Wie sich die Arbeitswelten wandeln (und was darüber geschrieben wird) – 50 Jahre Fritz-Hüser-Institut in Dortmund

Es waren andere Zeiten: Fritz Hüsers Büro in der Hauptverwaltung der Stadtbücherei Dortmund (damals Hohe Straße 100), sozusagen eine Keimzelle des Hüser-Instituts. (© Fritz-Hüser-Institut)

Wo soll man anfangen und wo aufhören? Wo beginnt die „Arbeitswelt“, wo endet sie? Solche Fragen drängen sich auf, wenn es um die Entwicklung des „Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt“ in den letzten 50 Jahren geht.

50 Jahre – das ist die Zeitspanne seit Gründung der in Dortmund ansässigen Einrichtung, die aus der Büchersammlung des Bibliothekars und vormaligen Werkzeugmachers Fritz Hüser (1908-1979) hervorgegangen ist und kürzlich Jubiläum feiern konnte. 1973 übergab Hüser seine seit den 1920er Jahren entstandene Sammlung, die bis heute auf rund 50.000 Bände sowie etliche literarisch Vor- und Nachlässe angewachsen ist, offiziell der Stadt Dortmund. Die Bestände sind im deutschsprachigen Raum, aber auch international ohne Beispiel. Doch sie sammeln in Dortmund nicht nur, sie forschen auch, veranstalten Fachtagungen, vergeben Stipendien – und so weiter.

Längst nicht nur industrielle Maloche

Freilich hat es zunächst gedankliche Begrenzungen gegeben: Unter „Arbeitswelt“ verstand man in den Anfangszeiten fast nur die knochenharte industrielle Maloche in Zechen und Stahlwerken. Wesentlich geprägt wurden solche Vorstellungen von der damaligen Realität des Ruhrgebiets, wie sie sich zumal in der Dortmunder „Gruppe 61“ und im 1970 gegründeten Werkkreis Literatur der Arbeitswelt abzeichnete. Doch unter sukzessiver Leitung von Fritz Hüser, Rainer Noltenius (ab 1979), Hanneliese Palm (ab 2005) und jetzt Iuditha Balint (seit 2018) wurde das Betätigungsfeld zusehends ausgedehnt.

Die jetzige Instituts-Leiterin Iuditha Balint. (© Roland Gorecki / Stadt Dortmund)

In all den Jahren hat der Begriff der Arbeitswelt einige Weiterungen erfahren. Iuditha Balint und ihr Team entdecken in der Literaturgeschichte und in Neuerscheinungen zahllose Werke, die den Themenkreis auf vordem ungeahnte Weise vergrößern. So haben z. B. auch Goethe („Wilhelm Meister“) oder Thomas Mann („Buddenbrooks“) recht eigentlich Arbeitswelten geschildert. Und wenn es um Bergbau geht, so war nicht erst Max von der Grün, sondern beispielsweise auch schon der Romantiker Novalis ein lebensweltlicher und literarischer Fachmann.

Prekäre Verhältnisse inbegriffen

Bereits in den 1920er Jahren fand – neben den „klassischen“ Arbeitern – das Leben der Angestellten Eingang in die Literatur. In den späten 70ern führte etwa Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie solche Ansätze beispielhaft fort. Ganzheitlich verstanden, definiert sich Arbeitswelt längst auch durch gegenläufige Biographien und Beschreibungen. Arbeitslosigkeit und prekäre Verhältnisse spielen denn auch in (auto)fiktionalen Texten eine wesentliche Rolle. Ferner wäre da die traditionsreiche Literatur über Vagabunden und Vaganten, wie denn überhaupt auch die Ablehnung von Arbeit innig mit der Arbeitswelt zu schaffen hat, gleichsam wie ein Negativ-Abdruck. Nebenbei bemerkt: Sprachgeschichtlich war Arbeit lange mit Mühsal und Qual verknüpft, verheißungsvolle Merkmale wie Sinnstiftung und Wohlstand wurden erst relativ spät damit verbunden.

