Schauriges Vergnügen mit Hexen und Geistern: Aalto-Opernchor Essen singt Musik der „dunklen“ Romantik

Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Die Damen sind nicht unattraktiv: Rosige Wangen, wunderweiße Haut gleich Schwänen auf einem Teich, liebliches Nicken und Küsschen. Nur die grünen Haare sind etwas seltsam. Kein Wunder, dass der Schäferknab‘ seine Herde im Stich lässt. Das Ende ist weniger hold: Da senkt der Dichter Siegfried Kapper Grabesstille über den Wald.

Der heute kaum mehr bekannte Österreicher Robert Fuchs, bei dem von Korngold über Mahler und Schreker bis Richard Strauss viele Berühmtheiten studierten, hat das Gedicht „Die Waldinnen“ vertont. Erzählende Strophen, dichter Satz, kaum „romantische“ Effekte: Es wird hörbar, warum Fuchs (fälschlich) als Brahms-Epigone gilt. Der Essener Opernchor bringt die ins Unheimliche gebrochene Idylle geteilt in zwei Chöre: Die Stimmen der Waldfrauen sind aus der Erzählung ausgegliedert.

Ein gutes Dutzend solcher Kompositionen, dazu einige bekannte Nummern aus Opern präsentierte der Aalto-Openchor unter Leitung von Jens Bingert bei einem Konzert im ausverkauften Foyer des Theaters. Der Klangkörper hat es mehr als verdient, einmal einen eigenen Auftritt zu genießen. Denn Opernchöre haben es nicht leicht: Sie müssen ein vielfältiges Repertoire beherrschen. Abend für Abend erwartet man von ihnen präzises und klangvolles Singen, manchmal in akustisch ungünstigen Bühnenbildern.

Die Sängerinnen und Sänger brauchen viel Flexibilität für den raschen Wechsel von musikalischen und szenischen Proben zu Abendvorstellungen. Da gilt es, sich auf die Atmosphäre des Stücks einzustellen, ob skurrile Heiterkeit oder tragische Verdunkelung. Und dann geht die Kritik, wenn überhaupt, gerade mal in einem Satz auf das Ergebnis wochenlanger Arbeit ein.

Das Mägdlein folgt dem feuchten Kerl

Das Thema der 90 Minuten war Chormusik der „dunklen“ Romantik, unbegleitet oder vom Klavier (Christopher Bruckman) statt dem Orchester gestützt. In den Texten spielen Elfen, Hexen, und Wassergeister eine Rolle, so in Max Regers harmonisch anspruchsvollem „Jäger und Nixe“. In Robert Schumanns „Wassermann“ ist das Verführungs-Verhältnis auch einmal umgekehrt – da folgt das Mägdelein dem feuchten Kerl in den Neckar.

Bingert nutzt den Raum, um den Chor variabel aufzustellen und die Akustik auszureizen. Die wohl bekannteste Nummer, Friedrich Silchers „Loreley“ kommt vom Rang: Der Klang bricht sich und wird weich, während beim frontalen Singen, etwa in Heinrich von Herzogenbergs beschaulichem „Wie schön hier zu verträumen die Nacht im stillen Wald“ sich die Stimmen nicht ausreichend mischen und manch tremolierender Sopran überdeutlich heraustritt. Für den Mondchor aus Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ verteilen sich die Sängerinnen und Sänger im Raum. Der Zuhörer hat den Eindruck, vom Klang umflossen zu werden – ein Erlebnis, das die Bühne nicht bietet.

Gemessener Schauder in der bürgerlichen Stube

Deutlich wird, dass die „dunkle“ Romantik zwar mit dem Schauder spielt, ihn aber meist in wohliger Harmonie und gemessener Melodik zähmt. Zwei historische Balladen sprechen von der Sehnsucht nach vergangener Zeit, in Ludwig Uhlands „Harald“ von entrücktem Heldentum, in Friedrich Rückerts „Der alte Barbarossa“ mit einer deutlichen, damals wohl politisch virulenteren Sehnsucht von „des Reiches Herrlichkeit“. Joseph Rheinberger und Friedrich Silcher vertonen diese Texte mit einer musikalischen Imagination der Szene – dem Reiter-Rhythmus in „Harald“ etwa, oder der geisterhaften Atmosphäre und der „altertümlichen“ Tonart im „Barbarossa“ – und der Chor singt diese Momente mit Theater-Instinkt und einer klanglichen Bandbreite zwischen satter Präsenz und geisterhaftem Piano.

