Die Macht der Musik: Ivor Bolton beginnt seine Residenz in der Philharmonie Essen mit Vokalwerken Georg Friedrich Händels

Ivor Bolton hat sich schon in den Achtzigern einen Namen gemacht, als er an der Bayerischen Staatsoper München zeitgeistig luxuriöse Händel-Opernproduktionen dirigierte. Seither hat er die polierte Oberfläche verlassen und ist in die Tiefe vorgedrungen. Davon zeugte zuletzt eine vorzügliche „Agrippina“ bei den Münchner Opernfestspielen 2019 in der Regie von Barrie Kosky.

Ivor Bolton, in der Spielzeit 2019/20 Artist in Residence der Philharmonie Essen. Foto: Nancy Horowitz

Ivor Bolton, in der Spielzeit 2019/20 Artist in Residence der Philharmonie Essen. Foto: Nancy Horowitz

Was liegt für Bolton also näher, als seine Residenz an der Philharmonie Essen mit Georg Friedrich Händel zu beginnen? Für seinen Einstand wählte er zwei bedeutende oratorische Werke: Die „Ode for St. Cecilia’s Day“ eröffnet passend das novemberliche Konzert, kombiniert mit „Alexander’s Feast“ – genauso wie bei der Uraufführung der ausgedehnte Hymne an die Schutzheilige der Musik am 22. November 1739 im Lincoln’s Inn Fields Theatre in London.

Große Emotionen in Musik gefasst

Das „Alexanderfest“ ist ein merkwürdiger Zwitter, weder Oratorium noch Ode, aber ein Hauch großer Oper. Kaum Handlung, dafür eher ein philosophisches Nachdenken über die „Macht der Musik“ mit den Mitteln der Musik: Alexander der Große sitzt „beim königlichen Fest nach Persiens Fall“. Die Lieder eines Sängers rufen unterschiedliche Emotionen hervor. Unabhängig von einer Handlung ermöglicht der Text, erhabene Freude, Wut und Rachegefühle, Heiterkeit, Liebe und Mitgefühl in Musik zu fassen – eine Chance, die Händel mit allem farbigen Reichtum nutzt.

Vom herrschaftlichen Gestus der Ouvertüre bis zum instrumental kühn illustrierten Todesschmerz folgt das Concerto Köln den Ausdrucks-Absichten Boltons mit gewohnter Souveränität. Kein überzogenes Tempo stört die expressive Formung von Tönen und den Fluss der Phrasierung, kein technisches Hindernis beeinträchtigt den Wohlklang der Fagotte, der virtuos beherrschten Hörner oder der Blockflöten. Das Chorwerk Ruhr, einstudiert von John Lidfors, brilliert – auch in der „Ode for St. Cecilia’s Day“ – mit faserlosem Klang, rhythmischer Präsenz und präziser Artikulation.

Vorboten des Weingottes

Unter den Solisten hat der Bass Andreas Wolf mit einem fabelhaften Lob des Bacchus den unterhaltsamsten Auftritt, unterstützt von ausgezeichneten Bläsersolisten, wenn der „Schalmeienklang“ den ewig schönen, jungen (und trinkfreudigen) Weingott ankündigt. Den Kontrast bildet eine Arie des Soprans wenig später, in der Emőke Baráth das traurige Schicksal des sterbenden Perserkönigs Darius schildert. Es ist eine der bewegenden Szenen, in denen sich Händel als expressiver Gestalter von Emotionen erweist. Auch wenn die Sängerin mit ihrem kopfig angesetzten Sopran ein „barockes“ Ideal pflegt, bei dem man fragen darf, wieviel es mit dem Belcanto der Händel-Zeit zu tun hat, gestaltet sie mit ihren Mitteln, ihrer sensiblen lyrischen Wärme und einem kultivierten Timbre die Wirkung des Liedes auf Alexander, der ob des Leids seines Gegners zu Tränen gerührt wird.

