„Mut zu einem ganz neuen Anfang“ – David Grossmans Plädoyer für Frieden im Nahen Osten

Wenige Tage nach dem 7. Oktober 2023, als Terroristen die Grenze zu Israel überwanden, ein Massaker an Juden verübten und zahlreiche Geiseln nach Gaza verschleppten, schwankt David Grossman zwischen Entsetzen und Ohnmacht. Seit Jahren hatte der israelische Autor sich gegen die Besatzung ausgesprochen, Frieden und eine Zweistaaten-Lösung angemahnt.

„Was jetzt geschieht“, schreibt er, sei ein „Alptraum“ und zeige „den Preis, den Israelis zu zahlen haben, weil sie sich jahrelang von korrupten Politikern verführen ließen“, die „das Justizwesen, das Erziehungswesen wie auch die Armee unterhöhlten und bereit waren, uns alle existenziellen Gefahren auszusetzen, um den Ministerpräsidenten vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren.“

Doch bei aller „Wut auf Netanjahu, seine Leute und sein Vorgehen“ dürfe man sich „keiner Täuschung hingeben: Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, Alte und Kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen – das ist ein noch viel schwereres Verbrechen.

Die furchtbare Hierarchie des Bösen

Auch im Bösen gibt es eine Hierarchie. „Wenn man die Hamas-Terroristen auf Motorrädern sieht, wie sie junge Leute, von denen einige noch ahnungslos tanzen, einkreisen, um sie dann unter Jubelgeschrei wie Wild zu jagen und zu erlegen – ob man sie Bestien nennen sollte, weiß ich nicht, ihr menschliches Antlitz aber haben sie zweifelsohne verloren.“ Israel, das weiß er sofort, wird den Terror mit Krieg beantworten, und er vermutet: „Das Land wird nach dem Krieg sehr viel rechter, militanter und auch rassistischer sein“. Ängstlich fragt er: „Ist die winzige Chance auf einen wahren Dialog, auf ein irgendwie geartetes Abfinden mit der Existenz des jeweils anderen Volks nun für einige Jahre auf Eis gelegt worden, oder ist diese Aussicht womöglich auf ewig eingefroren?“ Dabei müsse doch jedem, der die Spirale der Gewalt durchbrechen will, klar sein: „Frieden ist die einzig Option.“

Was Grossman eine Woche nach dem „Schwarzen Schabbat“ formulierte, ist jetzt in einem Band mit Aufsätzen und Reden nachzulesen. Schon am 16. November 2023 fordert er in einer „Trauerrede für die Terroropfer“, den Hass zu überwinden und den „Mut zu einem ganz neuen Anfang“ aufzubringen.

Wie kann das denn funktionieren?

Grossman bleibt seiner Rolle als Friedensstifter treu. Bereits auf der „Münchner Sicherheitskonferenz“ von 2017 wies er darauf hin, dass der unablässige blutige Konflikt die Beteiligten „dermaßen deformiert, dass sie ihren eigenen existenziellen Interessen zuwiderhandeln.“ Die Politiker flehte er an: „Ich bitte Sie, alles zu tun, was in Ihren Kräften steht, um die beiden Seiten zusammenzubringen und den Dialog zu erneuern, dem beide schon seit Jahren mit der seltsamen Logik der Selbstzerstörung aus dem Weg gehen.“

Doch niemand mochte Grossman folgen. Dass seine Appelle nicht unumstritten sind, zeigt eine „Korrespondenz“ zwischen dem deutsch-iranischen Schriftsteller Navid Kermani und dem israelisch-deutschen Soziologen Natan Sznaider: Auf Kermanis Plädoyer für einen Frieden durch eine Zweistaaten-Lösung entgegnet Sznaider: „Wie kann denn so ein Palästina innerhalb von Gaza und Westbank funktionieren? Wie sollen sie denn in einem solchen Staatsgebilde leben? Da muss ja fast schon automatisch das Begehren bei den Palästinensern frei werden, dann doch lieber alles haben zu wollen. Ich sehe im Moment jenseits des Krieges keine Lösung und glaube nicht mehr an die Kompromissbereitschaft der anderen Seite. Der Terror wird weitergehen und somit auch die Reaktion auf den Terror.“ Bittere Aussichten.

David Grossman: „Frieden ist die einzige Option.“ Aus dem Hebräischen von Anne Birkenbauer und Helene Seidler. Hanser, 63 Seiten. 10 Euro.

Navid Kermani/Natan Sznaider: „Israel. Eine Korrespondenz“. Hanser, 64 Seiten, 10 Euro.

 




Olympische Spielstraße, München, 1972 – Erinnerungen an ein fröhliches Projekt, dem der Terror ein jähes Ende setzte

Abschnitt der Spielstraße mit erkennbar entspannten Besuchern. Weiße Luftballons markierten Hotspots des Parcours. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Der Mann im Hamsterrad hatte eine beeindruckende Ausdauer. Jeden Tag lief er seinen Marathon, und er schonte sich nicht. Die Fußverletzungen, die er sich im Rad zuzog, mussten schließlich sportärztlich behandelt werden.

Gleichwohl war er nicht Sportler, sondern Künstler: Timm Ulrichs, der vor wenigen Monaten seinen 80. Geburtstag feierte, prangerte vor bald 50 Jahren in seinem Hamsterrad – auch die Bezeichnung Tretmühle wäre wohl zulässig – die scheinbare Sinnlosigkeit körperlicher Leistungserbringung zu Sportzwecken an. Und seine Aktion wurde lebhaft wahrgenommen, stand das überdimensionale Hamsterrad doch auf der „Spielstraße“ der Olympischen Spiele in München. 1972 war das, verdammt lang her.

