiber, schreiben ist für mich eine Lust.

Sie veröffentlichen seit rund 30 Jahren Bücher. Im „Literarischen Quartett“ hat Marcel Reich-Ranicki bekannt, erstmals etwas von Ihnen gelesen zu haben…

Genazino: Tja, was soil man dazu sagen. Es ist sehr merkwürdig, aber ich kann mich nicht so recht darüber erregen. Autoren meines Schlages führen eben eine Geheimtipp-Existenz. Der Schriftsteller-Beruf gleicht ohnehin einer Achterbahnfahrt. Ich sage auch bei Schreibseminaren den jungen Leuten immer wieder: „Denken Sie daran, niemand außer Ihnen selbst verlangt, dass Sie Schriftsteller werden. Niemand wartet auf Sie. Es gibt bereits Abertausende von Schriftstellern.“

Gibt es zu viele?

Genazino: Im Gegenteil. Es sollte noch mehr geben. Irgendwann kann dann vielleicht jeder Leser den ihm gemäßen Autor finden, fast bis hin zur hundertprozentigen Identität. Das wäre ein Zeichen von hoher Kultur!




„Herbert Knebel ist kein Kotzbrocken“ – Gespräch mit dem Komiker Uwe Lyko über seine Revier-Figur

Von Bernd Berke

„Herbert Knebel“, der Ruhrgebiets-Frührentner mit Prinz-Heinrich-Mütze, Trevira-Jacke und Hornbrille, ist samt „Affentheater“ wieder auf Tour: Zumal über Auswüchse des Strukturwandels im Revier kann sich Knebel alias Uwe Lyko auf der Bühne mächtig komisch aufregen.

Vor vielen Jahren gab’s mal in Berlin eine dann konsequent abgesagte Veranstaltung mit null (!) Zuschauern. Doch längst sind „Knebel“ und Gruppe populär – zumal in der Region. Die WR traf Uwe Lyko (46) in der Essener „Zeche Carl“ zum Interview.

Wie verwandelt sich Uwe Lyko in Herbert Knebel?

Uwe Lyko: Ich merke eigentlich nichts davon. Ich setz‘ Kappe und Brille auf und bin hinterm Vorhang noch Uwe Lyko. Dann geht das Licht im Saal aus, ich nehme eine andere Körperhaltung an, eine andere Stimme. Dann bin ich auf einmal Herbert Knebel. Was da vor sich geht, könnt‘ ich nicht sagen.

Wie kann man’s nennen: Kabarett? Comedy?

Lyko: Dat hat von allem wat. Als wir angefangen haben, da gab’s den Begriff Comedy in Deutschland noch gar nich‘. Wir haben uns damals Musiktheater genannt so wie „N8chtschicht“ in Dortmund. Dann hat Knebel immer mehr Raum eingenommen, und der hat durchaus kabarettistische Züge. Der ist nicht nur reiner Komödiant. Er ist auch Geschichten-Erzähler. Egal. Hauptsache, die Leute lachen.

Woher nehmen Sie den Ruhrgebiets-Sound? Kneipe, Kiosk, Stadion?

Lyko: Ach, den hat man ja teilweise selber. Ich bin in Duisburg aufgewachsen. Und ich hab ne schrullige Oma. Von der hab ich so’n bisschen die Sprache übernommen, weil die sonne ungelenke Ausdrucksweise hat – wie viele Leute im Ruhrgebiet, die mit der Grammatik kämpfen müssen und dabei witzigerweise eine eigene Grammatik entwickelt haben. Ich mach‘ mich nich‘ drüber lustig. Ich bin ja selber so.

Ist Knebel im weiteren Sinn eine proletarische Figur?

Lyko: Ach, dat weiß ich nich. Der Knebel ist nicht am Reißbrett entstanden, sondern intuitiv. Übrigens ist er kein Kotzbrocken. Er ist zwar ständig am Rumnörgeln. Er hat aber wat Menschliches. Sonst hätte die Figur nie diesen Erfolg gehabt.

Inzwischen haben Sie einen Plattenvertrag mit dem Konzern Sony Music. Was hat sich dadurch verändert?

Lyko: Gar nix. Wenn Sony morgen sagt: Wir wollen euch nicht mehr; dann sagen wir: Ja, und? Einmal drängten die, dass wir endlich ’n Hit machen. Da haben wir gesagt: Nee! Wir verdienen ja unser Geld live, kaum mit CDs.

Könnte Knebel ein „Verfallsdatum“ haben? Weil sich das Ruhrgebiet so entwickelt, dass die Figur nicht mehr funktioniert?

Lyko: Das kann passieren. Aber er wirkt nicht nur, weil er Ruhrgebiets-Dialekt spricht, sondern auch als Typ. Er ist kein Auslaufmodell.

Ganz am Anfang Ihrer Laufbahn haben Sie auch mal mit Helge Schneider auf der Bühne gestanden…

Lyko: Ja, damals kannte uns noch kein Mensch. Privat war’s sehr witzig, aber mit dem Helge kann man nicht zusammenarbeiten. Unmöglich! Der ist viel zu chaotisch – was ja auch einen Teil seiner Genialität ausmacht.

Beim Gelsenkirchener Gastspiel im Schatten der Schalke-Arena kamen Buhrufe, sobald die Worte Dortmund oder Borussia fielen.

Lyko: Es iss einfach so, dat ich Borussia-Fan bin. Seit meiner .Kindheit. Und ich bin kein Populist, der extra für Gelsenkirchen eine Schalke-Nummer schreibt.

Sie kommen auch nach Südwestfalen. Klappt dieser Komik-Export?

Lyko: Es gibt da keine Humorgrenze. Im Gegenteil. Im Sauerland gibt’s ein sehr euphorisches Publikum. Das Sauerland iss richtich klasse!




„Der Mensch entgleitet sich immerzu“ – ein Gespräch mit dem Schriftsteller Dieter Wellershoff

Von Bernd Berke

Frankfurt. Der in Köln lebende Dieter Wellershoff zählt seit Jahrzehnten zu den am meisten beachteten deutschen Autoren. Er hat nicht nur zahlreiche Romane, Novellen und Hörspiele verfasst, sondern ist auch als gewichtiger Theoretiker der Roman-Gattung hervorgetreten.

Am 3. November wird Wellershoff 75 Jahre alt – auch aus diesem Anlass ein Gespräch über seinen neuen Roman „Der Liebeswunsch“, geführt am Buchmessestand seines Verlages Kiepenheuer & Witsch.:

In ersten Kritiken zu Ihrem Buch ist bemerkt worden, es ähnele in gewisser Weise Goethes „Wahlverwandtschaften“: Zwei miteinander befreundete Paare, zwischen denen zunächst ein labiles Gleichgewicht herrscht, das dann durch Treuebruch aus der erotischen Balance gerät.

Dieter Wellershoff: Solch eine Vierer-Dramaturgie gibt es in der Tat auch in den „Wahlverwandtschaften“. Es ist aber auch eine Grundstruktur des Lebens. Goethe sieht eine anonyme Schicksalshaftigkeit walten, eine Art Chemie. Meine Figuren sind zwar auch Getriebene. es sind aber auch Elemente von Wahlfreiheit und Zufall dabei. Mein Roman hatte einen langen Vorlauf. Über anderthalb Jahrzehnte habe ich mich mit dem Thema beschäftigt, es hat allmählich immer mehr Stoff aufgesaugt. Es begann damit, dass sich eine Frau aus unserem ferneren Bekanntenkreis aus dem Hochhaus gestürzt hat – so wie meine Romanfigur Anja.

Sie ist das Opfer der Vierer-Konstellation…

Wellershoff: Ja. Ich verstehe den Menschen als Lebewesen, das sich immerzu entgleitet – im Gegensatz zum Tier, das immer dasselbe tut, will und fühlt. Deshalb kann sich der Mensch auch in beliebigen Möglichkeiten verlieren. Oder er kann in falschen Notwendigkeiten feststecken, zum Beispiel in einer unglücklichen Ehe. Während der Leser gleich am Anfang weiß, dass Anja sich umgebracht hat und dann erfährt, wie es dazu gekommen ist, machen die Figuren ihre Erfahrungen schrittweise – im „Dunkel des gelebten Augenblicks“, wie der Philosoph Ernst Bloch einmal gesagt hat.

Sie erzählen abwechselnd aus den Perspektiven Ihrer Figuren. Auf welche Person bezieht sich der Titel „Der Liebeswunsch“? Auf alle?

Wellershoff: So kann man es sehen. Explizit aber nur auf Anja, sie ist abhängig von Emotionen, sie heiratet aus Lebensangst. Sie ist wie eine Leerstelle, Liebe kommt ihr wie die letzte Rettung vor. Von dieser Ausschließlichkeit fühlen sich die anderen bedroht, sie wollen nicht verschlungen werden. Diese anderen haben ja praktischen Lebenserfolg. Anjas Mann Leonhard ist Richter, er wird zum Gerichtspräsidenten befördert. Paul, der ihr Geliebter wird, und seine Frau Marlene sind Ärzte.

Es gab zuvor längere Zeit keinen Roman von Ihnen .