Dritter im Bunde der versierten Gesangssolisten ist Allan Clayton, einer der typischen Tenöre mit weißgetöntem Timbre, wie sie für Musik des 18. Jahrhunderts eingesetzt werden. Ein Belcanto-Experte wie Rodolfo Celletti hat für diesen Gesangsstil wenig schmeichelnde Urteile übrig; Clayton gestaltet die Accompagnati des zweiten Teils mit dem Willen, dem Sinn der Worte nachzuspüren, doch er muss sich geschlagen geben, weil Händel in diesem Fall dem Bass den Joker zugeschoben hat: Die Szene der aus der Gruft steigenden Furien und eines Geisterzugs im Schein von Fackeln ist in ihren unheimlich fahlen Farben so plastisch geschildert, dass es Andreas Wolf leicht fällt, daraus einen Thriller des 18. Jahrhunderts zu machen.

Die weiteren Konzert der Spielzeit mit Ivor Bolton

Das Konzert erzeugte Lust auf den 23. November, wenn Ivor Bolton wiederkommt, dann mit einer Reise in die Romantik mit Mendelssohns Vierter Symphonie und Schumanns Klavierkonzert, gespielt von Martin Helmchen. Am 8. Dezember bringt Bolton „sein“ Orchester mit: Das Sinfonieorchester Basel, dessen Chefdirigent er seit 2016 ist, spielt dann Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik zum „Sommernachtstraum“ und begleitet Daniel Hope in Ludwig van Beethovens Violinkonzert.

Weiter geht’s 2020 mit einem Konzert am 13. Februar in der Pro Arte Reihe, wieder mit dem Orchester aus Basel und einem reinen Beethoven-Programm, diesmal dem c-Moll-Klavierkonzert mit Alexander Melnikov und Ausschnitten aus der Ballettmusik „Die Geschöpfe des Prometheus“. Die Essener Philharmoniker dirigiert Ivor Bolton am 27. und 28. Februar. Dann zeigt er, dass er mit Anton Bruckner ebenso vertraut ist wie mit Händel, wenn die Vierte – die „Romantische“ – auf dem Programm steht. Eine weitere Bolton-Facette lässt sich am 5. März 2020 erkunden: Mit dem ebenfalls von ihm geleiteten Orchester des Teatro Real Madrid gibt er Musik von Gioachino Rossini zum Besten.

Den Abschluss der Residenz bildet ein Konzert am 29. Mai mit der vollständigen Schauspielmusik Beethovens zu Goethes „Egmont“ mit Ulrich Tukur als Sprecher und flankiert von Beethovens „Eroica“ und der Ouvertüre zu „Lodoȉska“ von Luigi Cherubini. Dabei spielt das Mozarteum Orchester Salzburg, das Bolton bis 2016 geleitet hat und dessen Ehrendirigent er ist.

Tickets für die Konzerte:
Tel.: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de/karten/




Barocke Burleske: Antonio Cestis Karnevalsoper „L’Orontea“ in Frankfurt

An Ägyptens Gestaden gestrandet: Alidoro (Xavier Sabata), angehimmelt von Silandra (Louise Alder), aber auch von der Königin Orontea selbst begehrt. Foto: Monika Rittershaus

An Ägyptens Gestaden gestrandet: Alidoro (Xavier Sabata), angehimmelt von Silandra (Louise Alder), aber auch von der Königin Orontea selbst begehrt. Foto: Monika Rittershaus

Wenn’s in Frankfurt mal lustig wird, ist Achtsamkeit angesagt: Mit komischen Opern oder gar Operetten hat Hausherr Bernd Loebe seit Jahren kaum etwas im Sinn. Jetzt erbarmte er sich zur „fünften Jahreszeit“ einmal eines nach Witz und heit’rer Laune gierenden Publikums – aber wenn schon, dann wenigstens barock: „L’Orontea“ hatte rechtzeitig vor den närrischen Tagen Premiere; ein burlesker, geistvoller Spaß aus dem Jahr 1656, geschaffen von einem Franziskanermönch.

Antonio Cesti wusste, wie er sein Zeitalter zu packen hat, und schuf für das Innsbruck Erzherzog Ferdinand Karls zur Karnevalssaison einen handlungssatten Dreieinhalbstünder, an Personen reich, mit Anspielungen und Zweideutigkeiten kräftig gewürzt. Giacinto Andrea Cicognini, der Librettist, verstand sein Handwerk: Er wusste, wie man verwöhnte, von der Oper gesättigte Venezianer professionell zu unterhalten hatte.