Wohl eine Performance, über die wir nichts Näheres wissen. Doch die Ballons kennen wir. (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Von Werner Ruhnau geplant

Die Spielstraße hatte der Essener Architekt Werner Ruhnau konzipiert, den man im Ruhrgebiet vor allem wohl wegen des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier kennt, das 1959 eröffnet wurde. Verbindendes zwischen einem Spaßparcours für die breiten Massen und einem opulent verglasten Musentempel springt möglicherweise nicht sofort ins Auge, doch wohnt beiden das Bestreben inne, Abgrenzungen in der Gesellschaft abzubauen, kulturelle Aktivitäten als partizipative Projekte zu gestalten und allen zu öffnen. Ruhnau war also durchaus der Richtige für die Münchener Spielstraße.

Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft 

Dann kam der schreckliche Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft, bei dem alle elf Geiseln starben. Zwar gingen die Spiele anschließend weiter, doch die Spielstraße wurde abgebaut, weggepackt und fast vergessen. Jetzt erinnert eine Ausstellung im Marler Kunstmuseum „Glaskasten“ an das Projekt.

Blick in die liebevoll zusammengestellte Ausstellung im Glaskasten Marl. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Wertvolle Eindrücke

Zusammen mit der Künstlerin Jana Kerima Stolzer und Britta Peters von Urbane Künste Ruhr hat Glaskastendirektor Georg Elben die Ausstellung konzipiert. Die Exponate stammen ausnahmslos aus dem Archiv Ruhnau, von irgendeiner Vollständigkeit kann natürlich nicht die Rede sein. Doch Timm Ulrichs’ Hamsterrad blieb als wohl größtes Exponat erhalten, außerdem einige skulpurale Arbeiten, Zeitungsartikel, Plakate, Siebdrucke und eine Widmung Andy Warhols, der sich die Sache damals auch einmal anguckte. Weiße Luftballons schweben über den Glasvitrinen gerade so, wie vor 48 Jahren solche Ballons die Stationen der Spielstraße markierten.

Viele Schmalfilme erzählen von der Spielstraße. Leider gibt es keinen Originalton dazu, nur kongenialen Sound. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Anita Ruhnau holte Künstler

Ruhnaus Frau Anita hatte etliche Künstlerinnen und Künstler zur Teilnahme bewegen können, was die Spielstraße, wenn man einmal so sagen darf, zu einem multifunktionalen Spektakel machte: Kunstpräsentation, Theater und Performances einerseits, Mitmachparcours andererseits.

Da liegt eine federnde Hüpfmatratze auf dem Weg und lädt sogar Anzugträger zum Selbstversuch ein, da gibt es Bühnenprogramme mit Publikumsbeteiligung, in der öffentlichen Siebdruckwerkstatt kann sich das Volk mit Rakel und Farbe versuchen. Super-8-Filme berichten von alledem. Glücklicherweise entstanden sie in reicher Zahl und wurden rechtzeitig digitalisiert, so dass sich Qualitätsverluste durch Alterung in Grenzen halten. In zwei relativ großen Räumen laufen diese Filme auf je drei Wänden, und wenn es in dieser ansonsten uneingeschränkt zu preisenden Ausstellung doch etwas zu kritisieren gibt, so ist es das weitgehende Fehlen von Sitzgelegenheiten in zentraler Position, von denen aus die alten Streifen mit möglicherweise noch mehr Genuss betrachtet werden könnten.

Ist es Sport oder ist es seine Verhöhnung? Mitunter spricht das alte Material keine klare Sprache (mehr). (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Langhaarige und Gamsbartträger

Erheiternd sind die Filme auch so, jedenfalls meistens. Langhaarige und Gamsbartträger dicht an dicht und trotzdem stressfrei, wie es scheint. Doch dann taucht in dem Gewusel eine merkwürdige Prozession auf, obskure Gestalten, ein rollendes Podest, ein Müllwagen… Das Straßentheaterstück „Olympiade 2000“, das auf der Spielstraße aufgeführt wurde und das Jana Kerima Stolzer für die Marler Ausstellung recherchierte und kunsthistorisch aufarbeitete, gefällt sich in der Dystopie eines pervertierenden, nurmehr wirtschaftlichen Interessen unterworfenen olympischen Sports. Das Stück schrieb seinerzeit der „Theatermacher“ Frank Burckner in Zusammenarbeit mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk, und trefflich mag man sich darüber streiten, ob die düsteren Erwartungen der Autoren sich erfüllten oder mittlerweile längst schon überholt sind. Leider gibt es für die Filme keinen Ton, was besonders bei den abgefilmten (mehr oder minder spontanen) Bühnenereignissen schade ist.

Frühform der urbanen Künste

Die Spielstraße bot Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen, einst und jetzt und zukünftig. Warum aber beteiligt sich „Urbane Künste Ruhr“ an der Marler Schau, jene Organisation, die in der Nachfolge des Kulturhauptstadtjahres ganz überwiegend öffentliche Orte im Hier und Jetzt mit aktuellen Kunstprojekten bespielt? Nun, die Verwandtschaft der Themen ist nicht zu leugnen, und ursprünglich, so Britta Peters, sollte die „Spielstraße“ nur ein Teil des Urbane-Künste-Projekts „Ruhr Ding: Klima“ sein, das nun aber, Corona ist schuld, auf die Mitte nächsten Jahres verschoben wird.