Grusel für die Bürgerstube; die Ausnahme schaffen Giuseppe Verdi und Richard Wagners. Die Hexen aus „Macbeth“ mögen zunächst harmlos, fast tänzerisch klingen, aber das scharfe Martellato der Begleitung und die basslosen, fahlen Stimmen machen sie zu unwirklichen Wesen einer Sphäre jenseits des Fasslichen. Und Wagners „Holländer“-Gespenster sind unheimlich-aggressive Wesen. Da teilt sich der Aalto-Chor, singt von unten, und aus dem Treppenhaus steigt Nebel des Grauens auf. Fazit: Schauriges Vergnügen mit meist kaum mehr bekannter Musik.




Mit Leoš Janáček in die neue Spielzeit: Die Essener Philharmoniker eröffnen die Reihe ihrer Sinfoniekonzerte

Er tritt für die Musik seiner Heimat ein: GMD Tomáš Netopil stand am Pult beim ersten Sinfoniekonzert der Spielzeit 2018/19. Foto: Hamza Saad.

Er tritt für die Musik seiner Heimat ein: GMD Tomáš Netopil stand am Pult beim ersten Sinfoniekonzert der Spielzeit 2018/19. Foto: Hamza Saad.

Mit einer Aufführung der „Glagolitischen Messe“ von Leoš Janáček und von Ludwig van Beethovens gerne vernachlässigter Zweiter begann Generalmusikdirektor Tomáš Netopil die Serie der zwölf Sinfoniekonzerte der Essener Philharmoniker.

Mit Janáčeks „Glagolitischer Messe“ stellt Tomáš Netopil ein weiteres wichtiges Werk aus dem hierzulande viel zu wenig bekannten Repertoire seiner tschechischen Heimat vor. Eine Serie, die hoffentlich in den nächsten Jahren – Netopils Vertrag wurde bis 2023 verlängert – weitere Begegnungen ermöglicht. Die Messe trägt ihren Namen, weil der glühende Panslawist Janáček den Messtext im uralten Kirchenslawisch vertont hat.

Liturgisches Werk oder Konzertmusik?

Im Westen wurde die Komposition nie richtig heimisch: Ihr hing wie so manch anderer wertvoller Musik östlicher Nachbarn das zweifelhafte Prädikat des „Nationalen“ an. Nicht für die Liturgie geschaffen und selbst für semiprofessionelle Chöre sehr schwer, dazu weder schmeichelnd melodisch noch offensichtlich fromm, passte sie als merkwürdiger Zwitter weder in die kirchliche Musikpflege noch in den bürgerlichen Konzertbetrieb.

Das hat sich durch einige verdienstvolle Einspielungen – von Rafael Kubelik bis Pierre Boulez – zum Glück geändert. Aber die aufgelockert besetzten Reihen im Alfried Krupp Saal belegen, dass die Messe das Publikum nicht anzieht – ein Schicksal, das sie kurioserweise mit Beethovens Zweiter Sinfonie teilt. Dabei spart Janáček nicht mit hymnischem Überschwang: in den Fanfaren des Beginns etwa, die sich am Ende wiederholen, aber auch im aufgewühlten Credo, das die slawische Glaubensformel „Vĕruju“ stets aufs Neue wiederholt.

Vielfältige Farben der Blechbläser

Dazwischen nimmt Janáček die Musik oft zurück. Aber der raue Samt flächiger Violinen und die dunklen Bläser-Piani werden kontrastiert von Paukensoli und heftigen Orgelakkorden (Friedemann Winklhofer). Die Farben der Blechbläser setzt er vielfältig ein, kontrastiert filigrane Streicher mit der tiefen Glut von Posaunen und Tuba. Die heftigen rhythmischen Akzente, die ostinat wiederholten Figuren, das drängende, oft atemlose Tempo ist als expressives Mittel aus seinen Opern wohlbekannt.