Dennoch ist die „philosophisch“-allegorische Einkleidung keine bloße Maskerade, um kulturellem Anspruch zu genügen. Ein Disput zwischen „Filosofia“ und „Amore“ exponiert das Vergnügen und sorgt am Ende für die Raffinesse der Auflösung: Creonte, der alte Philosoph, löst den Knoten der heillos verschnürten Handlungs- und Gefühlsstränge. Mag ja, sein, dass die Liebe die größere Macht über die Menschen hat und ihr Streben und Drängen bestimmt. Aber ohne die lösende Vernunft könnte sie sich aus den eigenen Verstrickungen nicht mehr befreien. Eine weise Lösung nach barocker Art.

Doch zuerst geht’s um den verderblichen Einfluss amouröser Impulse auf ein (scheinbar) vernünftig wohlgeordnetes Gemeinschaftswesen. Orontea regiert als Königin in Ägypten und ist keinesfalls willens, dem triebhaften Unter-Ich zu weichen, das als dickköpfige Amorette durch das Bühnenbild Gideon Daveys geistert. Aber wie das eben so ist: In Gestalt des schönen, an ägyptischen Gestaden gestrandeten Malers Alidoro kommt die Versuchung an, und statt dem Rat des – leider zu spät geborenen – Oscar Wilde zu folgen, sich lieber gleich zu ergeben, müssen sich die zunehmend liebeskranke Regentin und ihr Hof gute drei Stunden in Musik ergießen, bis sich alles im Sinne Amors fügt.

Barocke Fülle der Zeit: 70 Minuten braucht Orontea, bis sie sich zu dem zentralen Schluss durchringt, sie liebe Alidoro. Und erst nach weiteren 130 Minuten setzt sie die Erkenntnis folgerichtig durch. Dazwischen: Rezitative und Arien, einige von entzückendem Reiz, Sehnen, Begehren, Eifersucht, Trunk Travestie und Täuschung, Verzweiflung und Verwechslung, Briefe, Amulette und Piraten: Das ganze Repertoire wird aufgefahren, um Spaß und Spannung der Zuschauer zu erhöhen, bis endlich Creonte – mit der soliden, unfehlbar sitzenden Stimme von Sebastian Geyer – der Liebe freie Bahn gibt.

Regisseur Walter Sutcliffe – er inszenierte in Frankfurt Benjamin Britten selten gespielten „Owen WIngrave“ mit glücklicher Hand – schaut genau hin, auf Lust und Elend körperlichen Begehrens, auf lächerliche und tragikomische Versuche der Figuren, sich dem beliebten oder begehrten Gegenüber interessant zu machen, auf Getändel und Gemütstiefe.

Paula Murrihy als Orontea in Antonio Cestis gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Paula Murrihy als Orontea in Antonio Cestis gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Orontea etwa, die Königin, reagiert in „Liebesdingen“ ja nicht wie eine erfahren gereifte Seele. Sie hat den Attacken Amors in etwa so viel entgegenzusetzen wie ein dreizehnjähriger Teenager, reagiert wechselhaft, eifersüchtig, überzogen. Das Kostüm von Gideon Davey verdeutlicht den Fall: Zunächst in einer blauen Robe mit dem Kragen der „jungfräulichen“ Elisabeth Tudor, dann mit den exaltierten Würfen eines barock anmutenden Kleides, das auch ein köstliches Praliné verpacken könnte, schließlich schüchtern-reizstark entblättert schlittert die Königin in den emotionalen Wirrwarr hinein.

Auch andere Personen wechseln äußere Hülle und innere Seelenstimmung: Aristea etwa liefert mit Haut und Pailletten den Nachweis, dass Amor „auch die Alten nicht verschont“. Der Tenor Guy de Mey, der schon in der CD-Aufnahme mit René Jacobs mitgewirkt hat, macht aus der für einen tiefen Alt gedachten Rolle eine groteske, scharfe Travestienummer.

Amors Klone übernehmen die Herrschaft. Szene aus "L'Orontea" an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Amors Klone übernehmen die Herrschaft. Szene aus „L’Orontea“ an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Dass Sutcliffes Konzept vor allem im ersten Teil vor der Pause nicht trägt, liegt nicht nur an der Oper selbst, die sehr lange braucht, um alle Charaktere zu exponieren. Es liegt auch an der Distinktion des Regisseurs. Die Szenen ziehen sich, Abstecher ins Derb-Komödiantische oder in den Slapstick machen das Blei der Zeit nur punktuell leichter.