Bis hin zum Workout und zur „Beziehungsarbeit“

Dass sich zuletzt viele Romane, Erzählungen, Stücke oder Gedichte um digitale Jobs (bis hin zu erbärmlich bezahlten „Clickworkerinnen“) drehten, versteht sich von selbst. Auch Selbstoptimierung im Fitness-Bereich („Workout“) darf bei weitherziger Auslegung als spezielle Form von Arbeit gelten, exemplarisch in John von Düffels Buch „Ego“. Spannend überdies, was sich derzeit in der Literatur begibt. Durch Beobachtung des Buchmarkts, Gespräche mit Autorinnen und Autoren sowie Jury-Arbeit bemerken sie beim Hüser-Institut aktuelle Tendenzen recht früh. Instituts-Chefin Iuditha Balint: „Wir bekommen ziemlich genau mit, was gerade entsteht.“ Nämlich?

Nun, es treten lange ignorierte oder zumindest unterschätzte Phänomene wie Hausarbeit, elterliche Arbeit und Pflege (so genannte „Care-Arbeit“) oder auch „Beziehungsarbeit“ in den Vordergrund – und damit zunehmend Frauen als Protagonistinnen. Und außerdem? Balint: „Es wird gerade erstaunlich viel über Solidarität geschrieben, über Widerstand, Streiks und Demonstrationen.“ Sollte sich die Literatur hier abermals als Seismograph erweisen? Sollte etwa eine neue Bewegung entstehen, so etwas wie eine außerparlamentarische Opposition neueren Zuschnitts? Wir werden sehen.

Staunenswerter Lebenslauf 

Staunenswert übrigens auch der Lebenslauf von Iuditha Balint. In Rumänien als Angehörige der ungarischen Minderheit zweisprachig aufgewachsen, kam sie erst ums Jahr 2000 nach Deutschland. Wie sich die einstige Kindergärtnerin seitdem die deutsche Sprache angeeignet, studiert, promoviert und wissenschaftliche Karriere gemacht hat, das macht ihr so schnell niemand nach.

Dortmund mit seiner vielfältigen freien Kulturszene dürfte unterdessen der ideale Standort eines solchen Instituts sein; erst recht in unmittelbarer Nachbarschaft der kathedralenhaften Zeche Zollern, der Zentrale des LWL-Industriemuseums. Hier und im ganzen Revier hat man sich stets als Arbeiter-Gegend verstanden. Wohl kein Zufall, dass ganz in der Nähe auch die an eine Bundesanstalt angegliederte DASA (vielbesuchte Arbeitswelt-Ausstellung) residiert. Ja, selbst im hiesigen, stets ungemein wichtig genommenen Fußball geht die Rede, dass selbiger vor allem „gearbeitet“ und nicht so sehr leichtfüßig gespielt werden solle.

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Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt. Grubenweg 5, 44388 Dortmund. Öffnungszeiten Mo-Do 10-16 Uhr, Terminvereinbarung erforderlich. Tel.: 0231 / 50-23135. Mail: fhi@stadtdo.de

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen.




„Arbeits- und Klassenverhältnisse im Comic“ – ein virtuelles Treffen zum Stand der Forschung

Eine Kiste mit Donald-Heften gehört mitunter auch in hochliterarisch interessierte Haushalte. (Foto: Bernd Berke)

Hotelbuchungen und Saal-Anmietungen waren nicht nötig. Sozusagen heimlich, still und ziemlich leise vollzieht sich gerade die (virtuelle) Jahrestagung der Gesellschaft für Comicforschung, die im Revier organisiert wird, genauer: von Iuditha Balint, Direktorin des Dortmunder Fritz-Hüser-Instituts (FHI) für Literatur und Kultur der Arbeitswelt sowie Markus Engels von der Uni Duisburg-Essen (UDE). Das Thema des Online-Treffens klingt griffig, geht es doch drei Tage lang um „Arbeits- und Klassenverhältnisse im Comic“.

Wer dächte da nicht gleich an die beiden berühmten Antipoden aus Entenhausen: Dagobert und Donald Duck. Just dem reichsten Mann (pardon: der reichsten Ente) der Welt und dem armen Schlucker Donald galt denn auch bereits der einleitende Fach-Vortrag. Christoph Schmitt (Schwäbisch Gmünd) gab Einblick in seine laufende Dissertation mit dem vorläufigen Titel „*Bling* – Vom ersten Kreuzer zum Geldspeicher. Arbeits- & Klassenverhältnisse in Entenhausen.“

Da ging es aber gleich zur Sache! Christoph Schmitt stellte klar, dass der Entenhausener Kosmos auf seine Weise eine durchaus realistische Lebenswelt abbildet, in der halt die Gesetze des Kapitalismus gelten. Ein Befund: Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs (im Extrem: „vom Tellerwäscher zum Milliardär“) legitimieren das gesellschaftliche System und zementieren es zugleich. Nicht am Werk von Carl Barks, dem sich die Donaldisten geradezu inbrünstig widmen, sondern an ausgewählten Geschichten des Zeichners und Texters Don Rosa macht Schmitt seine Erkenntnisse fest. Anregende Leitgedanken finden sich zumal in Don Rosas Sammelband „Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden“.

