Gerechtigkeit ist dem Schicksal fremd: „Kleiner Mann – was nun?“ nach Hans Fallada am Grillo-Theater Essen

Stefan Migge, Silvia Weiskopf, Philipp Noack (im Hintergrund) in der Inszenierung „Kleiner Mann – was nun?“ nach dem Roman von Hans Fallada – in einer Bühnenfassung von Thomas Ladwig und Vera Ring am Grillo Theater Essen. (Foto: Birgit Hupfeld)

Der Titel des Romans von Hans Fallada stellt eine Frage. Am Ende wird sie beantwortet durch die Liebe. Nicht durch politische Analyse, philosophische Systemkritik oder Revolution. In der letzten Premiere im Großen Haus vor der durch den Corona-Virus erzwungenen Spielpause zeigte das Essener Grillo-Theater Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ in einer Adaption durch Regisseur Thomas Ladwig und Dramaturgin Vera Ring.

Was nun? Die Frage stellt sich für das junge Paar Johannes und Emma Pinneberg von Anfang an, als der noch ungeborene „Murkel“ eine überstürzte Heirat erzwingt. Zum Überleben reicht’s gerade so, aber Verlust der Arbeit, Verlust der Wohnung und geplatzte Träume von einer halbwegs auskömmlichen Existenz im Großstadtdschungel von Berlin lassen die jungen Leute mit ihrem Baby immer weiter nach unten rutschen.

Das Ende bleibt offen. Hans Falladas unbestechliche Beobachtung des Abstiegs hält einfach inne. Ist die Laube vor der Toren Berlins und die gesellschaftliche Ausgrenzung Pinnebergs die letzte Station? Oder geschieht, wie zwischendrin öfter, ein kleines Wunder? Kommt jemand vorbei wie Herr Jachmann oder der FKK-Anhänger und Verkäuferkollege Heilbutt, der irgendwie, irgendwo die Tür einen Spalt weit öffnet und wenigstens das Überleben möglich macht? Wir wissen es nicht.

Zusammenbruch als bürgerliches Subjekt

Fallada ist kein Brecht. Ihm geht es nicht um Entlarvung eines Systems, sondern um den Einzelnen im System. Was wir erfahren ist, dass die Liebe die Chance gibt, weiterzumachen. Nicht im Sinne des romantischen großen Gefühls, sondern als ein Wille, zusammenzustehen, sich der Ohnmacht entgegenzustemmen, sich zu weigern, einen bedrückenden Alltag als finales Lebensschicksal anzuerkennen. Sie seien doch anständige Leute, sagt Frau Pinneberg, das „Lämmchen“; da dürfte es ihnen doch eigentlich nicht schlecht gehen. Aber diese Art Gerechtigkeit ist dem Schicksal fremd.

Bei Fallada gibt es glückliche Zufälle, aber keinen Gott, der die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Über alle walzen die großen Entwicklungen hinweg, und die Menschen verstehen nur ansatzweise, was passiert: Könnte man nur einmal eine Zeitung lesen, klagt Pinneberg irgendwann. Für ihn ist der Zusammenbruch als bürgerliches Subjekt, als Mitglied der Gesellschaft besiegelt, als ihn ein Polizist in der noblen Friedrichstraße von den Schaufenstern wegjagt: Stefan Migge macht mit bedrückend gewebter Empathie für seine Rolle deutlich, dass für den Arbeitslosen damit eine innere Welt zerstört wird, die seinem Leben, seinem Überleben bisher noch einen Rest von Sinn gegeben hatte.

Diese Geschichte von Abstieg und unverdrossenem Aufbäumen dagegen ist auch eine Geschichte starker Frauen. Wie Rieke Busch in Falladas „Ein Mann will nach oben“ ist Emma Pinneberg, geborene Mörschel, kein naives „Lämmchen“. Sie weiß, wie sie ihren „Jungen“ sanft, aber bestimmt immer wieder aufrichten kann, wie sie ihren geraden Weg geht, wie sie zäh am Überleben festhält. Silvia Weiskopf spielt sie zerbrechlich stark, pragmatisch im Alltag, aber treu ihren moralischen Maximen, standfest und sensibel. Erst am Ende, wenn sie eine Treppe in ein Souterrain hinabsteigt, kommt so etwas wie schmerzvolle Resignation auf. Eine Frauenfigur, die Fallada fern jeder Idealisierung, aber mit warmem Herzen entworfen hat, und die Silvia Weiskopf in ihrer anrührenden, bescheidenen Größe mit Distinktion und Herz verkörpert.