Netopil lässt die Philharmoniker die spröden Seiten des Klangs nicht überbetonen, sondern sorgt für eine eher weiche, aber nicht glattpolierte Artikulation. Almuth Herbst bietet unter den Solisten trotz ihrer nur marginalen Aufgabe den schönsten, weich grundierten Stimmklang. Carlos Cardoso mit kräftig-festem Tenor und Almas Svilpa mit muskulösem Bass sind ihren Partien gewachsen; Andrea Danková zeigt harte Tongebung und flackerndes Vibrato, das dem Kern ihres Soprans dennoch nicht hilft, das Orchester zu überstrahlen.

Alle Anzeichen panischer Gottesfurcht

Patrick Jaskolka und Jens Bingert haben ihre Chöre vorzüglich einstudiert: Die Sängerinnen und Sänger pflegen eine weitgehend klare Aussprache des fremden Idioms. Die Lobpreisungen des „Gloria“, die Glaubenssätze des „Credo“ fasst Janáček nicht in die Form feierlicher Hymnen oder erhabener Anrufungen: Sie erklingen wie hervorgestoßene Aufschreie, atemlos, hektisch, erregt und grell. Da äußert sich keine balsamische Glaubensgewissheit, sondern eine fast panische Gottesfurcht. Der kirchenskeptische Janáček schreibt, ähnlich wie Giuseppe Verdi in seiner „Missa da Requiem“, eine Musik des Zweifels, aber auch der existenziellen Hoffnung am Rande des Nichts. Die Hoffnung, am Ende möge doch nicht alles umsonst gewesen sein, verbindet Janáčeks Messe mit Beethovens Ouvertüre zu Goethes „Egmont“, die den Abend eröffnete, voll Wehmut und Passion.

So haydnisch heiter wie oft beschrieben klingt Beethovens Zweite Sinfonie an diesem Abend auch nicht: Die Violinen artikulieren frisch und markant im ersten Satz, im Scherzo trifft das Orchester die Eleganz á la Haydn, aber auch die unwirschen Akzente und dynamischen Überraschungen, die über die Surprisen des älteren Meisters hinausgehen.

Während Netopil die Einleitung genüsslich ausbreitet, findet er im Allegro con brio des ersten Satzes den forschen Schritt, der gleichwohl nichts überhetzt, gibt im zweiten Satz mehr Atem als Zeit und macht so aus dem „Larghetto“ kein „Largo“. Der letzte Satz wird erhitzt getrieben und hält die Spannung bis zum Ende. So gespielt steht die Zweite keineswegs in der zweiten Reihe der Sinfonien Beethovens.

Saisonausblick: Dominanz des Bewährten

Mit dem Schlagzeug steht in der beginnenden Saison ein Instrumentarium im solistischen Vordergrund, das erst im 20. Jahrhundert zu derartigen Ehren gekommen ist: Alexej Gerassimez, inzwischen in die führende Riege der Schlagzeuger aufgestiegen, widmet sich „Sieidi“, einem Konzert des Finnen Kalevi Aho. Dieses Konzert ist auch in einem neuen „Einsteiger-Abo“ mit vier Konzerten enthalten, mit dem die Vorteile eines fest gebuchten Platzes schmackhaft gemacht werden sollen.

Die weiteren Konzerte bis Juli 2019 bieten Neues oder Überraschendes nur in homöopathischen Dosen, verlassen sich auf die Dominanz des Bewährten und eine Prise von Randständigem: Tschaikowsky etwa zieht immer und kommt mit seiner Fünften, kombiniert mit dem Violinkonzert mit Julian Rachlin als Solist und Dirigent, am 14./15. Februar zu Ehren. Dazu tritt am 11./12. Juli das b-Moll-Klavierkonzert mit Boris Berezovsky. Mozarts „Jupiter“, Bruckners Dritte unter Hans Graf, Mahlers Sechste und Schostakowitschs Fünfte, beide mit Netopil am Pult, umschreiben den Kreis der Sinfonien.