Wellershoff: Der letzte liegt 17 Jahre zurück, ich hatte viele andere Projekte. Mit diesem neuen Roman bin ich übrigens sehr zufrieden. Ich werde in einigen Tagen 75 Jahre alt – und ich glaube nicht, dass man das dem Buch anmerkt. Es ist kein „Alterswerk“ mit den Spuren meines Alters.

Sie kommen bei Ihrem Thema nicht umhin, Sexualität zu schildern.

Wellershoff: Im 19. Jahrhundert hat man diesen Bereich nie dargestellt. Von Henry Miller bis Harold Brodkey ist es dann oft ziemlich rücksichtslos geschildert worden. In Brodkeys Text „Unschuld“ wird über 40 Seiten ein einziger Koitus vorgeführt: Ein Mann bemüht sich, eine frigide Frau zum Orgasmus zu bekommen. Das ist meine Sache nicht. Für mich ist Sexualität kein rein körperlicher Vorgang.




Die Poesie und die Kasse – Gespräch mit dem Schauspieler Bruno Ganz zum Angelopoulos-Film und zum „Faust“-Projekt

Von Bernd Berke

Seit seinen Auftritten in Peter Steins großen Schaubühnen-Inszenierungen der 70er Jahre zählt Bruno Ganz (57) zur allerersten Garde der Schauspielkunst. Der Träger des Iffland-Ringes hat auch mit berühmten Filmregisseuren wie Eric Rohmer („Die Marquise von O“), Wim Wenders („Der Himmel über Berlin“) und Volker Schlöndorff gearbeitet. Ab heute ist er in Theo Angelopoulos‘ Film „Die Ewigkeit und ein Tag“ im Kino zu sehen.

Bruno Ganz spielt den ergrauten griechischen Dichter Alexandros, der mit einem albanischen Flüchtlingsjungen durch reale und imaginäre Grenzgebiete streift. Der abschiedsschwere, vorwiegend melancholische Film errang die „Goldene Palme“ in Cannes. Die WR sprach mit Bruno Ganz in Köln.

Eigentlich scheuen Sie Interviews. Jetzt machen Sie Ausnahmen. Sind Sie vom neuen Film besonders überzeugt?

Bruno Ganz: Auf jeden Fall. Vor allem in Relation zu dem, was derzeit sonst so im Kino gezeigt wird. Als ich den fertigen Film in Cannes zum ersten Mal sah, war ich sogar selbst ein wenig gerührt.

Zählt auch die heute so außergewöhnliche Langsamkeit zu den Qualitäten?

Ganz: Für mich ist dieser Erzähl-Rhythmus tief eingebettet und unerläßlich für dieses Thema. Es geht ja um die Grenzen zwischen Leben und Tod, es werden biographische Verluste registriert. Aber der alte Dichter bekommt auch die Möglichkeit, sich dem Kind gegenüber noch einmal zu öffnen und ungeahnte Zuwendung zu erfahren. Auch die wirkliche Grenze wirkt hier metaphorisch, irreal, wie eine Projektion von Angst. Es sind Bilder, die bleiben. Bilder, die ungeahnte Räume und Zeiten öffnen. Das ist Poesie fürs Kino. Daß Angelopoulos solche Sichtweisen“ nicht aus kommerziellen Erwägungen aufgibt, obwohl er wohl dazu gedrängt wird – allein das ist eine enorme Qualität.

Wie verlief denn die Zusammenarbeit am Drehort?“

Ganz: Ungewöhnlich. Angelopoulos mag es nicht, wenn gegessen wird bei den Dreharbeiten. Es gab nicht mal ein Klo. Wir mußten halt in die Büsche gehen. Dazu die Wartezeiten. Zwischendurch wurde mal eine ganze Woche nicht gedreht. Aber ich hatte viele Reclam-Büchlein dabei und habe dann gelesen. Es war asketisch, aber auch dagegen habe ich nichts. Und es war keine Willkür des Regisseurs, ich habe nie das Vertrauen zu ihm verloren. Im Gegenteil.

Hat es ein solcher Film schwerer als vor 20 Jahren?

Ganz: Damals war die Abrechnung an der Kasse nicht so prompt. Jetzt zählt nur noch der Mainstream. Heute bekommen Leute nach einem Mißerfolg Probleme, ihren nächsten Film zu machen. Sachen ausprobieren, auf eine eigene Art und Weise erzählen das ist viel schwerer geworden.

Gehen Sie oft ins Kino?

Ganz: Sehr gezielt. „Titanic“ habe ich nicht gesehen. Aber einen wunderschönen Dokumentarfilm über die Tibeter.

Aber Sie ertragen schlechtes Kino noch eher als schlechtes Theater?

Ganz: Ja. Schlechtes Theater ist mir völlig unerträglich. Es tut körperlich weh. Ich gehe oft vorzeitig ‚raus – ganz leise natürlich. Ich dürfte das eigentlich nicht tun, aber ich halt’s oft nicht mehr aus…

Interessiert es Sie noch, was aus der „Schaubühne“ in Berlin wird, wenn der junge Thomas Ostermeier sie leitet?

Ganz: Na, wir werden ja sehen, was draus wird. Jedenfalls ist jetzt endlich eine Linie erkennbar – nach all dem Herumschwanken in den letzten Jahren. Das ist schon mal gut.

Peter Steins gigantisches „Faust“-Projekt mit Ihnen in der Titelrolle soll zur Expo 2000 in Hannover herauskommen und nicht weniger als sechs Abende umfassen. Wann beginnt die Arbeit?

Ganz: Wir treffen uns demnächst zum Vorgespräch. Ich will bald anfangen, den Text zu lernen. Dann werde ich zwei Jahre lang nur mit „Faust I und II“ beschäftigt sein. Jeder Akt im Faust II ist ja ein eigenes Stück. Ein solches Projekt wird es wohl nie mehr geben.




„Ich bin kein Brandstifter“: Gespräch mit Martin Walser – über seinen Roman und seine Friedenspreis-Rede

Von Bernd Berke

Dortmund. Mit seinem Roman „Ein springender Brunnen“ hat Martin Walser (71) einen grandiosen Erfolg erzielt. Lesepublikum und Presse waren beeindruckt von dieser stark autobiographisch geprägten Geschichte einer Dorf-Kindheit in der NS-Zeit.

In die politische Diskussion geriet Walser durch seine am 11. Oktober gehaltene Frankfurter Rede zur Friedenspreisverleihung des Deutschen Buchhandels, in der er sich gegen allzu eingefahrene Wege der „Vergangenheitsbewältigung“ und gegen die „Instrumentalisierung von Auschwitz für gegenwärtige Zwecke“ wandte. Daraufhin warf ihm Ignatz Bubis (Zentralrat der Juden in Deutschland) „geistige Brandstiftung“ vor. Jetzt las Walser im Dortmunder Harenberg City-Center (Mitveranstalter: Westfälische Rundschau und Buchhandlung Krüger) aus seinem Roman. Bei dieser Gelegenheit sprach die WR mit ihm.

Haben Sie mit derart barschen Reaktionen auf Ihre Frankfurter Friedenspreis-Rede gerechnet?

Martin Walser: Natürlich nicht. Mit so etwas kann man nicht rechnen. Solche Wörter können einem ja vorher nicht einfallen, mit denen man da beworfen wird. Wenn mich jemand als „geistiger Brandstifter“ bezeichnet, dann ist das seine Sache. Ich kann das gar nicht kommentieren, weil ich es auch nicht verstehen kann. Und mich mit Rechtsradikalen wie Frey und Schönhuber zu vergleichen, weil die angeblich „auch nichts anderes sagen“… Da habe ich ein anderes Sprachverständnis.

Sind Sie verbittert?

Walser: Verbittert nicht, aber entsetzt. Ich bin doch kein Dauerobjekt für Beleidigungen! Zum Glück gab es ja auch unendlich viele andere Reaktionen, so wie noch nie. Das Thema hat sich noch lange nicht erledigt. Die Affäre wird in der Entwicklung dieses Themas in diesem Land eine Wirkung haben – welche, das bleibt abzuwarten.

Ihr Roman ist fast durchweg begeistert aufgenommen worden. Waren Sie erstaunt?

Walser: Mh. Das darf mich nicht erstaunen. Es hat mich unheimlich gefreut. Ich habe noch nie so rasch so viele briefliche Leser-Reaktionen bekommen. Ich war mir ja beimSchreiben des Romans eines gewissen Risikos bewußt. Es hat mich gerührt, daß die meisten meine Auffassung teilen, daß man auf diese Art über „damals“ schreiben kann.

Ein paar wenige Rezensenten haben moniert, Sie hätten die Schrecken des NS-Regimes nicht erwähnt.

Walser: Ja. Das ist absurd. Dieses NS-Regime kann auch auf andere Weise vorkommen, ohne daß das Stichwort „Auschwitz“ fallen muß. Wer das zu einem Pensum macht, zu einer Pflichtaufgabe, der muß damit rechnen, daß er nur Lippenbekenntnisse bekommt. Die meisten haben aber begriffen, daß in meinem Text die NS-Zeit präsent ist, so wie sie aus der Perspektive des Kindes Johann präsent sein konnte.

Was bedeuten Lesereisen für Sie? Eher eine Last oder eine Chance, vom Publikum etwas zu bekommen?

