Recht viel beachtliches Theater – eine subjektive Bilanz zu den Ruhrfestspielen

Die Ruhrfestspiele neigen sich ihrem Ende entgegen. Isabella Rosselini und die Jungfrau von Orleans werden noch im Großen Haus auftreten, doch die bilanzierende Abschlußpressekonferenz ist bereits angesetzt. Dort wird in Zahlen dargelegt, wie erfolgreich auch in diesem Jahr wieder das Traditionsfestival war – nehmen wir jedenfalls an und behaupten auch nichts anderes. So gilt es nun, die Frage zu stellen: Wie war denn dieses „tête-à-tête“ so? War es überhaupt eins? „Ein dramatisches Rendezvous mit Frankreich“, wie der diesjährige Untertitel der Veranstaltung behauptete?

ICH ICH ICH von Eugène Marin Labiche Premiere am 3. Mai 2015 im Rahmen der Ruhrfestspiele Recklinghausen, Münchner Premiere am 21. Mai 2015 im Residenztheater Mit Markus Hering (Dutrécy), Johannes Zirner (Armand, sein Neffe), Nora Buzalka (Thérèse, seine Nichte), Thomas Gräßle (Aubin, sein Diener), Oliver Nägele (De la Porcheraie, ein Geschäftsfreund), Götz Schulte (Doktor Fourcinier, sein Arzt), Wolfram Rupperti (Fromental, ein Bankier), Thomas Lettow (Georges, Fromentals Sohn), Katharina Pichler (Madame de Verrières, Fromentals verwitwete Tochter) Regie Martin Kušej Bühne Annette Murschetz Kostüme Heide Kastler Musik Bert Wrede Licht Tobias Löffler Dramaturgie Angela Obst v.l.  Katharina Pichler (Madame de Verrières), Thomas Gräßle (Aubin), Nora Buzalka (Thérèse), Markus Hering (Dutrécy), Thomas Lettow (Georges), Wolfram Rupperti (Fromental), Johannes Zirner (Armand)

Türenkomödie vor weißen Stoffbahnen: „Ich ich ich“ von Eugène Marin Labiche mit (v.l.) Katharina Pichler (Madame de Verrières), Thomas Gräßle (Aubin), Nora Buzalka (Thérèse), Markus Hering (Dutrécy), Thomas Lettow (Georges), Wolfram Rupperti (Fromental) und Johannes Zirner (Armand) (Foto: Andreas Pohlmann/Ruhrfestspiele)

Containerbuntes Festspielhaus

Jedenfalls war an Französischem einiges auszumachen im recht opulenten Programm. Das begann schon mit der künstlerischen Ausgestaltung des Festspielhauses durch Daniel Buren, eine hübsche Symbiose aus formalem Minimalismus und Üppigkeit des gestalterischen Eingriffs. Wer weiß, was als nächstes an die Reihe kommt? Der Gasometer in Oberhausen, der Reichstag?

Man muß die Sachen ja nicht unbedingt à la Christo in Stoff packen, man könnte sie auch mit farbigen Flächen restrukturieren. Ist nur so ein Gedanke. Das bunte Festspielhaus war eine gute Idee, hatte bei geringem Betrachtungsabstand die Anmutung eines Containerfrachters, und viele Besucher sind der Ansicht, daß der transparente Glasvorbau des Festspielhauses auch ohne künstlerische Intervention sehr schön ist.

Betuliche Komödie

Mehr als bunte Fassadenkunst interessierte das Kulturvolk natürlich, was hier gespielt wurde. Und sah, beispielsweise, ein Stück von Eugène Labiche unter dem Titel „Ich ich ich“. 1864 war es als „Die Egoisten“ uraufgeführt worden, was auch kein schlechterer Titel gewesen wäre: Eine muntere Türenkomödie in der Regie von Martin Kusej, die weitestgehend ohne Türen auskommen mußte, da sie lange Zeit in einem Halbrund aus Stoff spielte, der sozusagen Türen und Wände ersetzte (Ausstattung: Annette Murschetz). Kann man (frau) machen, allerdings entstand mehrfach der Eindruck, dieses in der Form häufig eher kleine, in Dialogen kammerspielhaft erzählende Stück müsse gegen das große, kalte Bühnenbild anarbeiten und tue sich damit schwer.

Abgesehen davon, kam „Ich ich ich“ sehr brav und betulich daher, man schreit nicht unbedingt nach Fortsetzung. Andererseits jedoch wurde manierlich und humorvoll gespielt, eine nette Komödie, warum auch nicht.

Die_Stunde3_c_Ene_Liis_Semper

Gehen, gehen, gehen: Szene aus „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ von Peter Handke (Foto: Ene-Liis Semper/Ruhrfestspiele)

Handke-Stück hinterließ starken Eindruck

Ohne Umschweife: Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“, entstanden in einer Koproduktion mit dem Hamburger Thalia-Theater, war wohl die stärkste Arbeit der diesjährigen Ruhrfestspiele, kongenial in Szene gesetzt von Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper, choreographiert von Jüri Nael und von Lars Wittershagen mit einem anmutigen Sound- und Musikteppich unterlegt.

