Start mit hoher Schlagzahl: Ivo van Hove verdichtet die Ruhrtriennale 2024 auf viereinhalb Wochen und drei Städte

Jüdische Prinzessin liebt römischen Kaiser: Isabelle Huppert spielt bei der Ruhrtriennale in der Deutschen Erstaufführung von Jean Racines Tragödie „Bérénice“ (Foto: Jean Michel Blasco)

Konzentration, Verdichtung, Schlagkraft: Unter diesen Vorzeichen legt die Ruhrtriennale 2024 am 16. August los. In seinem ersten Jahr als Intendant will der Belgier Ivo van Hove das Kunstereignis intensivieren, indem er es zeitlich und räumlich begrenzt.

Das Programmangebot ist gewohnt umfangreich, aber das Festival wird nur noch viereinhalb Wochen dauern. Von den Spielorten sind lediglich drei Städte geblieben: Bochum, Essen und Duisburg. Selbst beliebte Aufführungsorte wie die Zeche Zweckel in Gladbeck und die Zeche Zollern in Dortmund sind diesmal nicht dabei.

Ein Festival solle „wie ein Feuerwerk in Zeitlupe explodieren“, sagt der Intendant, der sich bei der Auftakt-Pressekonferenz noch ein wenig an einem Manuskript festhält, obwohl er exzellent deutsch spricht. Bereits am Eröffnungs-Wochenende bringt die Ruhrtriennale vier Premieren in Folge und will bis zum Abschluss am 15. September so kraftvoll durchziehen, dass die Besucher in einen Sog geraten, von einer Veranstaltung zur nächsten.

Sandra Hüller, Isabelle Huppert

Ivo van Hove wirkte bereits unter Gründungsintendant Gerard Mortier bei der Ruhrtriennale mit. Nun startet er in sein erstes Jahr als Festival-Intendant. (Foto: Thomas Berns/Ruhrtriennale)

Van Hoves Startposition sieht gut aus. Drei Viertel von insgesamt 41.000 Karten sind „bereits vergeben“, wie es offiziell heißt, in eleganter Umgehung des Worts „verkauft“. Etliche Produktionen sind ohne Zweifel stark gefragt, allen voran die Eröffnungspremiere mit der Beinahe-Oscarpreisträgerin Sandra Hüller, die in der zwischen Musiktheater und Ballett changierenden Produktion „I want absolute beauty“ in der Regie von Ivo van Hove Songs von PJ Harvey singt.

Ein weiterer weiblicher Gast-Star kommt aus Frankreich: Isabelle Huppert spielt in einer Deutschen Erstaufführung Romeo Castelluccis freie Adaption von Jean Racines „Bérénice“, der Tragödie um die jüdische Prinzessin, die sich in den römischen Kaiser Titus verliebt. Die Uraufführung des Tanzstücks „Y“ von Anne Teresa de Keersmaeker ist bereits an so vielen Tagen ausverkauft gemeldet, dass kaum noch ein Fuß dazwischen passen dürfte.

Wildes Leben in freier Kommune: Szenenfoto aus der Produktion „The Faggots and their friends between Revolutions“, basierend auf dem Kultroman aus den späten 1970er Jahren (Foto: Tristram Kenton)

Etwas skurril sind die Verrenkungen, die das Triennale-Team bei der Ankündigung der Produktion „The Faggots and their friends between Revolutions“ unternimmt. Es ist ein Musikspektakel, das Ted Huffman und Philip Venables nach einem Kultroman von Larry Mitchell geschaffen haben. Weil der Titel ein Schimpfwort für schwule Männer benutzt, veröffentlicht die Triennale vorauseilende Erklärungen und Entschuldigungen (faggot bedeutet so viel wie Schwuchtel, das englische Wort für das Musikinstrument Fagott lautet bassoon). So weit, so verständlich. Aber dass die Produktion als „entschlossenes Musiktheater“ beworben wird, als gäbe es auch ein unentschlossenes oder gar zweifelndes, wirkt, mit Verlaub, ziemlich durchgedreht.