In Entenhausen geht es radikal marktliberal zu

Den Geschichten rund um Dagobert kann man laut Christoph Schmitt geradezu prototypische Regeln und Normen für sozialen Aufstieg, aber auch fürs Scheitern abgewinnen. Bemerkenswert schon, dass Dagobert mit zarten 13 Jahren aus Schottland in die USA aufgebrochen ist, wo die Aufstiegschancen angeblich grenzenlos sind. Dieser Aufstieg verlangt freilich außerordentlichen Fleiß, Verzicht und Askese. Anfangs tut sich Dagobert erbärmlich schwer und verrichtet die niedrigsten Jobs. Doch auch der spätere Reichtum ist stets bedroht. Nicht nur die Panzerknacker wollen an Dagoberts Geldspeicher heran, auch direkte Konkurrenten setzen ihm ständig zu. In Dagoberts Welt geht es derweil radikal marktliberal zu, der Staat soll allenfalls den „ehrlichen Wettstreit“ schützen, aber möglichst keine Steuern kassieren.

Betrüblich auch: Dagobert ist im Zuge seines ungeheuer gewachsenen Reichtums fast völlig vereinsamt, auch seine Jugendliebe (Bardame „Nelly“) hat er irgendwann aufgegeben. Demgegenüber hat der notorische Pechvogel Donald ein enorm spannendes und irgendwie doch intaktes Sozialleben – allerdings ohne ausreichende Geldmittel und mit etlichem Stress.

Kurzum: Christoph Schmitt führte schon einmal vor, wie interessant Comics als Forschungsgegenstand sein können. Im weiteren Verlauf der Tagung sollen noch einige andere einschlägige Themen aufgegriffen werden, u. a. geht es um „interkulturelle und postkoloniale Perspektiven“, wobei das Spektrum von polnischen Ghetto-Comic bis zum amerikanischen Superhelden-Comic reicht. Bis zur Abschlussdiskussion am Freitag dürfte also reichlich Material vorliegen.

 




Als Robert Walser von Christian Morgenstern gerügt wurde – eine digitale Dortmunder Fachtagung zum Thema „Korrigieren“

Dortmund. Das haben wir nicht alle Tage: dass von Dortmund aus eine literatur- und medienwissenschaftliche Diskussion angeregt wird und es dazu eine hochkarätige Tagung gibt – in diesen Zeiten freilich digital und virtuell. Wir reden von einer zweitägigen Fachdebatte zum bisher weithin unterschätzten Thema des Korrigierens in vielen Schattierungen. Das Spektrum reicht von der Lektorierung literarischer Texte bis hin zur oft so vermaledeiten Autokorrektur-Software – und ragt in einige andere Bereiche hinein.

Etwas unscharfer Screenshot von der Videokonferenz-Tagung: Prof. Thomas Ernst beim einleitenden Kurzvortrag, in der Bildleiste darüber weitere Tagungs-Teilnehmer(innen).

Wie noch nahezu jedes Thema, so lässt sich auch dieses im Prinzip unendlich auffächern und in allerlei Feinheiten zergliedern. Was abermals zu beweisen war und sich heute schon zu Beginn der Tagung angedeutet hat. Im Folgenden „schenken“ wir uns sämtliche Professoren- und Doktortitel, praktisch alle Beteiligten tragen den einen oder anderen. Und übrigens: Fast alle zeigten sich den Webcams vor üppig gefüllten Bücherregalen.

Eingeladen hatte das von Iuditha Balint geleitete Fritz-Hüser-Institut (FHI) für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, das in der Nachbarschaft des Dortmunder LWL-Industriemuseums Zeche Zollern residiert. Mitorganisator ist Thomas Ernst (Amsterdam/Antwerpen), weitere Wissenschaftler*innen werden aus Bern, Hamburg, Berlin, Saarbrücken, Mannheim, Leipzig, Essen und Bochum zugeschaltet, die Kommunikation erfolgt via Zoom-Konferenz.