Walser: Ich mache solche Reisen vielleicht zu oft. Ich werd s sicher nicht mehr sehr lange machen, aber diesmal schon noch. Ich probiere den Text eben gerne in Sälen. Man weiß ja nie so genau, wie die Leute reagieren. Ich hatte es mir diesmal sehr schwer vorgestellt. Meine bisherigen, oft neurotischen Romanhelden habe ich pointiert dargeboten. Das hat den Leuten eingeleuchtet, da haben sie sich wiedererkannt. Jetzt hab ich diesen fünfjährigen Johann im Jahr 1932. Da war ich nicht so sicher, ob das überhaupt vorzulesen ist. Doch es geht, sehr gut sogar. Ich muß sagen: Die Leute in diesem Land sind einfach fabelhaft. Da redet man immer vom Fernsehen – und dann kommen Abend für Abend viele hundert Menschen zu den Lesungen und hören zu und reagieren unheimlich lebendig. Toll! Es gibt noch eine literarische Gesellschaft. Das hat kein bißchen abgenommen. Wer das Gegenteil behauptet, hat keinen Kontakt mit der Wirklichkeit.

Vielleicht sind Sie eine rühmliche Ausnahme?

Walser: Nein, nein. Drei meiner vier Töchter schreiben ja auch. Sehr verschieden voneinander – und keine wie ich. Eine von ihnen schreibt sogar viel schöner, poetischer und schwieriger als ich. Und doch macht sie bei Lesungen ähnlich gute Erfahrungen.

Eine erstaunliche Familie. Haben Sie Ihre Töchter Johanna, Alissa und Theresia als Kinder zum Schreiben angehalten?

Walser: Um Gottes Willen, nein. Nicht einmal zum Lesen. Es ist halt so gekommen. Außerdem ist die Sache nicht so heiter, wie sie klingt: Ich kenne den Preis des Schreibens. Man schreibt nicht, weil es einem gut geht. Im Gegenteil.

Eigentlich wollten Sie ja keine Interviews mehr geben.

Walser: Nun ja, diese Kommentierungs-Funktion wird einem „über“ – daß man immer seine eigenen Sachen auslegen soll. Im Gegensatz zum Interview kommt beim Roman keine bestimmte Meinung heraus. Ein Roman bewegt sich schwebend und landungsscheu…

 




Die Räume der Literaten – Interview mit der Fotografin Herlinde Koelbl

Von Bernd Berke

Herlinde Koelbl zählt zu den renommiertesten Fotografinnen weit und breit. Zur Frankfurter Buchmesse, wo die WR mit ihr sprach, hat sie den aufwendigen Band „Im Schreiben zu Haus“ (Knesebeck-Verlag, 98 Mark) veröffentlicht. Sie hat dafür in den letzten Jahren 42 wichtige deutschsprachige Schriftsteiler daheim besucht – von Handke bis Simmel, von Walser bis Ernst Jünger, von Rühmkorf bis Elfriede Jelinek. In Bildern und Gesprächen spürt sie der Frage nach: Wie und wo entsteht unsere hohe Literatur?

Sie haben unter den Autoren Tag- und Nachtmenschen getroffen. Solche, die stets rastlos auf Reisen gehen, und solche, die lieber seßhaft sind?

Herlinde Koelbl: Ja, das sind gewisse Trennlinien. Und dennoch scheinen alle etwas gemeinsam zu haben, das schwer zu benennen ist. Schreiben als eigentliches Zuhause. Es sind jedenfalls drei Generationen von Schriftstellern. Die Älteren schreiben oft noch mit Bleistift oder Füllfederhalter, wie etwa Sarah Kirsch. Martin Walser benutzt Kugelschreiber, die auch kopfüber funktionieren, seit er einmal einen Bandscheibenschaden hatte und im Liegen schreiben mußte. Er schnürt seine Manuskripte mit Bindfäden zusammen. Und Ingo Schulze, ein jüngerer Autor, umarmt auf dem Foto seinen Computer. Es ist wie eine Liebesbeziehung zum Schreibgerät.

Wie ist die Idee zu diesem Buch entstanden?

Koelbl: Ursprünglich wollte ich nur Hände fotografieren. Schriftstellerhände. Die drücken sehr viel aus. Sehen Sie sich zum Beispiel die Hände von Ernst Jünger oder Hermann Lenz an. Sie vermitteln eine Ahnung von Großbürgerlichkeit, wie es sie heute nicht mehr gibt. Bei Peter Handke hatte ich mir ganz feingliedrige Finger vorgestellt, dabei hat er richtig männliche Hände – mit deutlichen Spuren der Gartenarbeit… Aus der Idee mit den Händen hat sich alles Weitere entwickelt. Die Handschriften, der hand-werkliche Aspekt des Schreibens…

Sie haben die Schreib-Zimmer fotografiert, die Schreibtische. Gibt es Entsprechungen zwischen diesen äußerlichen Situationen und den Werken?

Koelbl: Wahrscheinlich ja. Das Zimmer von Friederike Mayröcker ist über und über angefüllt mit Papierbergen. Andererseits gibt es ganz karge, leere Schreibtische, beispielsweise bei Reiner Kunze. Peter Handke hat verschiedene Schreibzimmer, eines wirkt tatsächlich wie eine Mönchs-Zelle. Wahrscheinlich hat dies einiges mit der Arbeitsweise und dann auch mit dem Werk zu tun.

Etliche Autoren sagen, daß sie eigentlich gar nicht gern schreiben.

Koelbl: Die meisten Bücher entstehen unter großen Qualen und schmerzlichen Umwegen. Und doch gibt es bei allen Schriftstellern immer wieder dieses ungeheure Glücksgefühl, das alle Qualen vergessen läßt, wenn das Werk gelungen ist.

Manche Schriftsteller, beispielsweise Sten Nadolny oder der inzwischen verstorbene Jurek Becker, haben Ihnen sehr viel über sich verraten. Über ihre Antriebe und Hemmnisse. Auch über Depressionen und Ängste.

Koelbl: Ja, das waren zwei besonders intensive Gespräche. Vielleicht kann ich recht gut zuhören. Und vielleicht braucht man den „sechsten Sinn“, die richtige Mischung aus Denken und Fühlen. Genug davon. Das ist ja eine Erfahrung, die auch viele Schriftsteller gemacht haben: Wenn man zu sehr über die Mechanik seiner Fähigkeiten nachdenkt, gehen sie eventuell verloren –  wie bei dem Ballettänzer, der seine Schritte erklären will und sie dann nicht mehr ausführen kann.




„Meine Figuren sollen nicht lange leiden“ – Interview mit der Krimiautorin Ingrid Noll

Von Bernd Berke

Ingrid Noll (63) ist die mit Abstand erfolgreichste Krimi-Autorin Deutschlands. Mit Büchern wie „Der Hahn ist tot“, „Die Apothekerin“ und „Kalt ist der Abendhauch“ stand sie jeweils Monate lang auf den Bestsellerlisten. Auch ihr neuer Roman „Röslein rot“ (Diogenes, 39 DM) schaffte wieder den Sprung auf Platz zwei – gleich hinter Donna Leons „Sanft entschlafen“. Ein famoser Doppelerfolg für den Züricher Diogenes-Verlag, der beide Krimi-Ladies unter Vertrag hat. Die WR traf Ingrid Noll auf der Frankfurter Buchmesse.

Sie haben erst im Alter von 55 Jahren mit dem professionellen Schreiben begonnen und erzielen Spitzenauflagen. Haben Sie ein Erfolgsgeheimnis?

Ingrid Noll: Ich habe einfach Spaß am Schreiben. Das teilt sich den Lesern offenbar mit.

Haben andere Autoren denn keinen Spaß an ihrer Tätigkeit?

Noll: Viele quälen sich fürchterlich und haben Angst vor dem leeren Blatt Papier. Das Gefühl kenne ich überhaupt nicht. Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich eben nicht.

Warum werden in Ihren Büchern eigentlich so viele Männer zur Strecke gebracht?

Noll: Ja, das glauben die meisten. Wenn Sie mal in allen Bänden durchzählen, stimmt das gar nicht. Die Morde an Männern und an Frauen halten sich ungefähr die Waage.

In „Röslein rot“ erzählen Sie die Geschichte der frustrierten Ehefrau Annerose, die durch Familie und Hausarbeit beruflich viel zu kurz gekommen ist. Sie selbst haben drei Kinder und haben viele Jahre lang Ihrem Mann in der Arztpraxis geholfen. Ist diese Annerose etwa ein Selbstporträt?

Noll: Nein, nein! Ich bin nicht „zu kurz gekommen“. Ich habe drei Kinder, und alle waren keine „Pannen“. Im Gegenteil: Sie waren und sind mir viel wichtiger als meine Bücher.

Die Ehe dieser Annerose zerbröselt zusehends – bis hin zu Mordgedanken. Sehen Sie die Ehe als Schlachtfeld?

Noll: Ich selbst bin seit 39 Jahren verheiratet – und es geht immer noch gut. Allerdings war ich oft Beichtschwester für Bekannte und Freundinnen. Was ich da so gehört habe… Und auch mein Mann hat einiges aus seiner Praxis erzählt. Gerade Frauen, die man für glücklich hielt, zeigten ihm ihre blauen Flecken. Übrigens verwende ich so etwas nicht in meinen Büchern. Höchstens indirekt, verfremdet.