  • „Die Spielstraße München 1972“
  • Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Creiler Platz, Rathaus
  • Bis 1. November 2020
  • Geöffnet Di – Fr 11 – 17 Uhr, Sa und So 11 – 18 Uhr
  • Kein Katalog



Israel-Boykotteurin sollte Nelly-Sachs-Preis erhalten – Nimmt Dortmunder Jury die fragwürdige Entscheidung zurück?

Die pakistanisch-britische Autorin Kamila Shamsie sollte den mit 15.000 Euro dotierten Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund erhalten. Doch nun sieht es so aus, als werde die Entscheidung rückgängig gemacht.

Die alle zwei Jahre verliehene Literatur-Auszeichnung ist der (bislang noch) renommierteste Kulturpreis, den die Stadt zu vergeben hat. Und was ist daran jetzt verkehrt?

Problematische Preisträgerin? Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Problematische Preisträgerin: Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Diesmal liegt man mit der Kandidatenkür leider völlig „daneben“. Wie diversen Quellen zu entnehmen ist, zuvörderst den Ruhrbaronen, beteiligt sich die Autorin Kamila Shamsie offenbar ganz bewusst und entschieden am Kulturboykott gegen Israel – im Kontext der so genannten BDS-Kampagne, um die es bereits bei der RuhrTriennale heftigen Streit gegeben hat. Triennale-Intendantin Stefanie Carp musste sich einen unglücklichen, chaotischen und sehr widersprüchlichen Umgang mit dem Thema vorhalten lassen.

Die naturgemäß apologetische Jury-Begründung für die jetzige Dortmunder Entscheidung zum Nelly-Sachs-Preis findet sich hier. Die etwas verschwurbelte Diktion deutet darauf hin, dass man sich von rein literarischen Erwägungen hat (ver)leiten lassen – ganz ohne Rücksicht auf politische Aspekte, was in diesem Falle wenigstens naiv ist. Oder waren da gewisse Zusammenhänge gar nicht bekannt? Dann wäre es fahrlässig zu nennen. Inzwischen hat die Stadt recht unmissverständlich Stellung bezogen (siehe unten).

Der jetzige Vorfall (oder wohl treffender: Skandal) ist mindestens so gravierend wie die erwähnten Vorgänge bei der RuhrTriennale, wurde doch mit der allerersten Preisträgerin und zugleich Namensgeberin Nelly Sachs (1891-1970) im Jahr 1961 in Dortmund eine herausragende Dichterin geehrt, die mit ihrem Werk auch und vor allem für jüdische Traditionen und Belange einsteht, jedoch niemals platt parteilich, sondern in höchst einfühlsamem Geiste.

Nelly Sachs als junge Frau im Jahr 1910. (Wikimedia Commons / gemeinfrei / Fotograf(in) nicht namentlich bekannt) - Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nelly_Sachs_1910.jpg

Nelly Sachs als junge Frau im Jahr 1910. (Wikimedia Commons / gemeinfrei / Fotograf(in) nicht namentlich bekannt) – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nelly_Sachs_1910.jpg

Die in Berlin geborene Nelly Sachs war eine deutsch-schwedische Schriftstellerin jüdischer Herkunft. Sie war eine Angehörige des gebildeten jüdischen Bürgertums, das einst in Deutschland tief verwurzelt war und damals das gesamte Kulturleben nachhaltig geprägt hat – bis die Nazis die Macht an sich rissen. Vom NS-Regime wurde Nelly Sachs drangsaliert, so dass sie 1940 nach Schweden flüchtete; gerade noch rechtzeitig, um dem Abtransport in ein Lager zu entgehen.

Den Dortmunder Nelly-Sachs-Preis erhielt sie 1961, 1966 bekam sie den Literaturnobelpreis „für ihre hervorragenden lyrischen und dramatischen Werke, die das Schicksal Israels mit ergreifender Stärke interpretieren“.

Wie verhält sich zu all dem der Israel-Boykott der jetzigen Preisträgerin? Steht er nicht dem Geist und dem Sinn des Werkes von Nelly Sachs völlig fern oder gar diametral entgegen? Muss man die Preisvergabe nicht einen eklatanten Fehlgriff nennen?

Noch mehr Fragen: Ob es Proteste bei einer etwaigen Preisverleihung am 8. Dezember geben würde, zu der die Autorin nach Dortmund anreisen wollte? Ob aus den Reihen früherer Preisträger vielleicht gar jemand die Auszeichnung zurückgeben wird? Wüste Spekulation, sicherlich. Aber auch nicht auszuschließen.

Jedenfalls muss man sich schon darauf gefasst machen, dass Dortmund in den politisch hellhörigen Feuilletons zumindest bundesweit, wenn nicht international ins Zwielicht gerät. Man kann auch in diesem Sinne nur inständig hoffen, dass die Preis-Entscheidung schnellstens revidiert wird.

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Stellungnahme der Stadt Dortmund:

Preisvergabe überdenken

Inzwischen liegt eine Stellungnahme der Stadt Dortmund vor. Im Wortlaut:

„…Zum Zeitpunkt der Entscheidung war keinem der Jurorinnen und Juroren bekannt, dass Kamila Shamsie in der Vergangenheit die Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) unterstützt hat. In der Vorbereitung der Jury ergaben sich keinerlei Hinweise auf Aussagen, die mit BDS in Verbindung stehen. BDS hat das Ziel, Israel wirtschaftlich, politisch und kulturell zu isolieren.