Daveys Bühne lässt barocke Schaulust vermissen: Da sorgt auch grelles Licht auf öde Sanddünen im ersten Akt nicht für Erleuchtung. Und ein hoher roter Raum, mit Büsten ausgestattet wie ein archäologisches Kabinett, bildet auch eher einen Rahmen als ein spielförderndes Element. Die tiefe Ruhe im Zuschauerraum vor der Pause sprach Bände.

Nach der Pause zieht das Tempo an, werden die Szenen burlesker, wenn auch nicht unbedingt belangvoller. „Amore“ behauptet ihre Herrschaft immer unverblümter: Die Putten vervielfachen sich; in Abendkleidern mit speckigen Ärmchen grillen sie Würstchen, schieben Kulissen, lugen hinter allen Kanten hervor. Das erinnert an den bunten, oberflächlichen Bühnen-Trash, mit dem in der Intendanz von Peter Jonas einst David Alden angetreten war, die Münchner zu Händel-Fans zu bekehren.

Nobler Rahmen, aber wenig spieldienlich: Das Bühnenbild von Gideon Davey. Foto: Monika Rittershaus

Nobler Rahmen, aber wenig spieldienlich: Das Bühnenbild von Gideon Davey. Foto: Monika Rittershaus

Dirigiert hatte diese Münchner Gesellschafts-Divertissements einst Ivor Bolton – und er debütiert in Frankfurt nun mit einer kritisch erarbeiteten Neuausgabe von Cestis Musik, den Streichern des Frankfurter Opernorchester und Solisten aus dem Monteverdi Continuo-Ensemble. Sie steuern die Spezialinstrumente bei: Theorbe, Lirone, Gambe, Trompete, Posaune, Zink, Orgel.

Bolton pflegt nicht die ruppige Ästhetik mancher Originalklang-Ensembles. Er setzt auf einen weich geformten, plastischen Klang, auf behutsame Akzente und federnden statt polternden Rhythmus. Das wirkt überzeugend in den Momenten der Innerlichkeit wie in der Arie „Intorno all’idol mio“, mit der die vorzüglich singende Paula Murrihy die seelische Tiefe der Orontea offenbart. Die burlesken Momente allerdings vertrügen entschlosseneren Zugriff in Artikulation und Rhythmus.

Unter den Sängern profiliert sich Paula Murrihy erneut als eine der leuchtenden Stimmen des sorgfältig gepflegten Frankfurter Ensembles. Ob in den sicher gesetzten verzierten Passagen oder im elegant gebildeten Legato: sie ist höhenschön, sicher in der Stütze und klangvoll im Timbre präsent. Mit schmeichelndem Timbre und geschmeidiger Stimmführung empfiehlt sich der katalanische Counter Xavier Sabata als Alidoro, selbst wenn ihm der virile Nachdruck ein wenig fehlt. Eigentlich war für diese Produktion Franco Fagioli angekündigt, der sich auf seiner Homepage aber mit Verweis auf höhere Gewalt entschuldigte.

Matthias Rexroth und Louise Alder lassen als „niederes“ Paar kaum Wünsche offen. Simon Bailey hat als Gelone die buffoneske Basspartie auszufüllen: Den ständig alkoholisierten, jede Gelegenheit zu Schlaf oder voyeuristischer Neugier nutzenden Diener bringt er mit derbem Charme auf die Bühne, stimmlich hat er mit den geforderten Wechseln ins Falsett seine Probleme – kein Wunder, denn was im 17. Jahrhundert Sache gut ausgebildeter Spezialisten war, kann heute nicht ohne Weiteres von einem Sänger verlangt werden, der von Bach bis Bartók alles singen können soll. Am Ende war der größere Teil des Publikums zu reichlich Beifall aufgelegt.




Solistin und Instrument sind eins – die Cellistin Alisa Weilerstein in der Essener Philharmonie

„Alisa Weilersteins Cello macht ihre Identität aus“. Die Verschmelzung von Solistin und Instrument ist für die Los Angeles Times der Schlüssel zum Spiel der Musikerin. Es ist eine ziemlich genaue Beobachtung. Denn die Amerikanerin scheint nahezu symbiotisch verwachsen mit dem sonor klingenden Korpus. Hinzu aber kommt: Diese Verbindung führt unmittelbar zum Kern des zu interpretierenden Werkes. Das wiederum setzt Emotionen frei, die das Publikum geradewegs zu spüren bekommt.