Machtverhältnisse und aufklärerisches Potenzial

Iuditha Balint legte in ihrer kurzen Einleitung dar, dass Korrekturen u. a. auch Ausdruck von Machtverhältnissen sein können (wer darf wen wie weitgehend „verbessern“?) und sozusagen ein Gegenstück zum Konzept von genialer oder auktorialer Autorschaft darstellen. Thomas Ernst führte aus, dass das Korrigieren zudem – schon in der Schule, wenn etwa Klassenarbeiten durchgesehen und bewertet werden – normative Funktionen erfülle. Auch Zensoren übten quasi eine Art „Korrektur“ aus. Am anderen Ende der Skala befördere das Korrigieren allerdings auch Formen kollektiver Zusammenarbeit und könne als Instrument der Aufklärung gelten. Wie wissenschaftliche Erkenntnisse sich überhaupt im Dialog und durch ständige Revisionen (also: Korrekturen) konstituieren, habe sich jüngst auch bei der Diskussion virologischer Themen vielfach erwiesen. Da war er, der aktuelle und buchstäblich virulente Bezug. Hier aber gilt’s den Geisteswissenschaften.

Die „Affenliebe“ zum eigenen Schreiben

Den ebenso anspruchsvollen wie interessanten Eröffnungsvortrag hielt sodann Ines Barner aus Essen. Sie skizzierte eine übergreifende Systematik zum Thema der Tagung und verwies dabei auf zwei konkrete Beispiele aus den Gefilden der literarischen Hochprominenz. So hat kein Geringerer als der Lyriker Christian Morgenstern – einer der frühen Lektoren im deutschsprachigen Literaturbetrieb – zeitweise die Betreuung des Romanautors Robert Walser („Geschwister Tanner“) übernommen. Anfangs höchst angetan vom kurz zuvor neu entdeckten Walser, schrieb Morgenstern ihm vor der Drucklegung einen ziemlich harschen Brief. Walsers „Affenliebe“ zum eigenen Text müsse nun endlich aufhören, er schreibe viel zu „weitschweifig“ und „selbstgefällig“, ja nahezu trivial. Sprach’s und strich kurzerhand ganze oder halbe Seiten aus dem ursprünglichen Text… Just solche „Störstellen“ (Ines Barner) hat Robert Walser hernach aufgegriffen, um sie eigenständig umzuarbeiten.

Peter Handke zwischen den Extremen

Anders gelagert war der Fall bei Peter Handke, dem Elisabeth Borchers als Lektorin des Buchs „Langsame Heimkehr“ zur Seite gestanden hat. Handke wusste nicht recht, wie er das Buch enden lassen sollte und steigerte sich in eine regelrechte Schreibkrise hinein, in deren Verlauf er Elisabeth Borchers freie Hand gab, den Text nach Belieben zu ergänzen, was einer Mitautorschaft gleichkam. Ein durchaus ungewöhnliches Verfahren. Handke hat seine Großzügigkeit denn auch später bereut, sich von Borchers als Lektorin getrennt und fortan umso entschiedener auf Unantastbarkeit seines Schreibens bestanden. Von einem Extrem ins andere…

Schon diese beiden Beispiele des Umgangs mit Korrekturen auf dem Felde der Hochliteratur lassen ahnen, wie spannend und vielfältig die Stoffe der Dortmunder Tagung sind. Es werden noch etliche weitere Aspekte in Betracht kommen, beispielsweise: Korrekturen und Lehrerurteile anhand deutscher Abituraufsätze in den 1950er Jahren (Sabine Reh), Korrekturprozesse bei der Verfertigung von Friedrich Nietzsches „Die fröhliche Wissenschaft“ (Stavros Patoussis / Mike Rottmann), „Zur Figur des Korrigierens bei Thomas Bernhard“ (Justus Fetscher), „Korrigieren mit der Schere“ (Marie Millutat) oder auch „Sprachliche Normen und Korrekturimpulse in automatisierten Korrekturprozessen“ (Ilka Lemke / Katrin Ortmann).

Schade nur, dass die Teilnehmerzahl auf rund 100 Leute begrenzt ist. So bleibt die Wissenschaft erst einmal unter sich. Doch Verlauf und Resultate der Tagung sollen später noch publiziert werden; zunächst in einigen Wochen als Zusammenschnitt (auf der Instituts-Seite fhi.dortmund.de), im nächsten Jahr dann als Tagungsband.

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P. S.: Auch dieser Beitrag wurde noch einer Korrektur unterzogen. Nur gut, dass er nicht gedruckt vorlag.