Die Autorin hat am Mittwoch, 11. September, persönlich Stellung bezogen und ihre Unterstützung für BDS bekräftigt.

Die neunköpfige Jury des Nelly-Sachs-Preises wird vor dem Hintergrund dieser veränderten Ausgangs- und Informationslage in den nächsten Tage zusammentreten, um ihre Entscheidung im Rahmen eines satzungsgemäßen Verfahrens (zu) überdenken. Über das Ergebnis werden wir schnellstmöglich informieren.

Der Rat der Stadt Dortmund hat sich im Februar 2019 klar positioniert und eine „Grundsatzerklärung des Netzwerkes zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund“ beschlossen. Darin heißt es u. a., dass „…Organisationen, Vereine(n) und Personen, die etwa (…) zu antijüdischen oder antiisraelischen Boykotten aufrufen, diese unterstützen oder entsprechende Propaganda verbreiten (z. B. die Kampagne ‘Boycott – Divestment – Sanctions (BDS)‘ keine Räumlichkeiten oder Flächen zur Verfügung gestellt werden.“




Der Bewahrer und seine Hoffnung: Katharina Hackers berührender Roman „Skip“

skipSkip Landau mag Dinge, die er anfassen kann und zieht sie vielem anderen vor. So ist er Architekt geworden, in Israel hat er sich im ausgehenden letzten Jahrhundert einen Namen damit gemacht, gemeinsam mit palästinensischen Handwerkern alte Häuser mit viel Liebe zum Detail zu renovieren.

Aufgewachsen ist er in Paris, als Erwachsener ging er nach Israel und gründete in Tel Aviv eine Familie. Mittlerweile lebt er in Berlin und kümmert sich dort für seinen Chef um den Erwerb und die Renovierung alter Bausubstanz. Sein Name ist ihm so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

„To skip“ bedeutet im Englischen springen, etwas überspringen und so fühlt er sich auch. Eine richtige Zugehörigkeit zu definieren fällt ihm schwer, allenfalls bezeichnet er sich selbst als modernen Migranten. Er fühlt sich nicht als „richtiger“ Jude, weil seine Mutter keine Jüdin war, er fühlt sich nicht als „richtiger“ Vater, weil seine Söhne aufgrund seiner Zeugungsunfähigkeit von einem anderen Mann gezeugt wurden. Seine Frau Shira ist einen quälenden Krebstod gestorben, der ihn merkwürdig kalt ließ. In Berlin nun erinnert er sich an sein bisheriges Leben und ringt um das Geschenk eines Neuanfangs.

Nicht nur erinnert er sich an reale Geschehnisse seines Lebens, das immer auch von der wechselvollen Geschichte Israels geprägt war. Er erinnert sich auch an Erfahrungen, die er in der Mitte seines Lebens machte und die er bisher niemanden erzählen konnte.

Plötzlich sah er sich mit Dingen konfrontiert, die nur er wahrnahm. Er hörte eine innere, eine unwiderstehliche Stimme, die ihn an Orte rief, an denen wenig später eine Katastrophe passierte. An jedem dieser Orte ist eines der Opfer für ihn plötzlich nicht mehr namenlos und er fühlt sich diesem besonders verbunden. Gegen diese Verbundenheit kann er sich nicht wehren, er muss an diesem Ort ausharren, dieser Seele Gesellschaft leisten, bis sie von selber bereit ist, ihn los zu lassen. Diese Aufgabe belastet ihn, dass er nicht darüber sprechen kann, noch mehr. In Folge leiden seine Ehe und sein Familienleben.

Mit „Skip“ legt die Autorin Katharina Hacker, 2006 Trägerin des Deutschen Buchpreises, ihren lang erwarteten neuen Roman vor. Anders als erwartet ist es keine Fortsetzung ihrer „Dorfgeschichten“ um Anton und Alix, welche als dreiteiliges Romanprojekt angelegt waren. Mit „Skip“ betritt sie einen deutlich globaleren Rahmen, gleich mehrere Länder und Weltanschauungen spielen eine wichtige Rolle. Mit der Geschichte des innerlich zerrissenen Architekten bleibt sie aber dennoch bei ihren zentralen Fragen. „Was macht das Leben mit und aus uns?“ und „Wie wollen wir leben trotz all des Leids?“

Wir sehen Skip beim Mühen, beim Scheitern, seltener beim Gelingen zu. Er ist ein guter Mensch, er macht auch gar keine schwerwiegenden Fehler, trotzdem empfindet er sein Leben lange Zeit als unrund. Das Leben an sich, sein Leben im Besonderen ist für Skip ein großes Rätsel. Ein größeres Rätsel als der Tod. Wohl auch, weil alle Menschen, die ihn von Beginn an begleitet haben, gestorben sind. Seine These ist, dass man nur in der Erinnerung derjenigen lebt, die einen von Anfang an gekannt haben.

Durch den mystischen Überbau löst die Autorin dieses Rätsel für Skip und die Leser auf. Sie erzählt die Begebenheiten rund um Skips innere Stimmen und sein Wirken als „Todesengel“ mit einer nonchalanten Selbstverständlichkeit. Es wirkt weder abwegig noch lächerlich, sondern ganz selbstverständlich. Skip versteht dadurch, dass er „ein Bote ist oder Mittler, einer von denen, denen nichts zustösst“. Er ist kein Macher im eigentlichen Sinn, er ist ein Bewahrer wie er auch in seinem Beruf eher bewahrt denn neu aufbaut. Dies macht ihn zum idealen Begleiter und zwar nicht nur der Toten, sondern vor allem auch der Lebenden. Als er das verstanden hat, traut er sich endlich, seinen Weg weiterzugehen. Und so ist „Skip“ schlißelich ein Buch, das von viel Tragik erzählt, aber ein hoffnungsvolles und zugleich nachvollziehbares Ende hat.