Gleichwohl aber bleibt der Eindruck, dass sich die junge Solistin in einen Kokon spinnt, dadurch ein bisschen unnahbar wirkt, ohne wirklich introvertiert zu sein. Der Hörer (und Zuschauer) fühlt die Kraft der Musik, mag dabei aber Weilersteins Wirken eher unterschätzen. So geschehen in Essens Philharmonie, wo der Applaus herzlich und groß, nicht aber von jäher Wucht ist. Das wäre, der Vergleich sei hier einmal erlaubt, im Falle von Sol Gabetta wohl anders gewesen.

Alisa Weilersteins Gastspiel ist allerdings das erste überhaupt in Essen. International hat die in Rochester/New York geborene Künstlerin durchaus einen Namen, hier allerdings scheint sie vielfach (noch) die große Unbekannte. Sie spielt zudem Schumanns a-moll-Konzert, das nicht unbedingt an erster Stelle der Aufführungsstatistik steht. Das hochromantische Werk, das sich keine Kadenz erlaubt und im Eingangs- und Mittelsatz auf offen virtuosen Glanz verzichtet, wirkt bei aller Emotionalität doch ein wenig spröde.

Umso mehr beeindruckt, wie sich die Solistin als vehemente Fürsprecherin dieses Stückes aufschwingt. Wie sie ihrem Instrument samtene, blühende Töne entlockt, andererseits zur ingrimmigen Attacke fähig ist. Dann scheint sich Schumanns aufgewühlte Natur unmittelbar zu offenbaren. Weilerstein geht es dabei übrigens nicht um vordergründige Affekte. Auch ist ihr die große, selbstreferenzielle Geste fremd. Selbst im überbordenden Finale behält sie die Kontrolle, stellt ihr virtuoses Können in den Dienst der Musik. Weilerstein kann zupacken, ohne hemdsärmelige Attitüde.

Körperbetontes Dirigat: Der Brite Ivor Bolton. Foto: Ben Wright

Körperliches Dirigat: Ivor Bolton. Foto: Ben Wright

Ihr zur Seite steht im Schumann-Konzert das Mozarteumorchester Salzburg, am Pult der Brite Ivor Bolton. Er ist seit zehn Jahren Chef des Klangkörpers – eine lange Bindung, die sicherstellt, auf das bisweilen sehr körperliche Freistildirigat präzis zu reagieren. Scharfe Akzente, große Transparenz und eine in Verbindung mit dem Solocello ausgewogene dynamische Balance sind das Ergebnis. Noch stärker ist der Eindruck bei der Interpretation von Schumanns 4. Sinfonie, deren Erstfassung erklingt. Bolton und das hier etwa 40 Köpfe starke Orchester lassen eine oft atemlose, herbe Romantik aufblitzen, mit teils scharf gleißenden, teils schroff dunklen Bläserakzenten. Und der Kontrast zur Romanze, die hier schwüle Statik atmet, könnte größer kaum sein.

Dies alles hat sich indes schon bei zwei Mendelssohn-Konzertouvertüren angedeutet. „Die Hebriden“ als kantig ausgestaltetes Idyll, „Ruy Blas“ im Wechsel zwischen Bläserfanal und aufgeregtem Glanz, öffnen im Grunde die Tür zu Schumanns Welt. Ein ungewöhnlicher Abend voller Entdeckungen. Und eine davon ist die Cellistin Alisa Weilerstein.

 




Festspiel-Passagen VII: Salzburg – Mit der Zauberflöte ins Labyrinth

Mandy Fredrich (Königin der Nacht) und Julia Kleiter (Pamina) in der Salzburger "Zauberflöte". Foto: Monika Rittershaus

Mandy Fredrich (Königin der Nacht) und Julia Kleiter (Pamina) in der Salzburger "Zauberflöte". Foto: Monika Rittershaus

Der siebenfache Sonnenkreis ist eine Mischung aus Baustellenlampe und Hirnschrittmacher, mit einem Schlauch offenbar direkt mit Sarastros Hirn verbunden. Der Weisheitstempel besteht aus lauter Türen, mit kryptischen Buchstaben bezeichnet. Sarastro und die Königin der Nacht balgen sich am Ende um das technische Gerät, während die jungen Leute den Kinderwagen Papagenos und Papagenas hinterherlaufen. Familienidylle statt Weisheitslehre?