Das Stück aus den 90er Jahren kommt ohne Text aus, es erzählt durch die Menschen, die einen Raum, eine Piazza, einen (französischen?) Boulevard bevölkern, durcheilen, okkupieren. Es bringt Aspekte des Absurden und des Bedrohlichen ein – und ist in seiner genialen sprachlosen Erzählstruktur für manche Menschen offenbar unerträglich. Die Idioten (jawoll: Idioten!) im Publikum, die meinten, das Bühnengeschehen mit ihren dämlichen Kommentaren belegen zu müssen, sollten zu Hause bleiben und Casting-Shows gucken. Ihnen zum Trotz ein toller Theaterabend.

MADAME BOVARY von Albert Ostermaier nach dem Roman von Gustave Flaubert in der Übersetzung von Elisabeth Edl Uraufführung am 21. November 2014 im Marstall Mit Sophie von Kessel (Emma Bovary), René Dumont (Charles Bovary), Gabriele Dossi (Madame Bovary), Thomas Grässle (Monsieur Homais), Alfred Kleinheinz (L'abbé Bournisien), Thomas Lettow (Monsieur Léon Dupuis), Wolfram Rupperti (Monsieur Lheureux), Bijan Zamani (Rodolphe Boulanger) Regie Mateja Koležnik Bühne Henrik Ahr Kostüme Alan Hranitelj Musik Mitja Vrhovnik-Smrekar Licht Uwe Grünewald Choreographie Matija Ferlin Dramaturgie Götz Leineweber v.l. Thomas Lettow (Monsieur Léon Dupuis), Sophie von Kessel (Emma Bovary)

Sophie von Kessel ist die unglückliche Madame Bovary. Hinter ihr: Thomas Lettow als Monsieur Léon (Foto: Thomas Dashuber/Ruhrfestspiele)

Die Seele der Madame Bovary

Nina Hoss, in Yasmina Rezas neuem Stück „Bella Figura“ grandios aufspielend, war die eine; die andere große Blonde des deutschen Theaters, und das darf hier wörtlich genommen werden, ist Sophie von Kessel, die im Kleinen Haus als Madame Bovary den Weg auf die Theaterbühne findet.

Albert Ostermaier hat Gustave Flauberts dicken Gesellschaftsroman aus dem 19. Jahrhundert zu einer dramatischen Fassung verknappt, die viel Nebenhandlung, Zeitgeist und ländliches Lokalkolorit wegläßt und gleich mit dem finalen Bankrott der Frau einsteigt. Bankrott und Gifttod, wollen uns Stück wie Inszenierung (Mateja Koleznik) weismachen, sind so etwas wie der logische Schluß einer Kaskade von desaströsen Handlungen, die darauf gerichtet waren, den zwangsläufigen (Frei-) Tod ein ums andere Mal aufzuschieben. Denn tot ist man – eine Interpretation – zu Lebzeiten schon, wenn man existieren muß wie Madame Bovary.

Allerdings bleibt bei dieser Sicht auf die Dinge die Frage weitgehend unbearbeitet, warum die Bovary so ist, wie sie ist. Dem Roman gelang die Beschreibung dieser unbotmäßigen Figur grandios. Auf der Bühne jedoch ist die Gattin des braven Landarztes Bovary nicht mehr als ein Parasit. Nichts ist hier zu spüren vom Versuch, Verständnis und Empathie für die Seele der Unzufriedenen zu entwickeln, für eine Person, die unter Begrenztheit und Dumpfheit einer kleinbürgerlichen, unfreien Existenz leidet, die sich nach leidenschaftlicher Liebe sehnt, wie sie in diesem Milieu unvorstellbar ist.

Vergnügliche Nashörner, nachdenkliche Yasmina Reza

Über weitere Produktionen der Ruhrfestspiele war in den Revierpassagen schon zu lesen gewesen; über Frank Hoffmanns gleichermaßen gelungene wie vergnügliche Inszenierung von Eugène Ionescos „Nashörnern“ mit Wolfram Koch und Samuel Finzi ebenso wie über „Bella Figura“ von Jasmina Reza. So folgt nun der Versuch eines kleinen, subjektiven Fazits.

Wertschätzung für Texte und Darsteller

Mehr noch als in den Vorjahren waren die Ruhrfestspiele 2015 geprägt von konzentriertem Theaterspiel, von Wertschätzung für Texte und Darsteller. Der unbändige Selbstdarstellungsdrang mancher Regisseure (zumal aus dem Stuttgarter Raum) blieb dem Publikum erspart. Allerdings wirkte die eine oder andere Produktion auch etwas blutarm. Ansichtig der Labiche-Komödie zum Beispiel ertappte man sich schon bei dem Gedanken, wie das alles wohl in einer Inszenierung von Robert Wilson ausgesehen hätte. Wie dem auch sei – es bleibt die Gewißheit, in Recklinghausen in den vergangenen Wochen wieder eine Menge gutes Theater gesehen zu haben, wie man es im Ruhrgebiet in dieser Dichte sonst nicht geboten bekommt.