Namhafte Solisten wecken Erwartungen

180 Jahre alt wird der Philharmonische Chor Essen, der mit Janáčeks Messe eine erste Bewährungsprobe erfolgreich bestanden hat und sich am 22./23. November Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ stellen wird. Erwartungen wecken die Namen der Solisten, unter ihnen der amerikanische Pianist Tzimon Barto mit dem B-Dur-Klavierkonzert Johannes Brahms‘ am 10./11. Januar 2019, Christiane Karg mit Maurice Ravels „Shéhérazade“ am 7./8. März, der Geiger Daniel Bell mit Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ am 4./5. April oder Gautier Capuçon, der am 20./21. Juni das Erste Konzert für Violoncello und Orchester op. 33 von Camille Saint-Saëns spielt.

Selten zu hörende Werke wie Arthur Honeggers witzige Sport-Adaption „Rugby“ oder Ottorino Respighis musikalische Annäherung an den magischen Lichtglanz bunter Kirchenfenster „Vetrate di Chiesa“ stehen eher am Rand – in diesem Fall etwa als Einleitung zu Carl Orffs unverwüstlichen „Carmina burana“ mit Ivor Bolton und dem Collegium Vocale Gent am 25./26. April.

Schon am 27. und 28. September setzt sich die Reihe der Sinfoniekonzerte fort, wenn Gastdirigent Alexander Liebreich als zentralen populären Programmpunkt Modest Mussorgskys „Bilder eine Ausstellung“ dirigiert.

Tel.: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de




Alfried Krupp auf der Bühne: Heinrich Marschners Bergbau-Oper „Hans Heiling“ als Ruhrgebiets-Familienstory in Essen

Zechenschließungen drohen und Hans Heiling (Heiko Trinsinger) liebt ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu. Foto: Thilo Beu

Zechenschließungen drohen und Hans Heiling (Heiko Trinsinger) liebt ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu. Foto: Thilo Beu

Die Schätze, die schliefen in ewiger Nacht, fördern die Erdgeister in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ ans Licht – den Menschen zum „Heil und Verderben“. Das „schwarze Gold“, das dem Ruhrgebiet fast 200 Jahre lang Reichtum und Elend gebracht hat, versiegt in diesem Jahr: Mit Prosper-Haniel in Bottrop schließt am 21. Dezember 2018 die letzte Steinkohlenzeche. So lag es für das Aalto-Theater nahe, sich mit Marschners romantischer Oper an den vielfältigen Aktivitäten rund um das Ende dieser Ära zu beteiligen.

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Marschner wusste, worüber er Musik schrieb; er erinnerte sich wohl an die Braunkohlenförderung rund um seine Heimatstadt Zittau und den traditionsreichen Bergbau im benachbarten Gebirge.

Regisseur Andreas Baesler und sein Bühnenbildner Harald B. Thor knüpfen daran an: Sie rücken die böhmische Sage vom designierten König der Erdgeister, der auf die Erde flieht, um menschliche Liebe zu erlangen und dabei scheitert, eng an eine Geschichte aus dem Ruhrgebiet. Und decken verblüffende Parallelen auf: Hans Heiling wird zu Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, die Königin der Erdgeister schreitet als perlenbehangene Mutterfigur Bertha Krupp umher.

Zwei gescheiterte Verbindungen

Der Konflikt erinnert an die Heirat Alfrieds mit der geschiedenen Anneliese Lampert im Jahr 1937. Sie mag den Krupp-Erben glücklich gemacht haben, war aber eine Ehe gegen den Willen seiner Eltern. Nach drei Jahren trennte er sich – wohl auf Betreiben der Mutter – von Frau und Sohn, übernahm die Firma, führte aber ein zurückgezogenes, innerlich einsames Leben.

Hans Heiling muss entsetzt erkennen, wie seine mit „rasendem Verlangen“ geliebte Anna ihrem unheimlichen Bräutigam aus einer anderen Sphäre immer fremder wird, sich in der Gesellschaft der einfachen Leute wohler fühlt und schließlich (ihre wahren Gefühle erkennend und unter dem Einfluss der Geisterkönigin und ihres dämonischen Gefolges) Konrad heiratet, einen einfachen Mann aus ihrer Schicht.