„Skip“ ist noch aus einem anderen Grunde ein wichtiges Buch. Hackers Thema mag universell sein, die Zeit und der Ort, den sie sich dafür ausgesucht hat, sind es aber nicht. In seinen Erinnerungen erzählt Skip hauptsächlich von der Zeit in Tel Aviv vom Ende der 80er Jahre bis zum 11. September 2001. Katharina Hacker studierte unter anderem Judaistik und lebte sechs Jahre in Jerusalem. Israel und seine Menschen sind ihr wichtig. Ihre große Verbundenheit damit spürt man in jedem Satz, Diese Liebe zum Land und seinen Menschen, aber auch die Sorgen darum vermittelt der Roman auf besondere Weise.

Dazu kommt: In einer Zeit, in der durch erneute Gewalteskalationen in Israel und Palästina bereits von einer dritten Intifada gesprochen wird und gleichzeitig andere Krisen die Berichterstattung darüber zurückdrängen, sind die Gedankenanstöße, die „Skip“ gibt, sicher wichtiger denn je.

Katharina Hacker: „Skip“. Roman. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 384 Seiten, € 21,99.




Körper, Dinge, Räume neu vermessen – Zeichnungen von Micha Laury in Bochum

Es ist, als würden alle Räume neu vermessen, alle Körper und Gegenstände von Grund auf neu erkundet, noch einmal erfunden, anders zusammengesetzt. Ein zweiter Schöpfungsakt aus dem Geiste und mit den Kräften der Kunst.

Micha Laury: "Holding my Brain" (1969). (© Micha Laury/Museum Bochum)

Micha Laury: „Holding my Brain“ (1969). (© Micha Laury/Museum Bochum)

Der aus Israel stammende, seit 1976 in Paris lebende Künstler Micha Laury, vereint in seinem Werk unvordenkliche Uranfänge mit weit ausgreifender Zukunftsschau. Bochums Museumdirektor Hans Günter Golinski, dessen Haus Micha Laury nun die erste deutsche Einzelausstellung ausrichtet, fühlt sich dabei gelegentlich gar an die Universalgelehrten der Renaissance erinnert, etwa an Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer. Doch es gibt natürlich auch ästhetische Anknüpfungsstränge in der neueren Kunst, so bei Duchamp, Beuys oder Jasper Johns.

Unter der Enge im Kibbuz gelitten

Laury (Jahrgang 1946) ist in einem Kibbuz aufgewachsen, in denkbar elementaren, einfachen und notgedrungen ärmlichen Verhältnissen, auch in einer gewissen Enge. Der junge Mann verlangte mehr vom Leben und ahnte, dass Kunst Auswege eröffnen könnte. Er durfte eine Kunstschule besuchen. Doch man ließ ihn dort wochenlang biedere Blumenvasen abmalen, also rebellierte er – und wurde hinausgeworfen.

„Fuck the art“ nennt er 1967 ein zorniges, doch auch mit Ironie getränktes Bild, auf dem die Finger ziemlich unsanft durchs Halteloch der (wohl überflüssigen) Palette stoßen. Das bloße Abbild muss überwunden werden, die Dinge muss man aus ihren gewohnten Zusammenhängen heraus reißen, damit man sie neu denken kann. Ein umfassender Ansatz.

Micha Laury: "Fuck the Art" (Study for Plaster Cast), 1967. (© Micha Laury/Museum Bochum)

Micha Laury: „Fuck the Art“ (Study for Plaster Cast), 1967. (© Micha Laury/Museum Bochum)

Sein erstes Atelier hatte Laury in einem unterirdischen Bunker – eine Zelle, die ihn ganz auf sich selbst und die wenigen Gegenstände aus der unmittelbaren Umgebung verwiesen hat. Käfig- und Gefängnisbilder scheinen das Trauma immer wieder zu umkreisen. Und so wirken seine frühen Arbeiten (bezeichnender Titel „Ich weiß nicht, was ich tun soll“) zuweilen ausgesprochen klaustrophobisch, selbstbezüglich, ja beinahe autistisch.

Wenn der Mund am Finger saugt

Da werden mit zahlreichen Studien etwa Zunge, Finger und Ohren jeweils für sich in ihren grundlegenden Funktionen bildnerisch erforscht. Was geschieht genau, wenn ein Finger sich in den Mund senkt und daran gesaugt wird? Wie ist es, wenn eine Zunge von innen an die Wange stößt? Und weiter, schon (wie etliche andere Motive) schmerzlich an Gewalt und Folter gemahnend: Wie sieht es aus, wenn ein Kopf vor die Wand schlägt? Was wird aus Armen und Beinen, wenn sie sich verselbständigen oder zu Prothesen werden? Makaber auch eine Kochanleitung, bei der Spiegelei und Hirn zusammen in einer Pfanne schmoren. Dieser Künstler erspart sich und dem Betrachter nichts. Er führt eine Art Tagebuch, das ihn immer weiter und weiter ins Unbekannte geleitet; auch ins abgründig Böse.