Die neue Nachhaltigkeit

Szenenfoto aus dem Operetten-Slapstick-Musical „Pferd frisst Hut“ mit Musik von Herbert Grönemeyer. (Foto: Thomas Aurin)

Weil jeder selbst durch das Programm blättern oder scrollen kann, sei Weiteres hier nur stichpunktartig skizziert. Schräg und komisch verspricht das Slapstick-Operetten-Musical „Pferd frisst Hut“ von Herbert Grönemeyer in der Regie von Herbert Fritsch zu werden. Edvard Griegs einziger Liederzyklus „Haugtussa“ inspirierte die Regisseurin Eline Arbo zu einer szenischen Fassung. Kirill Serebrennikov setzt dem im Westen kaum bekannten Filmregisseur Sergey Paradjanov in „Legende“ ein Denkmal. Es handelt sich dabei um eine Koproduktion mit dem Thalia Theater und der Kirill & Friends Company. An diesem Beispiel lässt sich eine weitere Neuerung ablesen: Ivo van Hove legt Wert auf Nachhaltigkeit. Alle Produktionen, die bei der Triennale zur Premiere gelangen, werden danach in die Häuser von Kooperationspartnern im In- und Ausland wechseln.

Meldestellen und Vertrauenspersonen

Es könnte alles so schön sein, stünden da nicht die Vorwürfe einer intendantentypischen Willkür im Raum, zu denen van Hove bei der Pressekonferenz natürlich auch befragt wird. Beschuldigungen, es habe am Internationalen Theater Amsterdam unter seiner Leitung Einschüchterung, Machtmissbrauch und verbale Gewalt gegeben, wurden von einer Kommission untersucht, die Ende Juli ihre Ergebnisse veröffentlichte. Van Hove, der die Vorfälle bereits öffentlich bedauert hat und versicherte, an einer Aufklärung mitarbeiten zu wollen, antwortet diesmal beherrscht und knapp, beinahe ein wenig schmallippig. Bei der Ruhrtriennale seien bewährte Strukturen vorhanden, an denen er „nicht rütteln“ wolle, sagt er mit Blick auf Meldestellen und Vertrauenspersonen.

„Lasset die Spiele beginnen!“

„Longing for tomorrow“ ist das Motto der diesjährigen Festival-Ausgabe, womit die Sehnsucht nach einem neuen Morgen gemeint ist. Es soll daran erinnern, dass dem Menschen stets die Kraft zur Neuerfindung, zu Wandel und Verbesserung innewohnt. Mit Blick auf die Kunst gibt es in den kommenden Wochen genug zu entdecken: eine Literaturreihe mit dem Titel „Brave new voices“, außergewöhnliche Konzerte mit dem Chorwerk Ruhr, das zum Beispiel Musik von Björk und Bruckner kombiniert, sowie den Komponisten Julius Eastman, den die Triennale aus dem Schatten seiner berühmten Kollgen Philip Glass und Steve Reich holt. Dazu begehbare Installationen (teils kostenfrei) und Workshops, Vermittlungsangebote, einen Festivalcampus von zehn Hochschulen, Publikumsgespräche und mehr. Nach dem Erlöschen des olympischen Feuers in Paris kann es im Ruhrgebiet erneut heißen: Let the games begin!

www.ruhrtriennale.de




Lauter Damen und eine Leiche im Haus – François Ozons grandioser Film „8 Frauen“

Von Bernd Berke

Das Familienoberhaupt Marcel liegt tot im Bett, der Mann ist offenbar hinterrücks erstochen worden. Welch eine Symbolik zur potenziell vater- und männerlosen Gesellschaft: Denn in François Ozons gleichnamigem Film haben nur jene „8 Frauen“ ihre fulminanten Auftritte, die allesamt der Tat verdächtig sind.