In „Röslein rot“ geschieht nur ein einziger Mord. Früher ging‘s reihenweise zur Sache.

Noll: Ach, ich war das viele Blut ein bißchen leid. Das heißt aber nicht, daß es beim nächsten Mal wieder so kommt. Ich lasse mich da ungern festlegen…

Mordaufklärung kommt bei Ihnen so gut wie nie vor, so als gäbe es gar keine Polizei, keine Kommissare…

Noll: Das interessiert mich auch nicht so sehr. Ich habe mich jetzt mal in einem Polizeipräsidium umgesehen. Ich fand es ziemlich langweilig. Die saßen ja alle nur an Computern.

Gibt Ihnen Ihr Mann schon mal Tipps in Sachen realistischer Morde?

Noll: Selbstverständlich. Ich frage ihn bei allen Todesarten. Auch weil ich will, daß die Figuren nicht so leiden müssen, sondern schnell tot sind. Manchmal sitzen wir ganz idyllisch in unserem Garten und überlegen, wie man Menschen um die Ecke bringt.. .(lacht).

Empfinden Sie Genugtuung über den Erfolg?

Noll: Dafür bin ich ein bißchen zu alt. Es steigt mir nicht mehr so zu Kopf. Ich stell’s mir schlimm vor, wenn jemand mit 20 schon ganz viel Erfolg hat. Denken Sie an Sportler oder Sänger. Und wenn die 30 sind, kräht kein Hahn mehr danach. Die verfallen dann in Depressionen, sind selbstmordgefährdet. In meinem Alter ist man dagegen gefeit. Dann weiß man: Herrgott, so was Besonderes bist du nun auch wieder nicht. Und irgendwann interessiert sich auch wieder keiner mehr für dich. Ich wäre nicht trübsinnig, wenn’s aufhört. Das ist nur ein kleiner Aspekt in meinem Leben – und nicht der zentrale.




Als die Rebellion noch ganz frisch war – Gespräch mit dem Autor F. C. Delius über seinen neuen Roman zur Studentenrevolte

Von Bernd Berke

Die Werkliste des Friedrich Christian Delius (54) ist lang. Das Spektrum reicht von herzhaften Attacken auf Konzerne („Unsere Siemens-Welt“, 1972) bis zum Romanzyklus über den „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977. In „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (1994) schilderte Delius die Gefühle eines kleinen Jungen zur Zeit der Fußball-WM 1954. Sein neuer Roman „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ (Rowohlt-Verlag) spielt 1966, im Vorfeld der 68er Studenten-Rebellion. Ein Gespräch mit F. C. Delius auf der Frankfurter Buchmesse:

Warum die Revolte der 60er Jahre als Romanthema? Aus Nostalgie?

F. C. Delius: Ich bin im Grunde kein „68er“, sondern ein „66er“. 1966 fing die enorme geistige und kulturelle Bewegung an und erweiterte sich dann aufs Gebiet der Politik. Demonstrationen hatten noch einen ganz schlichten moralischen Impuls. Und eine dieser allerersten Demonstrationen – im Februar 1966 vor dem Amerikahaus in Berlin – versuche ich zu beschreiben. 1968 gab es bereits eine Verengung. Da waren viele schon überzeugt bis zur Selbstüberschätzung und sprachen von Revolution. Der Aufbruch ist eine Sache von 1966. Das war noch frei von Dogmatismus und Ideologie, es war die Erweiterung des Horizonts. Der erste Blick nach Vietnam…

Ihre Trilogie zum „Deutschen Herbst“ und das „Weltmeister“-Buch liegen vor. Jetzt also 1966. Haben Sie eine komplette Roman-Chronik der Republik im Sinn?

Delius: Den Ehrgeiz habe ich nicht. All diese Bücher haben sich aus ganz persönlichen Fragestellungen entwickelt. Mit den Romanen zum „Deutschen Herbst“ wollte ich meine Lähmung und meine Hilflosigkeit erkunden. Das „Weltmeister“-Buch hat mit meiner Kindheit zu tun.

Sie verknüpfen in Ihrem neuen Roman die politischen Vorgänge mit den sexuellen Problemen Ihrer Hauptfigur. Dieser Martin ist überaus schüchtern und kommt nicht recht an die Mädchen heran.

Delius: Es geht mir nicht nur in politischer Hinsicht um das Öffnen des Blicks, das Öffnender Person. Ich finde, daß immer ein Zusammenhang besteht zwischen dem Sexualleben und den politischen Gefühlen und Gedanken.

Im „Literarischen Quartett“ ist das Buch vor ein paar Tagen recht gut weggekommen. Aber die „Frankfurter Allgemeine“ hat Ihnen vorgehalten, Sie hätten „Ich war dabei“-Literatur geschrieben.

Delius: Das finde ich eher amüsant. Meine Figur ist ja gerade kein Held, sondern ein relativ schwacher Mensch mit einigen Macken. Er entspricht nicht dem Klischee, das sich von den 68ern gebildet hat. Damals waren viele arme Würstchen dabei, die trotzdem was bewegt haben und was Richtiges gedacht haben.

Für wen haben Sie das Buch in erster Linie geschrieben: Für die Apo-Generation, oder eher für jüngere Leute?

Delius: Ich denke beim Schreiben zunächst mal nicht ans Publikum. Ich muß erst gucken, daß das, was ich mir vorgenommen habe, auf die Reihe kommt. Erst dann kann es auf andere wirken. Aber gerade jüngere Leute finden das Buch glaubwürdig, weil ich nicht das Heldenepos eines fertigen Jung-Revoluzzers geschrieben habe, sondern von einem erzähle, der skeptisch beobachtet, der Angst hat und Scham kennt.

Was sagen Sie zu den landläufigen Vorwürfen, die deutsche Gegenwartsliteratur sei nicht welthaltig genug?

Delius: Das ewige Gejammer ist dumm. Die deutsche Literatur ist stärker, als man allgemein denkt.




Von „Pooh’s Corner“ bis zur „Lindenstraße“ – Gespräch mit dem Autor und Übersetzer Harry Rowohlt

Von Bernd Berke

Mit seiner Nonsens-Kolumne „Pooh’s Corner“ in der „Zeit“ hat sich Harry Rowohlt (52) eine treue Fangemeinde erschrieben. Die Beiträge liegen in zwei Büchern gesammelt vor (beide im Haffmans-Verlag). Doch der Sohn des berühmten Verlagsgründers Ernst Rowohlt gilt auch als einer der besten Übersetzer aus dem Englischen. Er war es, der Frank McCourts Bestseller „Die Asche meiner Mutter“ ins Deutsche übertrug. Druckfrisch liegen Padgett Powells „Edisto“-Romane (Berlin-Verlag) vor. Ein Gespräch mit Harry Rowohlt auf der Frankfurter Buchmesse:

Herr Rowohlt, den McCourt-Roman haben die meisten Leser geradezu verschlungen. Was machen Sie besser als andere Übersetzer?

Harry Rowohlt: Tja, ich weiß nicht. Eine gute Voraussetzung ist, daß Autor und Übersetzer wesensverwandt sind. Frank McCourt hab ich mal in New York angerufen, dort war es Vormittags elf Uhr. Und da war er, sehr zu meinem Entzücken, bereits besoffen. Man kann also von einer gewissen Wesensverwandtschaft ausgehen.

Haben Ihnen alle Bücher gefallen, die Sie übersetzt haben?

Rowohlt: Nein. Die ersten 40 waren ziemlicher Mist. Ich bin noch nicht lange in der Lage, mir die Sachen auszusuchen. Ich war mit dem Nachteil des Namens Rowohlt behaftet. Hätte ich früher etwas abgelehnt, hätte es gleich geheißen: Ja, das ist eben der Rowohlt, dieser arrogante Arsch. Vorteile hatte ich von dem Namen nicht. Ich war früher ziemlich arm, aber manche dachten, ich sei Millionenerbe. Von wegen!

Was bringt Ihnen die Frankfurter Buchmesse? Viele neue Aufträge?

Rowohlt: Bei dieser Messe habe ich zwei selbstgeschriebene Bücher, vier Übersetzungen und vier Tonträger mit Lesungen aus A. A. Milnes „Puh, der Bär“ und aus Texten von Flann O’Brien. Wenn also jemand ein Recht hat, sich auf der Messe rumzutreiben, dann doch wohl ich.

Wenn man Ihre Kolumne „Pooh’s Çorner“ liest, könnte man glauben, sie nähmen nichts auf der Welt ernst.

Rowohlt: Naja, wenn man in einem so hehren Umfeld wie der „Zeit“ seinen normalen Quatsch abdröselt, kann es passieren, daß man als etwas unernst verkannt wird. Im übrigen kenne ich keinen Schreibzwang. Ich muß nicht schreiben.

Also ist kein eigener Roman in Arbeit?

Rowohlt: Schon deshalb nicht, weil mein Kollege Eckhart Henscheid mir gedroht hat, wenn ich mit Romanen anfange, bricht er mir den rechten Arm. Und Robert Gerhardt hat den Unterschied zwischen „Ernstlern“ und „Spaßlern“ mal sehr klar gemacht: Die Ernsten brauchen in Deutschland viel weniger zu können als die, die über eine gewisse Leichtfertigkeit verfügen. Die Ernsten kriegen auch sehr viel mehr Geld. Sarah Kirsch liest 40 Minuten und kriegt 4000 Mark. Das krieg ich nicht, dabei les‘ ich viel länger als sie.