Die herrschaftliche Sphäre der Villa Hügel als Reich der Erdgeister, in dem die Königin (Rebecca Teem) ihren Sohn Hans Heiling (Heiko Trinsinger) vom Weg in der Menschenwelt abhalten will. Foto: Thilo Beu

Die herrschaftliche Sphäre der Villa Hügel als Reich der Erdgeister, in dem die Königin (Rebecca Teem) ihren Sohn Hans Heiling (Heiko Trinsinger) vom Weg in der Menschenwelt abhalten will. Foto: Thilo Beu

Bis ins Detail arbeitet das Produktionsteam die Gleichsetzung durch: Gabriele Heimann lässt sich von dem bekannten Familienporträt der Krupps zu nobel-dezenter Nachkriegsmode inspirieren. Der Chor trägt das Gewirk einfacher Leute aus den sechziger Jahren, als sich die Zechenstilllegungen ankündigten, aber in dem im Bild zitierten Essener „Blumenhof“ bei Tanztee und Schnitzeltag das gesellschaftliche Leben florierte.

Der gewaltige vertäfelte Saal der Villa Hügel kontrastiert mit der beengten Stube mit Bett, Kohleherd und Schwarz-Weiß-Fernseher, in der Witwe Gertrud die Rückkehr ihrer Tochter Anna bei nächtlichem Sturm erwartet. Gefeiert wird in einem hohen, schmutzigweißen Raum, wie einst auf großen Zechen als Lohnhallen oder Waschkauen zu finden. Dort spielt auch das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen in schönsten Bergmannsuniformen das Glückauf-Lied.

Das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen wirkt auf der Aalto-Bühne mit. Foto: Thilo Beu

Das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen wirkt auf der Aalto-Bühne mit. Foto: Thilo Beu

Popularmythen des Potts strapaziert

Couleur locale also allenthalben, liebevoll entworfen. Das geht immerhin über die bloße Äußerlichkeit hinaus, wie sie 2008 in Essen in Wagners „Tannhäuser“ von Hans Neuenfels und Reinhard von der Thannen bemüht wurde. Lästig wird’s dann aber, wenn Hans-Günter Papirnik langwierige Dialoge in breiten Ruhri-Slang überträgt und von der Brieftaube bis zum Karnickel alle Popularmythen des Potts bemüht. Zur Sinnfindung tragen derlei biedere Anleihen, wie wir sie aus missglückten Operettenabenden kennen, nichts bei.

Unheimliche Heimeligkeit: Die Wohnung von Annas Mutter Gertrud erinnert an die Verhältnisse im Ruhrgebiet in den Sechziger Jahren. Foto: Thilo Beu

Unheimliche Heimeligkeit: Die Wohnung von Annas Mutter Gertrud erinnert an die Verhältnisse im Ruhrgebiet in den Sechziger Jahren. Foto: Thilo Beu

Auch im ehrgeizig gedachten dramaturgischen Ausbau knirschen die Stempel. Die Bergleute-Metapher funktioniert noch einigermaßen: Unter Tage sind die Arbeiter mit Helm und Grubenlampe die Geister, die ihren König zurückhalten wollen und deshalb gegen die Verbindung mit einem Menschen opponieren. Oben demonstrieren sie mit Spruchband und Schildern gegen Stilllegungen und damit gegen den Krupp-Heiling aus der Oberschicht.

Grenzen der soziologischen Sicht

Aber wenn Anna in der neusachlichen Sechziger-Jahre-Villa ihres noblen Bräutigams im „Zauberbuch“ blättert und maßlos erschrecken soll, aber nur die Vorhänge wehen wie in einem schlechten Gruselfilm; wenn in der von Marschner genial konzipierten Arie „An jenem Tag“ Hans Heiling plötzlich in türkisgrünes Licht getaucht ist, wenn im nächtlichen Park rotes Hilfslicht die Erscheinung der „Geister“ beglaubigen soll, ist sichtbar, wie das Konzept Baeslers an seine Grenzen kommt. Der Konflikt erschöpft sich eben nicht in der Klassen-Herkunft seiner Protagonisten, lässt sich soziologisch nur oberflächlich beschreiben. Eher wäre danach gefragt, die Konstellationen psychologisch zu erschließen oder die romantische Doppelnatur eines Hans Heiling überzeugend zu dechiffrieren.