Jens-Daniel Herzog, der Dortmunder Operndirektor, hat sich mit der „Zauberflöte“ bei den Salzburger Festspielen vorgestellt – wie so viele andere ein Import aus des neuen Intendanten Alexander Pereiras Zürcher Zeit. Und seine Botschaft scheint zu sein: Leute, nehmt den ganzen Zauber nicht so wichtig. Das ist ein dürftiges Ergebnis.

Sicher lassen sich bei der „Zauberflöte“ die Tiefenschichten in Emanuel Schikaneders einzigartigem Libretto ausblenden, lässt sich das unterhaltsame Abenteuerstück aus der Wiener Vorstadt hervorkehren. Aber Herzog stellt sich – so jedenfalls in einem Interview im Programmbuch – auf die Seite Susan Sontags und ihre Ablehnung, in einem Kunstwerk einen „Subtext“ zu ergründen. Sontag propagiert die postmoderne Beschränkung auf die pure Sinnlichkeit und den Primat der individuellen Erfahrung, die sie in einer Interpretation eingeschränkt sieht.

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Bei einem so komplexen Kunstwerk wie der Oper ist der Verzicht auf eine schlüssig ausgearbeitete, pointierte Deutung gleichzusetzen mit dem Verharren an der Oberfläche. Das mag durchaus sinnenfroh und unterhaltsam sein, ermöglicht aber keine ästhetische Erfahrung, sondern verhindert sie. Der Verzicht auf einen Standort – den der Regisseur einnehmen muss – lässt den Zuschauer irgendwohin treiben statt ihn herauszufordern, die eigene Position zu suchen und einzunehmen.

Herzog ist natürlich viel zu klug, um die postmoderne Falle zuschnappen zu lassen, aber er konnte sich ihren Fangzähnen doch nicht ganz entwinden. Die Zauberflöte, die in seiner Inszenierung den Prinzen Tamino vor den wölfischen Ungeheuern rettet, war bei ihm zumindest verstimmt. Hätte er sich konsequenter auf die Gegensätze des Stücks eingelassen, hätte er die naive, aber zutiefst menschliche Welt des Papageno über das putzige Dreirad-Lieferwägelchen und die Vogelfedern hinaus geführt, wäre auch das Potenzial von Bühnenbildner Mathis Neidhardts Felsenreitschul-Imitation zu erschließen gewesen. Denn das Versteckspiel mit verschiebbaren Kästen nach Art eines Türen-Klapp-Boulevardkrimis brachte nicht viel.

Markus Werba (Papageno) schiebt sein Vogel-Mobil weg. Foto: Monika Rittershaus

Markus Werba (Papageno) schiebt sein Vogel-Mobil weg. Foto: Monika Rittershaus

Die Salzburger „Zauberflöte“ war nicht wegen Herzogs Inszenierung mit Spannung erwartet worden, sondern vor allem, weil sie Nikolaus Harnoncourt zum ersten Mal in Salzburg – in Zürich war er schon vor fünf Jahren – und zum ersten Mal mit seinem Orchester, dem „Concentus Musicus“ aufführte. Und weil er aus lebenslanger, vielleicht ein wenig altersmilder Erfahrung eine Gegenposition zu all den verhetzten „Original“-Zauberflöten formuliert. Wir hören den schlanken, dunkel grundierten Streicherklang nicht im mechanischen Tempo, sondern in einer fast schon manieristisch am Text-Metrum ausgerichteten Varianz. Wir hören seidige Bläser, die nicht mehr jäh, sondern fast schüchtern akzentuieren. Wir erleben, wie Harnoncourt zwar beweglich-flüssige Grundtempi anschlägt, dann aber verzögernd der Emotion Raum gibt, wie in „Schnelle Füße…“ oder in Paminas Arie „Ach ich fühl’s…“. Und wir erfahren, dass Sarastros Arien, längst keine wuchtig-pathetischen Bekenntnisse aus der Patriarchenwelt mehr, durchaus mit gemäßigter Würde vorzutragen sind. Irritierend ist, dass Harnoncourt kaum Wert auf den musikalischen Bogen legt. Er fordert nicht nur konsequentes Anti-Legato, sondern nimmt „Löcher“ in Kauf, deren Sinn sich nicht erschließt.