Besteht ihr Publikum eher aus jüngeren Leuten?

Rowohlt: Inzwischen ja. Es fing an mit diesen „Pinker-Elsen“, die immer zu Dichterlesungen gehen, aber die habe ich hoffentlich für alle Zeiten vergrault.

Allein schon durch Ihr äußeres Erscheinungsbild?

Rowohlt: Tja. Man tut halt, was man kann.

Stimmt es, daß Sie mal zu Ihren eigenen Lesungen nicht reingelassen wurden?

Rowohlt: Ja, früher mehrfach. Da hieß es: Nee, Sie kommen hier nicht rein, wir haben heute Abend eine Dichterlesung…

Damit wären wir bei Ihren Auftritten als „Penner“ in der „Lindenstraße“.

Rowohlt: Drei neue Folgen mit mir werden demnächst gesendet. Die Rolle habe ich mir übrigens selbst geschrieben. Einen Filialleiter wollte ich halt nicht spielen.




Auch das Theater braucht einen Libero – Gespräch mit dem WLT-Intendanten Harald F. Petermichl

Von Bernd Berke

Castrop-Rauxel. Das Westfälische Landestheater (WLT) behält seinen Sitz auf absehbare Zeit in Castrop-Rauxel. Von einem Umzug nach Iserlohn ist derzeit nicht mehr die Rede. Das – und einiges mehr – erfuhr die WR im Gespräch mit dem WLT-lntendanten Harald F. Petermichl (40).

Der gebürtige Bayer und bekennende Fußballfan arbeitet seit 1991 am WLT. Er ist nach dem Weggang seines Ko-Direktors Norbert Kronisch (der Intendant in Osnabrück wurde) alleiniger Leiter der Bühne. Petermichl steckt mitten in den Vorbereitungen zur Saison, die am 6. September mit „Der eingebildete Kranke“ beginnt.

Was ändert sich beim WLT, nachdem Sie Solo-Intendant geworden sind?

Harald F. Petermichl: Ich würde meine ganze bisherige, Arbeit in Frage stellen, wenn ich sagen würde: „Ab jetzt machen wir alles ganz anders.“ Wir haben offenbar eine recht gute Mischung gefunden – zunehmend auch für jüngere Zuschauer. Wir sind beim WLT ein eingespieltes Team – wie eine Fußballmannschaft.

Und Sie sind der Mittelstürmer?

Petermichl: Eigentlich sollte ich Libero sein. Immer da stehen, wo’s brennt.

Apropos brennen. Wie steht s mit den Finanzen?

Petermichl: Die Zuschüsse sind seit 1994 nicht mehr erhöht worden. Vom Land gibt es 4.2 Millionen Maik, vom Landschaftsverband um die 800.000, von der Stadt Castrop-Rauxel 325.000 und von den 16 Mitgliedsstädten unseres Trägervereins insgesamt rund 90.000 Mark. Die bekommen dann auch Rabatt, wenn sie unsere Stücke buchen.

Wie wirkt sich das Einfrieren der Subventionen aus?

Petermichl: Die Preise steigen, und wir müssen rundum sparen. Aber jetzt sind wirklich alle Reserven aufgebraucht. Schon ein Prozent Tariferhöhung bedeutet: Wir haben 50.000 Mark im Jahr weniger. Um so betrüblicher, daß manche Kommunen gleichfalls sparen und ihre Gastspiel-Buchungen reduzieren. Manche buchen nur noch unsere Revue. Da bekommen die Zuschauer ein ganz falsches Bild von unserer Arbeit. Als ob wir ein Revuetheater wären!

Eine Versuchung, nur noch gängige Stücke anzubieten?

Petermichl: Es ist halt eine Mischkalkulation. Zwei bis drei Stucke müssen sich gut verkaufen, dann kann man sich auch ein paar riskantere leisten, zum Beispiel diesmal George Taboris „Weisman und Rotgesicht“. Wenn man nur noch auf die Kasse schielt, geht auch der Spaß flöten.

Sie gastieren häufig in Südwestfalen. Was ist denn eigentlich aus dem Plan worden, daß Ihre Bühne dort einen neuen Standort bekommt und ins Parktheater Iserlohn umzieht?

Petermichl: Im Moment liegt das auf Eis. Es wird seit fast zwei Jahren zwar irrsinnig viel drüber gesprochen, doch es gab immer nur unverbindliche Absichtserklärungen. Es liegt bis heute kein konkretes Angebot aus Iserlohn vor, dem man entnehmen kann: Wenn wir da hingehen würden, dann hätten wir die und die Vorteile. Außerdem herrscht bei uns keine große Begeisterung über einen eventuellen Umzug. Die Schauspieler sind es ja gewohnt, alle zwei bis drei Jahre woanders hinzuziehen. Doch die Leute aus Technik und Verwaltung fühlen sich an Castrop-Rauxel gebunden; Es ist ja auch ein guter Standort für uns, das Verhältnis zur Stadtverwaltung ist bestens. Wir bespielen Orte im ganzen Land, und da liegen wir hier ziemlich zentral.

Was steht auf dem neuen Spielplan?

Petermichl: Zwei markante Beispiele: Als klassisches Stück haben wir Schillers ..Kabale und Liebe“ im Programm, als musikalische Produktion die „Urlaubsrevue“, eine unterhaltsame Geschichte des Reisens von der Kutsche bis zum Flugzeug, garniert mit vielen populären Liedern.

Sie selbst proben zur Zeit Michael Endes „Jim Knopf“. Ist Kindertheater bei Ihnen Chefsache?

Petermichl: Nun, das hat auch mit meiner Biographie zu tun. Ich komme vom Kinder- und Jugendtheater her, und ich halte es einfach für eine wichtige Sparte. Es ist die einzige Theaterform, mit der man noch alle sozialen Schichten erreicht. Wenn der Intendant das Kinderstück macht, ist das auch ein Zeichen.




„Mit Normen lässt sich Sprache nicht lenken“ – Gespräch mit Martin Walser, nicht nur über die Rechtschreibreform

Von Bernd Berke

Dortmund. Mit seinem Roman „Finks Krieg“ hat Martin Walser (69) tiefen Einblick ins Innenleben eines Ministerialbeamten gegeben, der im Zuge eines Regierungswechsels auf einen minderen Posten abgeschoben wird. Dieser Fink, einer wirklichen Person nachgebildet, aber literarisch zur Kenntlichkeit gebracht, wird zum angstgepeinigten Kämpfer für sein Recht. Walser stellte das bei Suhrkamp erschienene Buch jetzt mit einer Lesung im Dortmunder Harenberg City-Center vor. Dort traf ihn die Westfälische Rundschau zum Gespräch.

Sie haben die vor wenigen Tagen publizierte „Frankfurter Erklärung“ mitunterzeichnet, einen entschiedenen Protest vieler Autoren gegen die Rechtschreibreform. Kommt das nicht zu spät?

Martin Walser: Ich hatte immer mein Leid mit dem Duden und mußte mich immer gegen Lektoren durchsetzen, die unter Duden-Diktat meine Manuskripte korrigiert haben. Mit nachlassender Energie habe ich immer auf meinen Schreibungen beharrt.

Nennen Sie uns ein Beispiel?

Walser: Mein Paradebeispiel ist „eine Zeitlang“. Ich hab‘ stets „eine Zeit lang“ in zwei Wörtern geschrieben. Der Duden verlangt es in einem Wort, was ja völlig unsinnig ist. Es stimmt weder historisch noch rational. Nach der neuen Rechtschreibung dürfte ich’s auseinander schreiben. Das ist für mich ein Fortschritt. Nur: Es ist eine autoritär ausgestattete Reform. Sie behebt einige Idiotien und installiert dafür andere. „Rau“ ohne „h“, da möcht‘ ich mal wissen, wer sich das ausgedacht hat…

Und wieso erheben Sie erst jetzt Einspruch?

Walser: Nun, weil Friedrich Denk (Deutschlehrer und Literatur-Veranstalter in Weilheim, d. Red.), der die Sache angeregt hat, mich jetzt befragt hat. Ich selbst hätte gedacht: Na, schön. Das ist gut, das ist blödsinnig – und hätte es dabei belassen. Weil ich sowieso nicht praktiziere, was im Duden steht. Schauen Sie: In meinem Roman „Brandung“ steht die Wortfolge „zusammenstürzender Kristallpalast“. Das müßte ich in Zukunft auseinander schreiben: „zusammen stürzender“.

Eine Sinnverfälschung?

Walser: So ist es. Hoffentlich sehen die Leute nun, daß solche Sprachnormen relativ sind. Vielleicht bildet sich gerade dann ein bißchen mehr Freiheit gegenüber den Regeln. Denn Sprache ist doch Natur – und sie ist Geschichte. Beides läßt sich nicht mit Normen lenken. Ich schreibe ja mit der Hand, folge einem rein akustischen Diktat in meinem Kopf. Wenn ich das nachher lese: Das ist so unorthographisch, so grotesk. Wenn ich Ihnen das zeigen würde, würden Sie sagen: „Das ist ein Analphabet.“ V und F geht da durcheinander wie „Fogel und Visch“. Schreibend ist man eben nicht auf Duden-Niveau.