Micha Laury: "Two Figures (Sandwich)". (© Micha Laury/Museum Bochum)

Micha Laury: „Two Figures (Sandwich)“. (© Micha Laury/Museum Bochum)

Apropos Hirn. Schon sehr bald, auf einer Zeichnung von 1970, deutet sich diese bleibende Passion an. Da halten zwei Hände eine rohe Gehirnmasse. Auf anderen Bildern sieht man Gehirnströme, die sich aus den Köpfen nach draußen ergießen oder Wolken, die gleichsam ausgehaucht werden. Der als Fallschirmspringer im Krieg schwer am Kopf verletzte Laury ist bis heute geradezu besessen vom Hirnthema, das er freilich im Lauf der Zeit aus der Leidensdarstellung herausgeführt und im schier unstillbaren Erkenntnisdrang produktiv gewendet hat. Zunehmend hat er sich in den letzten Jahren mit weltweit führenden Hirn- und Zukunftsforschern vernetzt. Gemeinsame Langzeit-Projekte und Symposien sind auf dem Weg.

Botschaft der Todesangst

Für eine Serie von Anti-Heldenbildern wollte Laury einen Freund dazu bewegen, mit einer Militärmaschine Botschaften von Todesangst an den Himmel zu schreiben. Der Luftwaffenkommandant hatte etwas dagegen. So blieb es bei Zeichnungen, die den ungeheuerlichen Vorgang imaginieren. Die Draufsicht-Perspektive des Fallschirmspringers erzeugt übrigens ein ums andere Mal „abstrakte“ Formen. Auch auf solche Weise können sich Bildmuster verwandeln.

Micha Laury: "Shadow" (1969). (© Micha Laury/Museum Bochum)

Micha Laury: „Shadow“ (1969). (© Micha Laury/Museum Bochum)

Laury befasst sich mit Skulptur, Objekten, Installation und Performance, er untersucht also Räume und deren Koordinaten. Bochum hat sich für die vergleichsweise zurückgenommenen Arbeiten auf Papier entschieden. Es ist mithin eine intimere, nahezu kammermusikalische Ausstellung geworden, deren rund 120 Blättern vielfach etwas Unvollendetes, Skizzenhaftes eigen ist. Zeichnungen sind bekanntlich näher an der ursprünglichen Idee, erst recht gilt dies für Laurys Expeditionen in die Terra incognita.

Jenseits des heutigen Menschenbildes

Die Ausstellung endet mit Zukunftsvisionen. Laury sieht eine völlig beispiellose Ära der posthumanen Wesen heraufdämmern, die die Begrenzungen des menschlichen Leibes und des bisherigen Intellekts bei weitem überschreiten werden. Er führt uns Elemente und Erscheinungsformen dieser Transformation vor Augen. Da tun sich überall ungeahnte Kraftfelder auf, es herrscht ein allseits frei fluktuierender Austausch zwischen Hirnen und Maschinen, Telekinese und Teleportation sind selbstverständlich.

Solche Zustände seien schon in dreißig bis fünfzig Jahren zu erwarten, sagt Laury. Moralfragen stellt er zunächst einmal nicht. „Wir haben ohnehin keine Wahl. Das alles wird kommen.“ Und das allerletzte Bild? Es zeigt, wie unendliche Schwärze das ganze Universum aufsaugt….

Micha Laury: „Human Mind Body Space“. Arbeiten auf Papier. Kunstmuseum Bochum, Kortumstraße 147. Vom 29 Juni bis zum 11. August. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr, Mi 10-20 Uhr. Katalog 25 Euro.

P.S.: Während der Ausstellungseröffnung (29. Juni, 17 Uhr) wird ein Freundschaftsvertrag des Bochumer Museums mit dem israelischen Museum of Art in Ein Harod unterzeichnet, einem bereits 1938 begründeten Außenposten der internationalen Kunstszene. Bochums Museumleiter Hans Günter Golinski findet es derweil höchst bedenklich und fatal, dass in Europa manche Kräfte aus politischen Gründen auf einen Boykott israelischer Kunst dringen…

Über das Museum in Ein Harod kam auch der Kontakt zu Micha Laury zustande. Bei dieser Ausstellung kooperiert Bochum außerdem mit den Museen in St. Etienne (Frankreich) und Goch (Niederrhein).

P.P.S.: Im Bochumer Museum ist derzeit (bis 28. Juli) ebenfalls eine Schau des – vor allem durch Porträts von Rockgrößen – berühmten Fotografen Anton Corbijn zu sehen. Dazu demnächst noch ein paar Worte an dieser Stelle.




Requiem auf den toten Sohn, Hymne aufs Leben: David Grossmans „Aus der Zeit fallen“

Ein Mann und eine Frau sitzen beim Abendessen. Sie haben lange geschwiegen. Die dröhnende Stille ist kaum mehr auszuhalten.

Doch die Trauer über den Tod des geliebten Sohnes ist zu groß, die Wunde, die der plötzliche Verlust des viel zu früh Verstorbenen hinterlassen hat, zu tief. Die in ihrem unendlichen Schmerz erstarrten Eheleute sind sich fremd geworden, finden keine Worte, um sich und den anderen zu trösten und vom Leid zu erlösen. Da, endlich, schiebt der Mann seinen Teller beiseite und bricht das fünf Jahre währende Schweigen: „Ich muss gehn./ -Wohin? / – Zu ihm. / – Wohin? / – Zu ihm, nach dort.“

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Uri Grossman, der Sohn des israelischen Autors David Grossman, ist am 12. August 2006 gestorben. Der Libanon-Krieg war schon fast vorbei, da beendete eine Rakete der Hisbollah das Leben des gerade einmal 20jährigen Feldwebels der israelischen Armee. Vater David Grossman schrieb damals gerade an seinem Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“: Ora und Avram haben einen Sohn, der in den Krieg zieht. Weil sie es nicht ertragen, zu Hause zu sitzen und auf die Nachricht vom möglichen Tod ihres Sohnes zu warten, machen sich die beiden auf zu einer langen Wanderung durch Galiläa.