Noch eins ist schade: Die bemühte Verortung in der Region rückt Marschners allzu selten gespielte Oper in die Ecke einer Ausgrabung, die man gerade mal aus passendem Anlass auf den Spielplan setzen kann. Mitnichten: Schon in den siebziger Jahren haben Aufführungen in Frankfurt, Zürich oder Bielefeld die innovativen musikalischen Errungenschaften Marschners und die dramatische Qualität des Librettos von Eduard Devrient erwiesen. Dass „Hans Heiling“ auf der Bühne selten zu erleben ist – zuletzt am Theater an der Wien und in Regensburg – spricht nicht gegen die Oper, sondern eher gegen routinierte Spielplan-Bastler.

Der Dirigent der Premiere von "Hans Heiling", Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Der Dirigent der Premiere von „Hans Heiling“, Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Frank Beermann und die Essener Philharmoniker machen die Qualität der Musik hörbar – und lassen nebenher erfahren, wie ungeniert sich etwa der Bayreuther Meister Richard Wagner bei Marschner bedient hat, dessen Oper er 1833 brandneu in Würzburg mit einstudiert und den er später in seinen Schriften höhnisch niedergemacht hat.

Dirigent Beermann setzt auf eine aufgehellte, vor allem zu Beginn im Tempo etwas zu rasche Lesart, auf brillant-durchsichtige Bläser und schlanke, manchmal zu wenig betonte Streicher. Aber in Szenen wie dem unerhört expressiven Melodram der Gertrud, in den bedeutenden Arien von Heiling und Anna oder in den auffallend großräumig konzipierten Finali kehrt er die vielgestaltige und farbenreiche Musik heraus und zeigt, dass sich Marschner vor Zeitgenossen nicht verstecken muss.

Bedauerlich, dass der spätere Hannoveraner Hofkapellmeister nie wieder ein so zündendes Libretto gefunden hat: In späteren Jahren beklagt er sich bitter über die Qualität der Opern-„Dichtungen“. Aber über die Qualitäten seiner Musik lässt sich nichts aussagen. Opern wie „Des Falkners Braut“, „Das Schloss am Ätna“ oder „Der Bäbu“ kennt einfach kein Mensch mehr, und die Forschung ist über tradierte Allgemeinplätze auch kaum hinausgekommen.

Bewährtes Ensemble im Einsatz

Das Aalto-Theater setzt bei den Sängern auf sein bewährtes Ensemble und fährt in den meisten Partien gut damit. Heiko Trinsinger fügt mit „Hans Heiling“ seinem breiten Repertoire – das etwa auch Marschners „Vampyr“ umfasst – eine weitere wichtige Bariton-Rolle hinzu. Wirkt die fordernde Höhe anfangs noch etwas erzwungen und fest, steigert sich Trinsinger in der früher noch in Wunschkonzerten und Arienabenden beliebten große Szene „An jenem Tag“ überzeugend, befeuert den brennend schmachtenden Ton des rasend Verliebten, verliert sich in seine Rachefantasien, falls Anna – was später ja auch geschieht – ihm die Treue bräche. Als Darsteller bleibt er in der steifen Rolle des Außenseiters in allen Welten; am Ende bricht er als Entwurzelter zusammen und löst eine Sprengung aus: Im Hintergrund fliegt in historisierendem Schwarz-Weiß ein Zechengebäude in die Luft, stürzen Fördergerüste ein – eine Projektion, die Heilings innere Katastrophe nachzeichnet: Den Wunsch, diese Welt hinter sich zu lassen, die ihm kein Heil, aber bitteres Verderben brachte.