Jede enthüllt fortan die möglichen Motive und Abgründe der anderen, jede hat etwas zu verbergen, keine bleibt ungeschoren. Ein geradezu teuflischer Reigen, der dem Kinozuschauer freilich göttlich vorkommen mag. Denn Ozon bietet eine unvergleichliche Riege französischer Schauspielerinnen auf. Schon angesichts der Namen schmilzt das Herz des Connaisseurs, wobei das Alter der Damen keine Rolle spielt: Emmanuelle Béart, Isabelle Huppert, Fanny Ardant, Cathérine Deneuve, Virginie Ledoyen, Danielle Darrieux.

Die Hure, die Furie, das Lämmchen, die Madonna

Das Mord-Haus ist vorweihnachtlich tief eingeschneit, das weibliche Oktett bleibt daher zwangsläufig unter sich. Es ist eine konzentrierte Situation wie in einem Agatha-Christie-Krimi, eine dichte psychologische Versuchsanordnung. Furios, offensiv und ohne Scheu vor melodramatischen Aufgipfelungen jongliert der Film mit derlei Prägeformen, vor allem aber mit Essenzen der Fraulichkeit: die Hure, die Furie, das Lämmchen, die Madonna – solche Klischeemuster nicht nur der 1950er Jahre (in denen die Handlung spielt) werden zugleich mit großer theatralischer Geste bedient und federleicht ironisch aufgehoben. Es ist eine Komödie im Gewand der Tragödie – und umgekehrt: Erstaunlich genug: Die punktgenau durchgehaltene Stilisierung nimmt dem Geschehen kein Tüpfelchen von seiner Lebendigkeit. Fast schon Nebensache, dass sich der Kriminalfall am Ende ganz überraschend löst.

Gar manches kommt in diesem atemberaubend wechselvollen Enthüllungsdrama zum Vorschein, wir lernen sämtliche Schau- und Kehrseiten der erotischen Reize kennen: Hass, Eifersucht, inzestuöse Wünsche, sexuelle Abweichungen. Ein Gebräu zwischen Skandal und Hysterie, aus dem die Mordgelüste nur so zu strömen scheinen.

Jede Darstellerin hat ihr großes Solo

Und wem soll man nur die Krone der Schauspielkunst geben? Etwa Cathérine Deneuve, die die großbürgerlich, kühle Hausherrin Gaby mit plötzlichen Bruchlinien verkörpert? Oder Isabelle Huppert als deren Schwester Augustine mit ihren Furcht erregend famosen Ausbrüchen eines missgünstigen Biestes und ihrer gloriosen Verwandlung zur glänzenden Dame? Oder doch Emmanuelle Béart als zunächst dienstbares, doch zutiefst zwielichtiges Hausmädchen, das sich in einer grandiosen Sequenz als erotischer Vamp zu erkennen gibt? Nun, man mag sich gar nicht entscheiden. Jegliche Diva hat eben ihre eigene Strahlkraft, ihre eigene Unwiderstehlichkeit.

Obgleich jede Darstellerin ihre großen Soli (zudem mit wunderbar prägnanten Gesangs- und Tanzeinlagen) bekommt, ist dies im besten Sinne ein Ensemblefilm mit ausgewogen komponierten Duetten, Duellen und Gruppenszenen. Wenn in der Schluss-Szene alle Beteiligten auf die Kamera zuschreiten wie nach dem Ende einer Theater-Vorstellung, so ist dies eine wahre Apotheose, eine feierliche Verklärung.

Und noch eine selten erreichte Qualität muss man erwähnen: die ausgeklügelte Farbgebung. Jeder Figur ist ein ganz bestimmtes Spektrum im penibel rekonstruierten Stile von Technicolor zugedacht. Kunstvoll glamourös wird das Geschehen überformt, doch zugleich dient das Mittel der Charakterisierung. So sehen eben Kino-Klassiker aus.




Jedes Wort ist ein Versteck – Claude Chabrols Film „Süßes Gift“ mit Isabelle Huppert

Von Bernd Berke

In diesem Film wird viel geredet, doch kaum über das, was die Personen wirklich bewegt. Das Entscheidende bleibt allemal unter dem Mantel des Schweigens. Jedes Wort ist ein Versteck. Mit „Süßes Gift“ ist Claude Chabrol wieder so sehr in seinem Element wie lange nicht mehr.