Wandern als Gottesdienst und Sinnsuche, wandern als Versuch, Verlust und Trauer zu bearbeiten: Auch im neuen Buch von David Grossman, „Aus der Zeit fallen“, spielt dieser Gedanke eine zentrale Rolle. Denn der Mann, der seit fünf Jahren in Schmerz und Stille gefangen und wie vereist ist, macht sich auf, um im Gehen „nach dort“ den Tod zu besiegen und das Leben zu finden.

Auf dem Weg nach „dort“, diesem Ort mythischer Dunkelheit, schließen sich dem Mann andere Menschen an, Frauen und Männer, die auch ihr Kind verloren haben und untröstlich sind über den schmerzlichen Verlust. Sie schwellen zu einem Chor der Gehenden an, die ihre Sehnsucht nach den toten Kindern in bewegende Worte kleiden und sich von nichts mehr, auch nicht von Mauern aufhalten lassen.

Es ist ein Text von archaischer Kraft: eine seltsame, verstörende Mischung aus antiker Tragödie und vielstimmigem Klagelied, es ist Requiem und Totenmesse und zugleich Hymne auf das Leben. Denn die Gehenden suchen nicht den Tod, sondern das Überleben, das Weiterleben und die Gewissheit, das tote Kind möge „dort“, wo immer das sei, seinen Frieden gefunden haben.

Nur die beiden Erzählstimmen, Chronist und Zentaur, sprechen in fortlaufender Prosa. Alle anderen Stimmen artikulieren sich in abgebrochen, zerhackt wirkenden Zeilen: Das mal lyrisch, mal stotternd anmutende Schriftbild spiegelt das Zerbrechen und den Verlust der Sprache im Angesicht des Todes. Die Lektüre des Buches fordert geduldige Leser, die bereit sind, sich auf den Schmerz der Trauernden einzulassen.

David Grossman: „Aus der Zeit fallen“. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Carl Hanser Verlag, München. 128 Seiten, 16,90 Euro.




Gestern, heute, morgen am liebsten keine Grass-Debatte

Schon von Anfang an haben mich ein Unbehagen und eine ausgeprägte Unlust beschlichen, mich in die allfällige Grass-Debatte zu mengen. Schnellfertige Schuldzuweisungen, harsche Positionierungen und Denkverbots-Umständlichkeiten waren zu erwarten. Tatsächlich hat sich das mediale Gestrüpp inzwischen derart verheddert, wie man es aus manchen früheren Grass-Debatten kennt. Grass selbst möchte jetzt nicht mehr so recht zu seinem „Gedicht“ (literarisch drittklassig, weil platte Meinungsprosa, vom Inhalt mal abgesehen) stehen und sagt, er hätte es anders formulieren sollen. Mit anderen Worten: Die sprachlichen Mittel stehen ihm offenbar nicht mehr zu Gebote, er schreibt tatsächlich mit „letzter Tinte“.

Doch nun kein Wort mehr davon. Möge das Gerede über den eitlen Großdichter bald wieder abschwellen. Es gibt so vieles, was nicht gesagt werden mus…




Zum Gedenken an den Holocaust

Es war heute vor 67 Jahren, da befreiten Rotarmisten das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Es war heute, da sprach Marcel Reich-Ranicki, ein 91 Jahre alter, gebürtiger Pole jüdischen Glaubens zum Anlass im Deutschen Bundestag – und er sprach das bessere Deutsch. Es war heute – da sprach der Unnaer Bürgermeister, bevor ein Dutzend Schülerinnen und Schüler im Rathaus sich selbst eine Frage stellten: „Warum, warum gedenken wir?“ Sie, ebenso wie der Bürgermeister, gaben selbst eine Antwort auf die Frage: „Wir gedenken, weil nur so wir die Brücke des Unvergessens aus der Vergangenheit in die Zukunft schlagen können.“

Es war vor knapp 30 Jahren, da lernte ich Herrn Unna aus Hamburg kennen, ein Nachfahr des Professors Unna, dem man sehr wesentlichen Anteil an der Erfindung der Nivea-Creme nachsagt. Herr Unna aus Hamburg war ca. 1,80 Meter groß, trug blondes Haar und blickte mich aus wasserblauen Augen an. „Ja,“ lachte er, „ich war der Vorzeige-Germane in meinem Gymnasium!“ Sein sportlich-gestählter Körper und seine außergewöhnlichen Fähigkeiten beim Kunstturnen ließen den flugs erbraunten Sportlehrer immer wieder vor der gesamten Klasse schwärmen, was doch ein teutscher Junge so zu leisten vermöge. Der junge Herr Unna schmunzelte dann still in sich hinein. Schwieg aber.

Denn ehrlich boshafte Antworten verboten sich für einen klugen Menschen, sie bedeuteten Lebensgefahr. Herr Unna war – wie sein Vorfahr und dessen Vorfahren, die es aus dem westfälischen Unna nach Hamburg verschlug, jüdischen Glaubens. Und er widerlegte durch sein Sein, dass seine vielen Mitleidenden deshalb leiden mussten, weil sie anders waren. Viele waren eben so sehr nicht anders, dass sie sogar als germanische Vorbilder herhalten mussten.