Mal abgesehen von der Rechtschreib-Debatte: Ansonsten hat sich – Stichwort: Deutsche Einheit, die Sie früh und vehement befürwortet haben – die Aufregung um Sie ein wenig gelegt.

Walser: Zum Glück. Aber ich krieg‘ immer noch genug ab. Ein Rezensent hat geschrieben, er höre in „Finks Krieg“, in der politischen Tendenz „Marschmusik“. Seit der Diskussion um die Einheit haben die mich in diese Richtung geschickt, diese Arschlöcher! Der Peter Glotz empfindet in meinem Roman „dumpf-deutsche Fieberphantasien“. Ein anderer hat sinngemäß geschrieben: „Der Walser hat sich vom linken Kämpfer zum CSU-Festredner der deutschen Einheit entwickelt.“ Und das in einer Buchbesprechung.

Worte, die sich in Sie hineinfressen?

Walser: Ja, ja, ja. Ich wandere geistig aus d i e s e r Art von Gesellschaft aus. Ich will damit nichts zu tun haben, mit diesen Einteilungen – links, rechts. Mein Hausspruch lautet: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ In mir hat mehr als eine Meinung Platz. Ich hab‘ in den 70er Jahren erfahren, wie die Konservativen mit mir umgegangen sind. Damals hieß es: „Du bist ein Kommunist.“ Jetzt weiß ich, wie die Linken mit Andersdenkenden umgehen. Es ist noch verletzender. Und ich meine nach wie vor: Das größte politische Glück, das die Deutschen in diesem Jahrhundert hatten, ist diese Einheit. Die Misere steht auf einem anderen Blatt, aber sie hat Aussicht auf Behebung. Die Misere vorher war aussichtslos.

Und „Finks Krieg“, ist das der Roman über unsere politische Klasse?

Walser: Für mich ist es der Roman über einen leidenden Menschen. Übrigens war die Vorarbeit sehr quälend. Ich habe zwei volle Jahre Material studiert. Furchtbar. Immer nur notieren ist entsetzlich. Ein unguter Zwang. Ich bin auch nicht ganz gesund geblieben dabei. Ich habe manchmal gedacht: Vielleicht hört es überhaupt nicht mehr auf, vielleicht wirst du nie Herr des Verfahrens, vielleicht bist du nie imstande, frei zu schreiben. Mein neues Projekt hat deswegen gar nichts mehr mit Quellen und Recherchen zu tun. Es wird ein Buch über meine Kindheit – so, wie sie mir heute vorkommen möchte.




„Der Mensch ist niemals ganz zufrieden“ – Gespräch mit Gabriele Wohmann

Von Bernd Berke

Frankfurt. Seit Jahrzehnten zählt Gabriele Wohmann zu den etablierten Autorinnen. Die Mittvierzigerin Sue ist Hauptperson ihres neuen Romans „Das Handicap“ (Piper Verlag). Durch einen Treppensturz verliert sie die Sehkraft und muß sich in ihrer häuslichen Welt einrichten. Als sie durch besondere Umstände das Augenlicht wiedererlangt, betrachtet sie ihr Leben mit hellsichtigem Argwohn. Ein Gespräch mit Gabriele Wohmann auf der Buchmesse.

Wie sind Sie an Ihr Thema geraten?

Gabriele Wohmann: Es gab keinen biographischen Anlaß. Niemand, den ich kenne, ist von der Treppe gefallen. Wie man zu Themen kommt, sollte man sich als Autor wohl gar nicht fragen, sonst kommt man vielleicht zu gar keinem mehr.

„Die Summe des Elends ist immer gleich.“ Dieser Satz fällt, als Sue ihre Blindheit überwunden hat.

Wohmann: Der Mensch ist so. Ein Übel ist weg, aber sofort stellt man sich um und ist schon wieder nicht mehr ganz und gar zufrieden, weil jetzt etwas anderes nicht stimmt. Das erlebt man im Alltag dauernd.

„Freuden erschrecken auch“, schreiben Sie.

Wohmann: Ja, weil sich herausstellt, daß Sues Ehemann, ihr Fels in der Brandung, doch ins Wanken geraten ist und sie vielleicht betrogen hat.

Sie schildern Schwebezustände: die erste Verliebtheit, dann schon das Abflauen der Zuneigung. Gibt es dazwischen nichts, keine Erfüllung?

Wohmann: Ich hab‘ gern die kleinen Dramen, die sich im Kopf abspielen, wo die Phantasie viel Schöneres erbringt, als die Wirklichkeit es vermöchte. Mit „Erfüllung“ kann ich wenig anfangen, es führt zum Kitsch. Verliebtheit ist toll. Aber dann wird es immer prekär. Gewohnheiten, Kompromisse, Besitz-Verhalten…

Ihr Buch spielt in einer Sphäre, die weitgehend sorgenfrei sein könnte.

Wohmann: In den „besseren Verhältnissen“ kenne ich mich auch besser aus. Statt der materiellen stellen sich dort seelische Sorgen ein. Die interessieren mich am meisten.

Sind Sie eher eine Autorin für Frauen?

Wohmann: Ach, ich wäre ja dumm, wenn ich sagen würde, ich schreibe fiir die oder für den. Aber das Belletristik-Publikum scheint überwiegend weiblich zu sein. Die meisten Männer lesen offenbar lieber Sachbücher – oder Wälzer mit furchtbar viel Action.

Von „Action“ kann in Ihrem Roman keine Rede sein.

Wohmann: Ich zitiere Schiller: „Es geschieht viel, indem nichts geschieht.“ Das kann besonders spannend sein.

Sie erwähnen Alfred Hitchcock und Patricia Highsmith, Sie geben Sues Schwester den Hitchcock-Namen „Marnie“. Neigen Sie zum Psychothriller?

Wohmann: Als Leserin ja, als Autorin nein. Ich schweife zu sehr ab. Ich lege mich nicht gern auf Konstruktionen fest, die man für Thriller braucht.

Man hat Sie als „Vielschreiberin“ bezeichnet.

Wohmann: Idiotischerweise zieht es in Deutschland einen schlechten Ruf nach sich, wenn jemand viel schreibt. In angelsächsischen Ländern denkt man sich nichts dabei. Wer schreibt, ist doch heilfroh, wenn ihm noch viel einfällt. Aber hier wird immer gewartet auf die Schreibkrise und die Krämpfe. Ich finde das albern und schrecklich.

Von vielen Kritikern werden Sie heute ignoriert.

Wohmann: Stimmt. Das hat mit dem „Vielschreiben“ zu tun. Da sagt sich wohl mancher: Naja, schon wieder ’ne Wohmann. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde: „Das ärgert mich nicht.“ Es hat den Beigeschmack von „Bist du vielleicht schon tot?“ Aber ich bin’s ja nicht. (Lachend) Außerdem wird die Kritik vergessen sein, und ich werde vielleicht ein bißchen Nachwelt haben, verdammt nochmal!




„Es gibt auch frommes und notwendiges Verschweigen“ – Gespräch mit Hellmuth Karasek

Von Bernd Berke

Frankfurt. Der Kritiker Hellmuth Karasek, Mitstreiter von Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler beim „Literarischen Quartett“, zählt durch seine TV-Auftritte zur kulturellen Hoch-Prominenz. Sein neues Buch „Go West!“ (Hoffmann & Campe Verlag) zeichnet ein Bild der 50er Jahre, anhand der eigenen Lebensgeschichte. Die WR sprach mit Karasek auf der Frankfurter Buchmesse.

Herr Karasek, warum hören Sie beim „Spiegel“ auf?

Hellmuth Karasek: Dazu nur soviel. Der „Spiegel“ hat es einerseits ganz gern gesehen, daß ich auf vielen Hochzeiten tanze, weil das auch Werbung für ihn war, andererseits höchst ungern, weil das ein schlechtes Beispiel für eine strikte Kompanie von Journalisten gewesen ist.

Sie planen eine neue Fernseh-Talkshow?

Karasek: Ja, es ist ein Projekt für die ARD. Eine Versuchs-Folge soll in diesem Monat aufgenommen werden. Dann muß die Sache durch die Gremien hindurch.

Noch ein Literatur-Talk?

Karasek: Nein, es geht um gesellschaftliche Fragen. Thema der Pilot-Sendung ist der Zwang zur Öffentlichkeit, das Privatleben, das in die Öffentlichkeit gezerrt wird. Auslöser war, daß Joschka Fischer plötzlich überall zu seiner Ehekrise befragt wurde, was ja mit seinem politischen Leben bei den Grünen nichts zu tun hat. Aber eigentlich ist es noch verfrüht, über dieses Vorhaben zu reden.

Falls diese Sendung in Serie ginge, müßten Sie dann beim „Literarischen Quartett“ kürzer treten?

Karasek: Nein. Das ginge wie gewohnt weiter.

Und die vielbeschworene Tennis-Serie, die Sie fürs Fernsehen schreiben wollten?

Karasek: Ich glaube, das wird wohl in diesem Leben nichts mehr. Der verantwortliche Hauptabteilungsleiter beim ZDF hat gewechselt, und der Nachfolger hat allzu einschneidende Veränderungen verlangt.