Wer von der Krise des Wagner-Gesangs redet, muss den Mozart-Gesang mit einschließen. Seit den traurigen Eindrücken aus dem Salzburger Mozart-Marathon 2006 hat sich da nicht viel geändert. Sicher, Georg Zeppenfeld als undramatisch-beherrschter Sarastro und die unangestrengt auf dem Atem singende Pamina Julia Kleiters wissen, wie es geht. Mandy Fredrich hat auch am Essener Aalto-Theater die „Königin der Nacht“ gesungen: Sie beherrscht die technischen Finessen der Partie, hat ein gut ausgebildetes Fundament für den Klang auch in der Höhe, aber keine charismatische Brillanz. Markus Werba, ein gewinnender Darsteller, darf sich als Papageno ruhig an seiner künftigen Frau, der bezaubernden Elisabeth Schwarz, ein Beispiel nehmen und die Stimme aus der Kehle nach vorne bewegen. Bernard Richter singt den Tamino hölzern und kann die Töne nicht binden. Die drei Damen bilden alles andere als ein Ensemble, speziell Sandra Trattnigg zernichtet als Erste Dame mit Trompetentönen den Gleichklang. Und gibt es in Salzburg für den Mohren – der hier nach neuester Quellenkritik „Manostatos“ heißt – keinen Buffo-Tenor mehr, der nicht nur haltlosen Sprechgesang bietet wie Rudolf Schasching?

Thomas Tatzl, der Papageno in Peter von Winters "Labyrinth". Foto: Hans Jörg Michel.

Thomas Tatzl, der Papageno in Peter von Winters "Labyrinth". Foto: Hans Jörg Michel.

Noch viel misslicher sind die sängerischen Eindrücke in der einzigen Oper, die bei den Salzburger Festspielen aus dem Repertoire herausfällt: Peter von Winters „Das Labyrinth“, nur sieben Jahre nach Mozarts Tod von Emanuel Schikaneder als „Der Zauberflöte zweyter Theil“ konzipiert. Wir finden das bekannte Personal aus Mozarts Oper wieder. Die Königin der Nacht hat sich mit König Tipheus und dessen Freund Sithos zwei Heerführer an ihre Seite geholt, die den Kampf mit dem spürbar militarisierten Sarastro endgültig entscheiden sollen. Papageno findet seine Eltern und mit ihnen jede Menge Geschwister, und Monostatos ist am lunaren Hof trefflich etabliert. Tamino und Pamina müssen neue Prüfungen ablegen: Nach Feuer und Wasser ist nun die Erde dran: ein unterirdisches Labyrinth gilt es zu durchschreiten. Nicht Hollywood, sondern Wien hat die Fortsetzung als Erfolgsprinzip entdeckt.

Ein angemessener Blick auf das Stück muss sich zuerst davon verabschieden, Konzeption und Musik der „Zauberflöte“ auf diese Fortsetzung zu übertragen. In den sieben Jahren seit ihrer Uraufführung haben sich Perspektiven und Interessen verschoben, gerade im rasch auf Zeitströmungen reagierenden populären Unterhaltungstheater. Im „Labyrinth“ tritt die Ideenwelt zurück, vielleicht, weil Mozarts Einfluss fehlt. Dafür triumphiert das Wunderbare, Effektvolle, Kolportagehafte.

In Salzburg bleibt dieser „zweyte Theil“, wie so manches Film-Sequel, glanzlos hinter dem Original zurück: Im Residenzhof singt die – früher mal in Dortmund und Bonn, jetzt an der Komischen Oper Berlin engagierte – Julia Novikova eine koloraturüberforderte, harttönig-dünne Königin, die viel gelobte Malin Hartelius eine Pamina ohne Höhe und Charme. Clemens Unterreiner und Philippe Sly bleiben als neu eingeführte Krieger Tipheus und Sithos zuverlässig blass.