Herr Unna erzählte mir dann vor knapp 30 Jahren, dass der größte Teil seiner Familie in den Todeslagern wie Auschwitz-Birkenau umkam. Er erzählte mir auch, dass er nicht als Lamm zur Schlachtbank gehen wollte, dass er floh, sich zunächst der britischen Armee anschloss, bewaffneten Kampf gegen die Nazis (nicht gegen Deutschland an sich) führte, dass er später der Hagana beitrat und Menschen nach Palästina schmuggelte: „So wie im Film ‚Exodus‘.“ Und dass er vielen Palästinensern Wasser brachte, weil er es verstand, es zu finden und nach ihm zu bohren.
Der Krieg war längst vorüber, da kehrte er nach Deutschland zurück und beobachtete mit wachsender Skepsis das politische Tun in Israel. Er schilderte übles Bauchgrimmen, wenn er an seinen israelischen Landsmann Begin dachte. Fast wie peinlich brummte er: „Faschisten sind überall!“

Ich habe Herrn Unna dann (leider) aus den Augen verloren, ließ mir nicht mehr von seinem Lebens erzählen, aber ich erinnere mich immer wieder an ihn, wenn ich lese oder höre, dass die Juden verfolgt und ermordet wurden, weil sie „anders“ waren. Nein, deshalb wurden sie nicht ermordet. Sie wurden ermordet, weil es keine Massenbewegung gab, die ihnen zu Hilfe kam, weil weggeschaut wurde. Und dass wir heute genau hinschauen, dazu dient das Gedenken an diesem Tag. Nie wieder darf dies stimmen: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ (Paul Celan).




Wie die Medien unser Bild von Israel bestimmen – Ausstellung in der Alten Synagoge von Essen

Von Bernd Berke

Essen. Wir alle haben von Israel und den Juden lauter Zerrbilder aus den Medien im Kopf. So lautet jedenfalls die These einer Ausstellung der Alten Synagoge in Essen.

Vor allem zwei Magazine hat man zur Beweisführung ausgewertet, nämlich „Spiegel“ und „Stern“, die beide etliches zur Aufklärung über die Untaten der NS-Zeit beigetragen haben. Doch für diese Ausstellung hat man (nicht in Texten, sondern in der Bebilderung) ganz bewußt nach Defiziten und Fehlleistungen gesucht, die sich durch ihre Häufung seit den 50er Jahren zu Klischees verfestigt hätten. Tafeln mit vergrößerten Reproduktionen dienen als Beweisstücke.

In Deutschland lebende Juden kommen überhaupt selten in der Presse vor. Und wenn, dann nicht als „sie selbst“, wie die Ausstellungsmacher sagen, sondern fast nur in ihrer Rolle als Überlebende und (potentielle) Opfer, sozusagen als bloße Stellvertreter-Figuren historischer Erinnerung.

Anonyme und hilflose Menge

Bilder vom Holocaust zeigten Juden meist nur als anonyme und hilflose Masse, oder es würden Fotos von menschenleeren KZ-Anlagen, Zyklon-B-Behältern und ähnlich „abstrakten“ Gegenstände veröffentlicht. Indem sie dies tadelt, geht die Ausstellung vielleicht übers Ziel hinaus, denn man fragt sich natürlich, welche Alternative es bei der Bebilderung des Unbegreiflichen eigentlich geben könnte. Schließlich geht es ja um eine Massenvernichtung, bei der Einzelschicksale völlig mißachtet wurden. Trotzdem: Die Frage, ob wir womöglich unbewußt diese anonymisierende Sichtweise der Täter weiter mit uns herumschleppen, ist allemal eine Untersuchung wert.

Schlüssiger wird es in dem Teil der Ausstellung, der sich mit dem heutigen Israel befaßt. Da finden sich bedenkliche Verzerrungen, etwa wenn israelische Soldaten am liebsten mit der Waffe im Anschlag und vorzugsweise aus Froschperspektiven gezeigt werden. So wirken sie riesengroß und übermächtig. Naheliegender Gedanke: Israel sei ein militarisierter Staat, David längst ein Goliath. In Überschriften wird dazu oft und gern das biblische Rache-Klischee („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) bemüht. Nur: Ein paar Körner Wahrheit enthalten solche (Sprach-)Bilder auch, sonst bekäme man die Fotomotive ja gar nicht.

Ferner soll die Ausstellung etwas zeigen, was wohl jedes Kind weiß: wie sehr nämlich eine Zeitung mit verschiedenen Bild-Unterschriften oder mit diversen Ausschnitten ein und dasselbe Foto ganz anders deuten kann. Zudem sind diese Möglichkeiten nicht spezifisch für das Thema Israel, man könnte sie anhand beliebiger anderer Probleme demonstrieren. Auch hier freilich der berechtigte Umwand: In Sachen Israel haben wir ganz besonderen Anlaß, auf menschenmöglich korrekte und angemessene Wiedergabe der Realitäten zu achten. Dafür schärft, ihren Schwächen zum Trotz, die Ausstellung den Sinn.

„Mit dem Gebetsmantel zum Gegenangriff – Juden im Bild der Bundesrepublik“. Alte Synagoge. Essen (Steeler Straße 29). Bis 11. Dezember 1994 (tägl. außer montags 10-18 Uhr). Katalog 19,80 DM.