Zu Ihrem neuen Buch. Warum gerade jetzt eine Abhandlung über die 50er Jahre?

Karasek: Nun, das Buch ist ziemlich spontan entstanden. Ich habe aber das Gefühl, daß sich derzeit wieder eine ähnliche Zeitstimmung einstellt wie damals. Ich habe mir seit den 70er Jahren Erinnerungen an die 50er in Kladden notiert. Indem man diese Epoche beschreibt, kann man auch zeigen, was sich bis heute in Deutschland zementiert hat. Und manches kehrt seltsam wieder. Aids hat zum Beispiel einen großen Prüderie-Schub ausgelöst, nicht im Verbalen, aber die Promiskuität ist doch weitgehend vorbei. Man muß ja auch sehen, daß die Jahre nach 1968 eine Zeit der brutalen Wahrheiten waren. Inzwischen wissen wir wieder, daß es auch frommes und notwendiges Verschweigen gibt. Allerdings: Ich und andere haben die 50er erst im Lichte der Studentenproteste von 1968 verstanden.

So richtig populär sind Sie ja erst durchs „Literarische Quartett“ geworden.

Karasek: Schon richtig. Aber Marcel Reich-Ranicki ist noch bekannter.

Ja, den kann man ein paar Messestände weiter als Gummifigur kaufen.

Karasek: Richtig, ich habe die Figur sogar zu Hause auf dem Schreibtisch stehen (lacht) … damit ich ihn nicht vergesse. Aber im Ernst: Ich bin gerade heute um fünf Uhr morgens mit schlechtem Gewissen aufgewacht, weil ich noch zwei Bücher fürs „Quartett“ zu lesen habe. Ein schreckliches Gefühl, denn die Sendung naht.

Und was halten Sie von dem häufigen Vorwurf, daß es beim „Quartett“ eigentlich gar nicht mehr um Literatur geht?

Karasek: Also, eins steht fest: Wir lesen wie die Ackergäule. Mir geht es sehr um Literatur. Daß es nachher auch Behauptungs-Kämpfe gibt, mag sein. Aber Literatur war immer auch ein Streitgegenstand. Ich vergleiche das Quartett gern mit einem Caféhaus. Diese Institution hat viel für die Literatur bewirkt.

Ist die Sendung eigentlich in anderer Besetzung vorstellbar?

Karasek: Wissen Sie, wir sind ja nicht unsterblich. Reich-Ranicki ist 76, und er wird bestimmt irgendwann keine Lust mehr haben. Aber das nächste Jahr halten wir sicherlich noch durch.

Verstehen Sie die Autoren, die darüber klagen, daß Sie als Kritiker ungleich bekannter sind?

Karasek: Manche nehmen es einem richtig übel. Irgendwie verstehe ich das. Der Kritiker Alfred Kerr hat einmal sinngemäß gesagt: Dieses schlechte Theaterstück ist ein schöner Anlaß für meine brillante Rezension. Daraus spricht die typische Hybris, die Selbstüberschätzung der Kritik. Ich gebe zu: Mir ist dabei nicht ganz wohl.




Das Ekel von Datteln und andere Übeltäter – Gespräch mit dem Dortmunder „grafit“-Verleger Rutger Booß

Von Bernd Berke

Tatort: Dortmund. Mit dem Umzug aus dem Vorort Wellinghofen ins Stadtzentrum unterstreicht Rutger Booß den Anspruch, daß sein „grafit“-Verlag bis zum Jahr 2000 das führende Haus für deutschsprachige Krimis werden soll. Die WR sprach mit ihm über seinen Job und über die Krimi-Szene.

Wann und wie sind Sie Verleger geworden?

Rutger Booß: In der Buchbranche arbeite ich schon seit 1974 – zunächst als Lektor beim Dortmunder „Weltkreis“-Verlag, dann in der Zentrale einer linken Buchhandelskette und bei Pahl-Rugenstein in Köln. Als dort die Sparte Belletristik eingestellt wurde, stand ich plötzlich mit 45 Jahren ohne Arbeitsplatz da. In dieser Not habe ich mit meinem bißchen Geld meinem Ex-Arbeitgeber ein paar Autorenrechte abgekauft und mich selbständig gemacht. Das war ein großes Risiko, aber auch eine Chance, die man nur einmal im Leben bekommt. Jedenfalls ist so im Mai 1989 der „grafit“-Verlag entstanden.

Wie kam es eigentlich zu dem Namen „grafit“?

Booß: Den hat der Krimiautor Werner Schmitz erfunden. Der hatte beobachtet, daß die meisten Kleinverlage pompös-bombastische Namen tragen, die großen und erfolgreichen aber meist ganz kurze und griffige, höchstens zweisilbige. Leute, die nur unseren Namen kennen, stellen sich jetzt einen viel größeren Verlag vor.

Apropos Größe: Wie wollen Sie in vier Jahren Marktführer bei deutschsprachigen Krimis werden?

Booß: Da haben wir gute Aussichten. Zu den fünf Spitzenreitern auf diesem Gebiet gehören wir wohl schon.

Wen müssen Sie denn noch überholen bei ihrem Marsch an die Tabellenspitze?

Booß: Es gibt gar nicht so furchtbar viel Konkurrenz: Diogenes liegt noch vorn, dahinter folgen Rowohlt, Heyne, Goldmann. Die großen Verlage bestreiten ihr Krimi-Programm vorwiegend mit englischen und amerikanischen Autoren. In diesen Ländern ist das Genre viel weiter entwickelt als bei uns, wo der Kriminalroman erst seit den 60er Jahren ernstgenommen wird; seit Hansjörg Martin, -ky und Fred Breinersdorfer schreiben.

Viele Ihrer Bücher spielen in dieser Region. Warum ist das Ruhrgebiet eine so ergiebige Krimi-Landschaft?

Booß: Ich glaube, es liegt an der Zerstörung alter Strukturen, also der Titanen Stahl und Bergbau. Die massiven wirtschaftlichen Umbrüche bilden den Hintergrund vieler Ruhrgebiets-Krimis, speziell bei unserem Autorenduo Leo P. Ard und Reinhard Junge. Denken Sie nur an „Das Ekel von Datteln“.

Wie wichtig ist für Sie die Politik im Krimi?

Booß: Naja, das große Vorbild vieler deutscher Autoren sind natürlich die Schweden Sjöwall/Wahlöö und ihre „Kommissar Beck“-Geschichten. Wir haben die politischen Botschaften im Laufe der Zeit reduziert, denn sie sind für Spannungsliteratur eher gefährlich. Zunächst muß immer die Story stimmen. Wenn Politik hinzukommt, ist es in Ordnung.

Und die Sprache?

Booß: Ich meine schon, daß wir uns literarisch über dem Durchschnitt bewegen. Wir haben’s aber sehr gerne, wenn es ein bißchen schnoddrig und witzig zugeht. Gegen ausgiebige Gewaltdarstellungen habe ich hingegen eine Menge einzuwenden.

Wer liest Ihre Bücher?

Booß: Bei Krimis hat man keine fest umrissene Zielgruppe. Es geht quer durch alle Berufe und Schichten. Und es gibt eine interessante Untersuchung vom letzten Herbst, die besagt: Je weiter links einer politisch steht, desto mehr Krimis liest er. CDU-Wähler lesen am wenigsten Krimis.

Gibt es Autorennachwuchs? Bekommen Sie viele Manuskripte?

Booß: O, ja! Durchschnittlich etwa 200 im Jahr. Die modernen Textverarbeitungs-Systeme haben die Hemmschwelle für Autoren offenbar gesenkt. Manche Texte sehen äußerlich bildschön aus, sind aber inhaltlich Schrott. Aber wir haben auch einige Autoren durch „unverlangt eingesandte Manuskripte“ entdeckt.

Welche Auflagen erzielen Sie?

Booß: Unsere Renner waren der „Eifel-Blues“ mit 34.000 Exemplaren und „Das Ekel von Datteln“ mit 33.000. Wenn wir von einem Buch 4000 Stück verkaufen, werden wir nicht reich, aber es rechnet sich.




Jeder Dichter braucht seine eigene Legende – Gespräch mit Robert Gernhardt auf der Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Robert Gernhardt (57), früher von der Kritik eher als Satiriker, Parodist und erlesener Humorist behandelt, gehört seit ein paar Jahren im öffentlichen Urteil einer höheren Gewichtsklasse an und wird endlich als der ernsthafte Dichter wahrgenommen, der er (auch) ist. Ein Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse, wo sein neuer Band „Wege zu Ruhm“ (Haffmans) vorgestellt wird.

Fühlen Sie sich wohl mit Ihrem gestiegenen Ansehen bei der Kritik?

Robert Gernhardt: Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich nicht fest zugeordnet werden kann. Ich nehme mir nach wie vor die Freiheit, auch mal einen Band mit Bilderwitzen zu veröffentlichen. Die Freiheit hat nicht jeder.

Wenn ein Peter Handke zum Beispiel plötzlich Witze zeichnen würde…

Gernhardt: Ich glaube, das würde das Handke-Bild doch sehr verstören. Obwohl man als Literat immer noch mehr Möglichkeiten hat. In der Bildenden Kunst sind die Zuordnungen noch viel strenger.