Mandy Fredrich als Königin der Nacht und Klaus Kuttler als Monostatos. Foto: Hans Jörg Michel

Julia Novikova als Königin der Nacht und Klaus Kuttler als Monostatos. Foto: Hans Jörg Michel

Das mag auch der inspirationslosen Regie der in Dortmund geborenen und bis 2003 am Schauspielhaus Bochum inszenierenden Alexandra Liedtke geschuldet sein. Warum Salzburg für ein solches Werk keinen Platz für einen erfahrenen Opernregisseur hat, ließe sich wahrscheinlich nur durch einen Blick hinter unzugängliche Kulissen ergründen. Raimund Orfeo Voigts Bühne verwendet technisch aufwändige, verschiebbare Licht-Lamellen, erinnert in Reminiszenzen wie der Hanswurst-Bühne an die Tradition des Volkstheaters, mit dem Zitat von Schinkels Berliner Zauberflöten-Himmelsgewölbe an die Spuren des erhabenen Aufklärungstheaters. Doch Liedtke fällt nichts ein als schrecklich vorhersehbare Auftritte; vom Zauber- und Maschinentheater ebenso wenig eine Spur wie von einem Versuch, zu verstehen, wie Schikaneder den Stoff an den Geist einer neuen Epoche angepasst und was diese Wandlung für Zuschauer von heute bedeuten könnte.

Im lustlos knappen Beifall zeigt sich der Ärger über festspielunwürdige Besetzungen, über das beflissene, aber uninspirierte Spiel des Mozarteum-Orchesters unter Ivor Bolton und über eine konzeptlose, den Abend unerträglich dehnende Inszenierung. Wären da nicht einige wenige Sänger gewesen, auf deren Auftritt man sich gefreut hat wie Christof Fischesser als Sarastro oder Thomas Tatzl und Regula Mühlemann als Papageno und Papagena, wären da nicht die heiteren, die „ausschweifende Pracht“ der Uraufführung persiflierenden Kostüme von Susanne Bisovsky und Elisabeth Binder-Neururer gewesen, der gut dreistündige Abend wäre in Langweile versauert.

An Peter von Winter lag es nicht, wie manche Rezensenten vorschnell behaupteten, die immer noch glauben, was nicht im internationalen Repertoire steht, tauge nichts. Winters Bezeichnung „große heroisch-komische Oper“ deutet eine Entwicklung an: Die Musik gibt sich „romantischer“, weniger verspielt, aber auch weniger durchgearbeitet als Mozarts Vorbild. Wir schreiten voran in Richtung Cherubini, Spontini und Beethoven.

Peter von Winter auf einem zeitgenössischen Stich.

Peter von Winter auf einem zeitgenössischen Stich.

Winter liefert kein Plagiat oder eine Imitation. Zwar tauchen in der Ouvertüre die feierlichen Dreiklänge auf. Die Königin der Nacht noch effektvoller Koloraturen perlen lassen, Sarastro gefällt sich wieder in salbungsvollem Arioso. Die tragenden Zauber-Requisiten Glockenspiel und Flöte treffen wir erneut. Offenbar besonders beliebte Szenen werden wieder aufgenommen, wie die Tänzchen der vom Glöckchenklang verzückten Bösewichter. Doch es kündigen sich auch andere, pathetischere Töne an. Der Chor – der von Alois Glassner einstudierte Salzburger Bachchor – hat eine gewichtige Rolle. Der Krieg Sarastros mit König Tipheus und der nun eindeutig böse und rachsüchtig gezeichneten lunaren Herrscherin entspricht der politischen Lage – ein Jahr vorher stand Napoleon vor Wien – und wohl auch dem Hang der Zeit nach mehr „Action“ und weniger Weisheitslehren.

Und wenn ein Schleier auf dem Weg durchs Labyrinth die „Tugend“ der Pamina schützen muss, haben sich die Gewichte verschoben von Philosophie und Weltweisheit zur einer am Sexuellen orientierten Moral der neuen bürgerlichen Schichten, auf deren dunkler Seite die Versuchung für Papageno lauert: Für exotischen Sex, sprich, die Nacht mit einer schwarzen Frau, ist er bereit, seinen Aufruf zum Mord an Monostatos noch einmal zu überdenken. Zu wünsche wäre, dass die Salzburger Wiederentdeckung von Winters „Zauberflöte“ nicht – wie die letzte Aufführung 2002 in Chemnitz – einfach verpufft. Dem Aufführungsrekord der Mozart’schen Erstversion schadet es nicht, wird hin und wieder an einem Opernhaus die Fortsetzung gespielt.

Infos zum Salzburger Spielplan: http://www.salzburgerfestspiele.at