Sein psychologisch subtiler, sanft eindringlicher Thriller schleicht sich in Hirn- und Herzwindungen des gehobenen Bürgertums, wo er haarfeine Lügengespinste und neurotischen Selbstbetrug aufspürt. Doch er bleibt bei solchen Erkundungen so diskret, dass man am Ende nicht sicher weiß, was tatsächlich geschehen ist. Es schwant einem nur. Eine Geschichte auf schwankendem Boden.

Durch Zufall erfährt Jeanne (Anna Mouglalis), dass sie vor rund 20 Jahren als Baby vielleicht mit Guillaume vertauscht und der falschen Familie in die Wiege gelegt worden ist. Der Säuglingsstation waren damals die Markierungs-Bändchen ausgegangen

Als Säuglinge in der Klinik vertauscht?

Seltsam nun: Aus Jeanne ist eine talentierte Klavierspielerin geworden. Und Guillaumes angeblicher Vater André Polonski (Jacques Dutronc) ist just ein berühmter Pianist. Guillaume hingegen hat gar kein Faible für Musik: Wenn Polonski in Tonkaskaden von Franz Liszt schwelgt, lässt der vermeintliche Sohn ungerührt seinen Gameboy piepsen oder lungert vor der Glotze herum. Und Polonskis erste Ehefrau sah Jeanne so ähnlich wie ein Spiegelbild. Nur Zufall?

Jeanne ist irritiert. Es ist, als sei sie im Leben nicht mehr richtig verankert. Sie besucht Polonski, fragt nach dem Vorfall im Kreißsaal. Der Pianist leugnet jede Verwechslung, fühlt sich aber der jungen Frau geistig gleich so innig verbunden, dass er ihr Privatstunden erteilt und sie gar für mehrere Tage einlädt. Liszt vierhändig, welche Harmonie! Oder is’s auch unterschwellige Erotik?

Damit kommt Polonskis zweite Ehefrau „Mika“ (Isabelle Huppert) ins Spiel der verdeckten Absichten. Auch sie, die eine Schokoladenfirma geerbt hat, umgarnt Jeanne mit geradezu schwesterlicher Fürsorge. Ist sie denn nicht eifersüchtig? Sie lässt sich nichts anmerken. Blass und mit etwas wässrigem Blick schaut sie um sich. Nur manchmal lacht sie eine Spur zu spitz,. Mit wachsender Verwunderung und Faszination sieht man Isabelle Huppert beim seelischen Versteckspiel und (paradox genug) der Koketterie mit dem Entdeckt-Werden-Wollen zu.

Die Trinkschokolade und das Schlafmitttel

Denn warum serviert diese „Mika“ ihrer Familie immerzu Trinkschokolade, warum verschüttet sie das Zeug zwischendurch so oft, und warum geht ihrem Gatten schon wieder das starke Schlafmittel Rohypnol aus? Befremdliche.

Da könnte es wohl Zusammenhänge geben, die auch auf den rätselhaften Auto-Unfalltod von Polonskis erster Frau zurückverweisen. Jeannes Mutter betreibt – wie günstig – ein gerichtsmedizinisches Labor. Dort wird die ominöse Schokolade heimlich getestet. Doch bis zum Schluss erfährt man nichts Genaues.

Selbst in Momenten scheinbarer Enthüllung bleibt ein Schleier vor der Wahrheit und allen Worten. Und wie von selbst stellt sich eine bizarre Komik des Verbergens ein. Trotzdem glauben wir genug gesehen zu haben. Wir ahnen nun wohl, wie viel böses Wissen jemand erträgt ohne Aufschrei, ohne sich zu offenbaren; wie sich diese Menschen in fatalen Wiederholungszwängen verfangen haben. Und wie sie dennoch weitermachen – auch nachdem sie in jene Abgründe geblickt haben, die sie füreinander sind.