Psychologisches Meisterstück in der Musik

Oft unterschätzt wird die Figur der Anna, die Jessica Muirhead vor Soubretten-Putzigkeit bewahrt. Die Rolle entwickelt sich vom leichten Tonfall der jungen, noch recht naiven Tochter zu den dramatischen Linien einer jungen Frau, die sich und ihrer wahren Gefühle bewusst wird. In der Stimme beglaubigt Muirhead diesen Weg in leuchtendem Ton, in der Gestaltung der Rolle lässt sie die Regie in diesem Punkt eher im Stich. Auch Bettina Ranch als Gertrud erfasst das Spektrum der Figur zwischen den angedeutet buffonesken Zügen der Mutter, die ihrer Tochter die reiche Partie zuschanzen will, und des im Melodram vom Unbewussten ins Erkennen wandernden Schrecken – ein stimmlich einfühlsam nachgezeichnetes psychologisches Meisterstück in Marschners Musik.

Jeffrey Dowd ist über den Konrad längst hinaus: Statt seines reifen Tenors, dem in der Höhe Glanz und Frische fehlt, bräuchte es ein jugendliches Timbre für den Liebhaber und Retter Annas. Rebecca Teem orgelt als Königin der Erdgeister nach schlechter Wagner-Manier – das bedeutet flackernde, bisweilen gewaltsame Tonemission, und eine monochrome tour de force. Teem ist freilich nicht die einzige Sängerin, die mit dieser Partie ihre Probleme hat: Den Typ des dramatischen, aber schlank-beweglichen Soprans mit strahlender Höhe, wie ihn etwa auch Rezia in Webers „Oberon“ fordert, gibt es kaum mehr. Karel Martin Ludvik und Hans-Günter Papirnik stehen ihren Mann an der Seite des forschen Konrad.

Der Opernchor des Aalto-Theaters wirkt in der Szene der Erdgeister anfangs noch dünn und inhomogen – liegt das an der breiten Aufstellung im Hintergrund? –, findet aber schnell seine bewährte Form, für die Jens Bingert als Chordirektor in allen Stilformen einsteht.

Heinrich Marschners Oper „Hans Heiling“ steht bis Juni auf dem Spielplan in Essen. Am 10. März um 19.05 Uhr wird die Aufzeichnung aus dem Aalto-Theater auf Deutschlandradio Kultur übertragen, am 1. April um 20.04 Uhr auf WDR 3. Eine CD-Aufnahme ist geplant.




Liebe und Staatsbankrott: „Lustige Witwe“ ist nicht so lustig

Valencienne (Dorothea Brandt) geht mit ihrem Mann Mirko (Miljan Milović) nicht immer so pfleglich um ... Foto: Andreas Fischer

Valencienne (Dorothea Brandt) geht mit ihrem Mann Mirko (Miljan Milović) nicht immer so pfleglich um … Foto: Andreas Fischer

Franz Lehárs „Lustige Witwe“ begeistert mit musikalischer Qualität und dramaturgischem Pfiff. Irgendwie scheint sie aber auch in unsere Zeit zu passen. Denn momentan wird zwischen Lübeck und Innsbruck auf mehr als ein Dutzend Bühnen versucht, der Dame ihre Millionen abzuluchsen. Allein in NRW intrigiert die pontevedrinische Diplomatie an vier Orten: ab Dezember in Düsseldorf, in Detmold ab 4. November in der Neuinszenierung von Holger Potocki und ab Silvester geht man in Dortmund an der Hand von Regisseur Matthias Davids ins Maxim. Im Barmer Opernhaus hatte Lehárs sensationelle Erfolgsoperette von 1905 am Samstag, 15. Oktober, ihre zweite Premiere – die erste fand schon im Juni in Solingen statt.

Gar so lustig, wie der Titel glauben machen will, ist diese „Witwe“ aber nicht: Es geht zwar ums erotische Vergnügen, um Grisetten und Seitensprung, aber vor allem ums Geld. Zwanzig Millionen ist Hanna Glawari wert. Eine begehrte Beute für die Pariser Lebewelt. „Die Millionen sind angekommen“, kündigt einer der Pariser Filous ihre Ankunft an: Damit ist alles gesagt. Charme, Intelligenz, Selbstbewusstsein, selbst Schönheit und Ausstrahlung? Egal. Hauptsache, die Frau ist millionenfach vergoldet.