In Ihren nicht durchweg ernst gemeinten Ratschlägen für angehende Schriftsteller in „Wege zu Ruhm“ haben Sie an alles gedacht, auch an die Wahl des richtigen Pseudonyms. Nach dem Klangvorbild von „Pablo Picasso“ wird z. B. scherzhaft „Igor lncasso“ erwogen, was ja schon auf erwartete Einnahmen hindeutet.

Gernhardt: Im Grunde würde ich von diesem Namen abraten. Der Künstler sollte eigentlich stets den Bedürftigen raushängen. Der Leser will in der Regel keinen satten Künstler. Zwei Sachen machen ja den Ruhm aus: das Werk und die Legende. Bei der Frage nach dem Werk habe ich mich an Georg Christoph Lichtenberg gehalten, der es in zwei Worte gefaßt hat: „Laßt’s laufen.“ Goethe hat auch seinen „Werther“ laufen lassen – und der läuft bis heute. Mein Buch handelt mehr von der Legende.

Sie empfehlen sogar, sich frühzeitig die richtige, also legendenträchtige Todesart auszusuchen.

Gernhardt: Richtig. Man stirbt besser nicht auf den Champs Elysées bei Gewitter, durch einen herabstürzenden Ast erschlagen, denn das ist Ödön von Horváth schon passiert. Es wäre also ein Plagiat. Das Lesepublikum will immer neue Legenden von Außenseiter-Künstlern.

Was passiert denn einem jungen Menschen, der Ihr Buch rundweg für bare Münze nimmt?

Gernhardt: Nun, er kann sich schon einiges zu Herzen nehmen. Zum Beispiel sollte er zusehen, daß er ausgefallene Berufe betreibt. Leichenwäscher, Nachtportier oder dergleichen.

Haben Sie so was mal gemacht?

Gernhardt: Das ist nicht so doll bei mir. Ich hab‘ mal am Tiefbau gearbeitet. Sie treffen da einen wunden Punkt. Ich sollte tatsächlich meine eigene Legende noch mal überprüfen. Einer Journalistin hab‘ ich mal untergejubelt, ich sei bei der Fremdenlegion gewesen, und sie hat’s geschrieben. Das wäre vielleicht ein Baustein für eine Legende gewesen. Oder auch, wenn man im Knast das Schreiben anfängt – wie Jean Genet.

Aber Sie werden doch der Legende zuliebe nicht in den Knast wandern wollen?

Gernhardt: Nein, nein. Aber wenn man schon mal drin ist, sollte man es nutzen. Auf jeden Fall „kommt“ Knast bei der landläufigen Kritik besser als Hauptseminar und Fortbildungskurse.

Den vielbeschworenen „großen Roman zur deutschen Einheit“ dürfen wir von Ihnen wohl nicht erwarten?

Gernhardt: Oh, nein! Den hat doch der Grass gerade geschrieben. Wenn ich eine Rolle habe im Restaurant zur deutschen Literatur, dann nicht am Fenster, sondern am Nebentisch oder im Bistro. Jawohl, ich gehöre zur „Bistro-Bande“.




Wenn die Zeit den Dichter krank macht – ein Gespräch mit Peter Rühmkorf auf der Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Peter Rühmkorf, 1929 in Dortmund geboren, zählt zu den versiertesten Sprach-Artisten der deutschen Literatur. Jetzt ist sein Werk „Tabu 1 – Tagebücher 1989-1991″ (Rowohlt, 624 Seiten, 54 DM) erschienen, scharfzüngige Zeitschau der „Wende“-Phase aus erschütterter linker Sicht – und bewegender Bescheid von den Leiden des Alterns. Ein Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse:

Sie Verraten in Ihrem Buch einige peinliche Dinge über Prominente. Zum Beispiel, daß der Dramatiker Rolf Hochhuth gelegentlich Selbstgespräche auf öffentlichen Toiletten führt. Ist das nicht Tratsch?

Peter Rühmkorf: Ich wollte kein Schlüsselloch-Buch schreiben. Trotzdem sind mir im Laufe der Jahre einige kleine Szenen über den Schirm gehuscht, die ich mitgenommen habe.

Am wenigsten haben Sie sich selbst geschont. Sie schildern detailliert ihre körperlichen Beschwerden.

Rühmkorf: Es kommt ja nicht nur auf den rohen Inhalt an. sondern darauf: W i e ist es gemalt? Wenn Rembrandt, der junge Dürer oder auch Horst Janssen sich selbst gezeichnet haben, wie unbarmherzig sind die mit sich umgegangen! Weil es einen berechtigt, scharf auf die übrige Welt zu blicken.

Warum die Zeit von 1989 bis 1991?

Rühmkorf: In meiner Biographie gab es bestimmte Brüche. Einen Bruch im Rücken, weil mir ’ne Bandscheibe rausflog. Dann starb mein altes Mütterchen. Und dann kam auch noch die deutsche Einheit.

Das Thema hat Sie offenbar sehr beschäftigt.

Rühmkorf: Zutiefst. Schon als die APO, die Außerparlamentarische Opposition der 60er Jahre, sich in Luftblasen auflöste, habe ich mich gefragt, wie mein Ego überhaupt noch zusammenhielt. Ähnlich war es hier.

Trügt der Eindruck, daß Sie den Prozeß der Vereinigung, den Sie als Vereinnahmung verstehen, noch schärfer kritisieren als Günter Grass?

Rühmkorf: Grass hat eine ganz andere Methode. Ich wollte zeigen: hier das Privatleben – dort der geschichtliche Horizont. Wo paßt es zusammen und wo klafft es unvereinbar? Und weil ich die Haltung zu meinem eigenen Lande bis in meinen Organismus hinein als kritisch erlebt habe, wollte ich diese Gemütslage festhalten. Ich reagierte damals auf den Zuwachs der Nation mit Verweigerungssymptomen, ich wurde krank.

Welche Rolle spielt der Rausch? Sie verzeichnen häufig ihren Alkoholkonsum oder auch Haschisch-Proben.

Rühmkorf: Ich bin ein Sucht-Charakter. Ich habe ein süchtiges Verhalten zum ganzen Leben. Ich bin auch arbeitssüchtig. Und ich habe ein Sucht-Verhältnis zum Fernsehen.

Es gibt wohl kein anderes Tagebuch, in dem Fernsehen so oft vorkommt.

Rühmkorf: Das stimmt. Ich habe hinterher fast einen Schrecken bekommen. Aber das Fernsehen hat etwas Verbindendes. Wenn ich immer nur über Leute spräche, die keiner kennt, wäre es uninteressant. Über den Schirm flimmern die bekannten Gestalten. Und: Die moderne Fernseh-Schnittechnik ist meiner literarischen Methode verwandt. Diese rasanten Abfolgen. Ähnlich ist es mit dem Tagebuch. In einem Moment sind wir in meinem Gärtchen, im nächsten auf der Bonner Bühne.

Sie sind mit Günter Grass befreundet, und Sie haben Arbeitskontakte mit dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki gepflegt. Wie haben Sie den Streit um Grass‘ Roman „Ein weites Feld“ erlebt?

Rühmkorf: Ich habe Ranicki daraufhin einen gemeinsamen Auftritt abgesagt. Ich habe ihm nicht seine Kritik im „Spiegel“ verübelt, sondern, daß er Grass im „Literarischen Quartett“ in die Nähe von Goebbels gerückt hat. Da ist für mich ein Punkt erreicht, wo alle Solidaritäten aufgekündigt werden.




„Waldheim hat mich in den Nacken geküßt“ – furioses Interview mit Claus Peymann in der „Zeit“

Wien/Hamburg. (bke) In die vollen gegangen ist Wiens Burgtheaterdirektor Claus Peymann in einem gestern veröffentlichten Interview mit der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Schon der Einstieg ist stark. Peymann über Wien: „Wenn Sie wüßten, was für eine Sch.. . ich hier erlebe! Man müßte dieses Theater… abreißen lassen. Vielleicht schmeiße ich morgen schon alles hin.“

Peymann, der sich selbst als einen „Vergewaltiger auf der Probe“ bezeichnet, der „brutalste Gewalt“ anwende, um Schauspieler auf seine Linie zu zwingen, schont auch seine Regie-Kollegen nicht. George Tabori danach „eine absolute Sau in der Arbeit“, „ein Tyrann erster Güte.“ Klaus Michael Grüber (Schaubühne Berlin) sei eh nur „dauernd besoffen“, Dieter Dorn (Kammerspiele München) sei jemand, der „eine Inszenierung nach der anderen hinwichst“. In diesem Stil zieht Peymann, der sich in dem Gespräch „weitaus gebildeter als die meisten Regisseure“ nennt, munter weiter vom Leder. Kritiker, Autoren, Schauspieler – alle bekommen ihr Fett ab.

Grotesk schließlich, was der Ex-Bochumer Schauspielchef über Österreichs Bundespräsidenten Kurt Waldheim verrät. Das umstrittene Staatsoberhaupt habe ihn, Peymann, „neulich überraschenderweise in den Nacken geküßt.“ Damit habe Waldheim – nach einer Aufführung von „Richard III.“ – überfallartig seine Bewunderung für Peymanns Arbeit bekunden wollen. Peymann: „Es war eine Vergewaltigung.“