„Die Nashörner“ bei den Ruhrfestspielen: Spielstark und bedeutungsarm

Wolfram Koch, Samuel Finzi  Foto: (c) Birgit Hupfeld

Wolfram Koch, Samuel Finzi
Foto: (c) Birgit Hupfeld

Der Vorhang bleibt geschlossen, den ganzen ersten Akt lang. Stattdessen disputieren Behringer und Hans in Reihe 8, mitten im Publikum, was sie da gesehen haben: indische einhornige oder afrikanische zweihornige Nashörner.

Bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen hat sich Intendant Frank Hoffmann „Die Nashörner“ von Eugène Ionesco vorgenommen, das beliebteste Stück des rumänisch-französischen Dramatikers und ein Klassiker des absurden Theaters. Auf der Bühne bzw. mitten im Publikum: Wolfram Koch (neuer „Tatort“-Kommissar in Frankfurt) und Samuel Finzi, das Dreamteam der Berliner Volksbühne. Die perfekt aufeinander eingespielten Akteure so nah und intensiv zu erleben, ist das Geschenk Hoffmanns an sein Publikum – die Inszenierung ist es eher nicht.

Das Stück handelt in drei Akten von der allmählichen Verwandlung einer Stadt – der Gesellschaft – in Nashörner, sprich: in eine uni- und konforme Masse. Arbeiter und Akademiker, Männer und Frauen, Chefs und Angestellte lassen sich von der Aussicht auf Stärke und die Macht der Mehrheit korrumpieren. Übrig bleibt nur Behringer (Wolfram Koch) – der letzte Mensch und Aufrechte, eingesperrt in seinem Haus, das er am Ende nicht mehr zu verlassen wagt.

Das Stück ist hochkomisch schon beim Lesen. Das liegt am absurden Setting, aber auch an den Figuren und ihrer Sprache: Ionesco hat keine Charaktere geschaffen, sondern Typen, die beispiel- und klischeehaft für gesellschaftliche Gruppen stehen. Bevor sie sich selbst verlieren, verlieren sie den Bezug zur Sprache, die nicht mehr zur Verständigung taugt.

Nashorn2

Hans (Samuel Finzi, oben) bei der Nashorn-Werdung, Behringer (Wolfram Koch) schaut entsetzt zu. Foto: Birgit Hupfeld

 

Regisseur Hoffmann setzt noch einen drauf, lässt seine Akteure die überzeichneten Figuren und Situationen auskosten. Sekretärin Daisy (Jacqueline Macaulay) wackelt penetrant mit dem Popo, der verschwundene Herr Ochs wird umständlich unterm Tisch gesucht, Bürokollege Wisser (Steve Karier) kämmt und stutzt beim Redigieren der Gesetzestexte mit Hingabe einen Kaktus.

Handwerklich macht Hoffmann alles richtig. Er schafft starke Bilder, die Inszenierung läuft wie am Schnürchen, hat Tempo und Dynamik. Zu den stärksten Szenen gehört im ersten Akt die stark rhythmische, teils gesungene Nashorn-Sichtung im völlig dunklen Theater aus dem Publikum heraus.

Das Grundproblem der Inszenierung ist allerdings ihre fehlende Idee. Bei seiner Uraufführung 1959 in Düsseldorf waren die Nashörner ein Riesen-Erfolg – im Nachkriegsdeutschland erinnerte Ionesco schmerzhaft-wahr an die Verführung, die von der Kraft der Masse ausgeht.

Was kann das 2015 bedeuten? Das Programmheft, das an eine Lektürehilfe für Oberstufenschüler erinnert, enthält zwar einen zarten Hinweis auf die Informationsgesellschaft und die Dynamik der Digitalisierung. In der Inszenierung findet das jedoch keine Entsprechung. Stattdessen werden in Gestus und Intonierung dann und wann Anklänge an den Nationalsozialismus hör- und sichtbar. Ein Spielmannszug, der einmal lautstark spielend, einmal still das Musizieren andeutend, von links nach rechts durchs Bild läuft, verweist zaghaft auf fortgesetzte Traditionen und der Deutschen Liebe zum Militärischen. Naja…

Was verführt uns? Wer oder was sind die zeitgenössischen Nashörner? Bei Hoffmann sind die Tiere anderthalb Stunden lang nicht zu sehen – die Verwandelten verschwinden aus dem Sichtfeld und landen in der Publikumsmenge. Hoffmann setzt ganz auf die Publikumslieblinge Koch/Finzi, die schon im vergangenen Jahr in Recklinghausen als Wladimir und Estragon begeisterten. Zu sehen ist ein leicht angestaubter Klassiker, souverän gemacht und gespielt, aber letztlich bedeutungslos.

Hier gibt‘ s die nächsten Termine und Details