Derweil plagen den pontevedrinischen Gesandten (im Rollstuhl, aber bei den „Weibern“ gut zu Fuß: Miljan Milović) lastende Sorgen: Wird das Geld der Frau Glawari aus seinem Vaterlande abgezogen, droht der Staatsbankrott. Abhilfe muss Graf Danilo schaffen. Der zeigt sich jedoch wenig patriotisch und lehnt den erotischen Staatseinsatz rundweg ab. Die Tanzmädels sind ihm lieber …

Pascale-Sabine Chevroton weiß um die gesellschaftlichen Untiefen in diesem Stück. Und inszeniert die „Lustige Witwe“ in dieser Koproduktion mit den „Folies lyriques“ in Montpellier weit weg von der üblichen Operettenästhetik. Weder Bühnenbild noch Kostüme (Tanja Liebermann) schwelgen in Frack und Tutu. In der Botschaft des Beinah-Bankrott-Staates sind Wände rissig und Stuckleisten geborsten. Für Madame Glawaris Heim ersinnt Bühnenbildner Jürgen Kirner eine gewaltige Handtasche. Es könnte auch ein Geldbeutel sein, der sich öffnet und wie aus einem roten Rachen die leichtlebige Festgesellschaft ausspuckt. Die Damen vom Maxim sehen aus wie Buchhalterinnen. Auch das passt: eher Dienerinnen des Geldes als des Eros. Dass Esprit und Humor gestutzt werden, scheint kalkuliert. Hans Richter als Komiker Njegus darf zwar wienern, aber die üblichen Stegreifsprüche sind ihm nicht erlaubt. So bleibt diese kommentierende Figur profillos. Chevrotons Lesart nimmt die Operette und ihr Sentiment ernst, aber die Szene moussiert nicht. Stellenweise glaubt man, Lehár habe ein Kammerspiel von Ibsen vertont.

Im Orchester sieht das zum Glück anders aus. Florian Frannek entschlackt die Partitur, gibt ihr kammermusikalische Finesse, welche die Orchester-Solisten der Wuppertaler Sinfoniker bereitwillig erfüllen. Der Dirigent „champagnerisiert“ den Rhythmus. Er gibt den schmeichelnden Melodien ohne schmierige Agogik Raum. Die Geigen flüstern wirklich „hab‘ mich lieb“ in feinstem, wenn auch nicht in süffigem Pianissimo der geforderten großen Besetzung. Und das Studium der Noten ist im Graben mindestens so eifrig betrieben worden wie auf den Brettern das Studium der Weiber.

"Lippen schweigen, s'flüstern Geigen ... Hanna Glawari (Susanne Geb) und Danilo (Kay Stiefermann)Foto Aandreas Fischer

„Lippen schweigen, s’flüstern Geigen …“: Hanna Glawari (Susanne Geb) und Danilo (Kay Stiefermann).Foto Andreas Fischer

Dorothea Brandt ist eine nahezu perfekte Tanzsoubrette; ihre Valencienne hat Format. Susanne Geb zeigt die selbstbewussten Seiten der Hanna Glawari. Doch ihrem soliden, zu strahlendem Ton fähigen Sopran fehlt schmeichelnde Weichheit; die lyrische Bezauberung kleidet sie eher in Silber als in Samt. Kay Stiefermann – der Wuppertaler „Holländer“ – erweist sich als wandlungsfähiger Darsteller und routinierter Sänger: Trotz Krankheit singt er den Danilo respektabel und rhetorisch reflektiert. Boris Leisenheimer als Camille de Rosillon scheitert ob der verfehlten Position seines Tenors an den Anforderungen der Partie. Seine Tongebung wirkt gequält, die Höhen sind trocken forciert. Tomas Kwiatkowski und Nathan Northrup sind als Cascada und Saint-Brioche richtige Klischee-Pariser mit Baskenmütze und Halstuch. Der Chor ist von Jens Bingert zuverlässig einstudiert.

Im Programmheft liest man mit Erstaunen, wie oft die Bankrott-Kandidaten unter den europäischen Staaten schon zahlungsunfähig waren – an Pontevedro ist dieses Schicksal noch einmal vorübergegangen. Die Botschaft ist angekommen: reicher Beifall.