Wie in „Klimbim“ durch Leben segeln

Auf ihre Art eine starke Frau ist auch Pinnebergs Mutter Mia, eine Lebedame, die bessere Zeiten gesehen hat, aber beharrlich darauf besteht, die glamouröse Vergangenheit präsent zu halten. Eine Egoistin, der ihr Sohn wenig bedeutet, die mit der Fuchsstola jede Anmutung von Solidarität beiseite weht, die wie dereinst Elisabeth Volkmann in „Klimbim“ durchs Leben segelt, immer aufs Überleben bedacht. Ines Krug macht das angemessen mondän, wobei sie nicht nur den billigen Kern hinter der geschminkten Fassade sichtbar werden lässt, sondern auch die verzweifelt nach Zuneigung gierenden Seiten dieser alternden Frau nicht verleugnet, die auf tiefere Seelenschichten verweisen. Ines Krug ist auch Mutter Mörschel: eine gnadenlos realistische, abgearbeitete Frau aus dem Arbeitermilieu, auf das ihr Mann (Jan Pröhl) einen irrational verbissenen Stolz entwickelt hat – auch einer der Anker, die eine Gestalt am Rand der Gesellschaft noch am Leben hält.

Jan Pröhl zeigt seine Verwandlungskunst auch als Jachmann, eine zwielichtige Figur, der man dennoch eine Prise von Herzensgüte abnimmt. Als Kleinholz, Geschäftsmann im Landstädtchen Ducherow, quält Pröhl mit sadistischer Energie seine Angestellten. Der Verkäufer Heilbutt dagegen ist für seinen Kollegen Pinneberg im noblen Warenhaus Mandel wie ein barmherziger Samariter: Fallada führt an dieser Figur vor, wie ein Mensch mit Hilfe bigotter moralischer Empörung aus der Gesellschaft des „Normalen“ ausgestoßen wird: Stefan Diekmann spielt diesen abgeklärten Menschen facettenreich, lässt auch Homophobie und Antisemitismus anklingen – Motive, die aber nicht weiter ausgeführt werden.

Deformation des Menschen durch ein übermächtiges System

Ladwigs Inszenierung verlangsamt und konzentriert sich, wenn sich die apsisförmige Bühne von Ulrich Leitner mit dem rohen Holz ihrer Streben, Treppen und Galerien zum Kauftempel verwandelt. In diesem Raum wird verhandelt, was Fallada hauptsächlich interessiert hat, die Deformation des Menschen durch ein übermächtiges ökonomisches System. Ihm fällt der verzweifelt seinem Verkaufssoll hinterherhechelnde Pinneberg zum Opfer.

Die unbarmherzigen Gesetze lassen sich aber auch benützen, etwa um den Nonkonformisten Heilbutt zu entfernen, oder um in einem erniedrigenden Tribunal die Verkäuferin Fräulein Fischer (grandios in ihrer Hilflosigkeit: Lene Dax) systematisch fertig zu machen. Keine anonymen Kräfte sind da am Werk, sie haben ein Gesicht: Olga Prokot als eiskaltes Karriereweib – auch eine Facette der „starken“ Frau, Jens Winterstein als soigniert an anderen Schicksalen desinteressierter Chef und Philipp Noack als Empathie heuchelnder Spannfuß gelingen nicht nur als Charakterstudien, sondern lassen die Figuren Falladas unheimlich aktuell wirken.

Nicht nur in diesen Momenten erweist die Bearbeitung ihre Stärken, weil sie sich knapp fokussiert, den Darstellern viel Spielraum lässt und mit distanzierend erläuternden Zitaten aus dem Roman die Handlung immer wieder durchbricht und gleichzeitig weitertreibt. So gelingt dem Grillo-Theater eine tragfähige Alternative zu der bekannten und oft gespielten, 1972 in Bochum uraufgeführten Revue von Tankred Dorst und Peter Zadek, und ein bemerkenswertes Zeitstück zu einer derzeit von Erinnerungs-Hochkonjunktur verwöhnten Epoche, deren elende Ecken und düstere Winkel Hans Fallada mit nüchterner Empathie ausgeleuchtet hat.

Weitere Aufführungen hoffentlich nach der Corona-Schließzeit, die erste geplant am 30. April.
Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/kleiner-mann-was-nun/4482/




„Cabaret“ in Essen: Das Ende der Spaßgesellschaft

Jan Pröhl (Conférencier) und die Kit-Kat-Boys and -Girls. Foto: Birgit Hupfeld

Jan Pröhl (Conférencier) und die Kit-Kat-Boys and -Girls. Foto: Birgit Hupfeld

Schon nach wenigen Minuten schaut man erstaunt ins Programmheft: Hier steht wirklich das Schauspiel-Ensemble des Grillo-Theaters auf der Bühne? Keine ausgebildeten Musical-Darsteller? In Essen hat Reinhardt Friese „Cabaret“ einstudiert – und damit einen veritablen Hit gelandet. Der temporeiche Abend ist ein Genuss für Auge und Ohr: beste Unterhaltung, schöne Stimmen, gekonnte Choreografien, klug inszeniert.

Berlin in den 1920er Jahren: Am Vorabend des Nationalsozialismus werden die Nächte durchgefeiert. Es ist eine Zeit, für die der Begriff „Dekadenz“ geprägt wurde: Mitten in der Wirtschaftskrise wird gegen den Niedergang einfach angefeiert. Fett tönt die Tuba im Kit-Kat-Club, schmierig klingt dessen beleibter Conférencier (Jan Pröhl), der mit kaum verhohlener Geilheit die Tanz-Nummern seiner „Kit Kat-Girls and Boys“ ansagt. Was dieser Jan Pröhl mit seinem maskenhaft geschminkten Gesicht, dem angeklatschten Seitenscheitel und in seinem schlecht sitzenden Frack da beim Sprechen mit seiner lüsternen Zunge macht – das ist widerlich und großartig zugleich. Zur Live-Musik der achtköpfigen Kit-Kat-Band lässt er seine Cabaret-Puppen tanzen – allesamt Studierende an der Folkwang Hochschule der Künste.

Der Star des Clubs ist Sally Bowles (festes Ensemble-Mitglied Janina Sachau, ein singendes und tanzendes Multitalent). Sie verliebt sich in den erfolglosen amerikanischen Schriftsteller Clifford (Thomas Meczele) und treibt alsbald sein Kind ab. Auch sonst fallen Schatten auf das leichte Leben: Cliffords Zimmer-Wirtin, das spröde Fräulein Schneider (Ingrid Domann) findet ihr Glück mit Obsthändler Schultz (Rezo Tschchikwischwili) und lässt es wieder los, als ihr klar wird, dass ein jüdischer Gatte das Vermietungsgeschäft gefährdet.

Eine Ananas sagt mehr als rote Rosen: Herr Schultz (Rezo Tschchikwischwili) und das Fräulein Schneider (Ingrid Domann). Foto: Birgit Hupfeld

Eine Ananas sagt mehr als rote Rosen: Herr Schultz (Rezo Tschchikwischwili) und das Fräulein Schneider (Ingrid Domann). Foto: Birgit Hupfeld

Regisseur Friese und Bühnenbildner Günter Hellweg verzichten wohltuend auf jegliche ausstatterische Opulenz. Eine Showtreppe aus Glasbausteinen und hunderte Glühlampen am Boden bilden die Bühne, über den Orchestergraben führt ein Steg. Die Spielfläche für das immerhin 15-köpfige Ensemble wird dadurch arg reduziert – trotzdem gelingt es den Darstellern virtuos, die große Show ebenso in Szene zu setzen wie kammerspielartige Szenen.

Wie filmische Überblendungen gehen die Szenen übergangslos ineinander über – Umbauten braucht es nicht, nur ein riesiger Zylinder fährt dann und wann herunter, verdeckt die Showtreppe und wird zur Pension des Fräulein Schneider. Diese fast leere Bühne, dazu die fast komplett in schwarz, weiß und grau gehaltenen Kostüme von Annette Mahlendorf und die Musiker unter Leitung von Hajo Wiesemann lassen das begeisterte Publikum von der ersten Sekunde an atmosphärisch eintauchen.

Janina Sachau als Sally Bowles. Foto: Birgit Hupfeld

Janina Sachau als Sally Bowles. Foto: Birgit Hupfeld

Stephan Brauer ist für die Choreografien verantwortlich. Mit sicherem Blick hat er charakteristische und durchaus anspruchsvolle Elemente aus den Tanz-Nummern aufgegriffen, die vor allem aus dem Musical-Film mit Liza Minelli bekannt wurden, ohne das Ensemble zu überfordern.

Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt, bevor kurz vor der Pause das wirkliche Leben in Gestalt von Nazis in die Blase dringt. Am Umgang mit dem Erstarken der Nazis scheiden sich Geister und Paare. „Berlin ist vorbei“, resümiert Clifford und reist zurück nach Amerika. „Wenn die Nazis kommen, was habe ich dann für eine Wahl?“, fragt Fräulein Schneider rhetorisch. „Das ist gar nichts, das ist ein Lausbubenstreich“, sagt der jüdische Obsthändler.

Sally will ihre Karriere jedenfalls nicht opfern und kehrt nach der Abtreibung auf die Bühne zurück. „Life is a cabaret“ singt sie inbrünstig und mit soulig-warmer Stimme, dreht sich dann erstaunt um – alles ist leer, alle sind weg. „Gute Nacht“, sagt der Conférencier, inzwischen ein Mephisto mit Hitler-Bärtchen. Trommelwirbel. Das Ende der Spaßgesellschaft.

Termine: 19., 26., 31. Dezember. Karten: 0201 / 81 22-200