Vom lautlosen Fall zum großen Crash

Kevin Spacey als Banker, der seine Leute zu Höchstleistungen anspornt (Copyright: Koch Media GmbH)

Die Krise naht unsichtbar, unerwartet, unaufhaltsam. Sie ist wie eine schwarze Sonne, die sich langsam über den Horizont unseres Verstehens schiebt. Ihre ersten Strahlen fallen in die Augen eines jungen Bankers, der ungläubig auf den Bildschirm seines Computers starrt.

Die Dateien auf dem USB-Stick, den sein Boss ihm bei seiner Entlassung noch rasch zustecken konnte, künden von der prekären Finanzlage seiner Bank: von Überschuldung in einer Größenordnung, die die gesamte Finanzwelt ins Wanken zu bringen droht. Je mehr der junge Mann begreift, was die Daten auf seinem Rechner bedeuten, desto dunkler und fiebriger beginnen seine Augen zu glühen. Es ist ein Moment, in dem Nietzsches Wort Wahrheit wird: Wer lange in einen Abgrund blickt, in den blickt der Abgrund zurück.

„Margin Call“ oder „Der große Crash“, wie der Film des amerikanischen Regisseurs J.C. Chandor auf deutsch heißt, erzählt von der Pleite einer New Yorker Investment-Bank. Indes fällt der Name Lehman Brothers, und das ist gewiss kein Zufall, während der gesamten 105 Minuten nicht ein einziges Mal. Jede andere Großbank im hochspekulativen Geschäft, so die unausgesprochene Botschaft, hätte den Crash ebenso auslösen können. Wir Kinobesucher, die wir auch im Leben nur staunende Zuschauer des virtuellen und zugleich erschreckend realen Dramas sind, sollen die Tragödie nun aus der Innenansicht erleben. J.C. Chandor führt uns mitten hinein in die Welt der dicken Teppichböden und Bonuszahlungen. Er macht uns zu Fischen in einem Aquarium, in dem man Geld atmet statt Luft.

Wer aber auf den Auftritt allzeit gieriger Finanzhaie und Anlage-Analysten wartet, auf Prototypen des bösen Bankers ohne Gemeinsinn und Gewissen, wird das Kino weitgehend enttäuscht verlassen. Stattdessen begegnen wir einem warmherzigen Abteilungsleiter (Stanley Tucci), der auf seine unerwartete Entlassung sichtlich geschockt reagiert. Wir sehen einen sympathischen Jung-Banker und seinen noch recht unreifen Kollegen (Zachary Quinto und Penn Badgley), die ihrer ersten Million hinterher jagen und doch ständig um ihre Stelle zittern. Wir erleben kompetente Chefs, die es zwischen den Pflichten gegenüber der Firma und ihrem Verantwortungsgefühl für die Mitarbeiter schier zerreißt (großartig: Kevin Spacey). Wir sehen eine knallharte weibliche Führungskraft, die unter der Last der Verantwortung tapfer die Schultern strafft (Demi Moore), aber auch skrupellose Mittvierziger (Simon Baker), denen es nur um das eigene Überleben geht. Monochrom gezeichnet ist einzig der Vorstandsvorsitzende John Tuld, dem Jeremy Irons die boshafte Aura eines vertrockneten Reptils verleiht.

Ein junger Banker (Zachary Quinto) entdeckt die Wahrheit (Copyright: Koch Media GmbH)

Die Namen all dieser Akteure prägen sich dabei nicht wirklich ein. Denn nach den Spielregeln des Kapitalismus sind sie alle ersetzbar, vom kleinen Angestellten bis zum großen Vorstandsvorsitzenden. Sie sind nur Schachfiguren in einem Spiel, das ihnen mehr und mehr entgleitet. „Der große Crash“ ist ein leises Kammerspiel, eine Studie darüber, wie Geld Menschen verändert. In seinen besten Momenten schwingt sich der Film zu Situationen voller Symbolkraft auf, die teils berückend schön sind, teils beklemmend absurd. Da stehen drei Jung-Banker zum Beispiel auf dem Dach ihres Firmengebäudes und blicken hinunter. Kein Laut ist zu hören. „Es muss ein langer Fall sein bis nach unten“, sagt einer der Männer schaudernd. Als hätte dieser Satz eine hypnotische Wirkung, klettert der Erfahrenste der drei plötzlich auf das Geländer. Zum Absturz kommt es schließlich nicht – oder besser gesagt „noch nicht“, wie einer der Banker flüstert.

Der Fortgang der Krise spiegelt sich in vielsagenden Blicken, langen Gesichtern, in großen Augen, in denen nur mehr Rat- und Orientierungslosigkeit steht. Eine weitere Stärke des Films liegt in der bewussten Ausblendung der Außenwelt. Keine Nachrichten, keine Politik, keine normalen Bürger, ja nicht einmal Kunden kommen im Imperium der Glitzerfassaden und Teppichböden vor. Und keiner der Banker, die da so selbstverständlich Überstunden schieben und bis tief in die Nacht arbeiten, scheint so etwas wie ein Privatleben zu besitzen.

Trotz allem zeigt der Film auch Menschen. Zum Beispiel den Abteilungsleiter, der seit 34 Jahren für die Bank arbeitet und durch die extremen Verwerfungen in der Firma seine persönliche Hölle durchlebt. Ein einziges Mal zeigt die Kamera ihn als Privatmann: geschieden, ausgebrannt, verzweifelt. Er ist Top-Verdiener, Entscheidungsträger, Mitglied des Establishments, x-facher Millionär. Und dabei komplett ruiniert.




Lockungen einer Nymphe – „Lolita“, Adrian Lynes Neuverfilmung von Nabokovs Skandalroman

Von Bernd Berke

Es ist Hochsommer, es ist heiß. Sie liegt bäuchlings und barfüßig im Gras, spielt gedankenverloren mit ihren langen Zöpfen und blättert in einem Buch. Hinter ihr plätschert ein Springbrunnen. Sprühende Wassertröpfchen haben ihr Kleid so durchnäßt, daß sich ihre erblühenden weiblichen Formen abzeichnen. Nur unschuldiger Liebreiz oder auch schon ein Hauch bewußter Verführung?

Vorsicht, vermintes Gelände! Das Mädchen auf der Wiese ist anfangs gerade mal zwölf Jahre alt und heißt Lolita. Die skandalumwitterte Figur aus Vladimir Nakobovs Roman von 1955 hat, rund 40 Jahre nach Stanley Kubricks Kinofassung, abermals einen Filmemacher inspiriert und wohl auch in gewisser Weise erregt. Diesmal ist es Adrian Lyne, der die Geschichte jenes Literaten mit dem Doppelnamen Humbert Humbert (Jeremy Irons mit verliebtem Dauer-Dackelblick) nachzeichnet.

Der Intellektuelle wird unwiderstehlich von der Nymphe Lolita (frisch drauflos: die 15-jährige Schülerin Dominique Swain) angezogen und ins bittersüße Verderben geführt. Doch wer verführt wen? Wo ist die Grenze zwischen zärtlicher Zuwendung und sexuellem Mißbrauch? Ist er berechnend, ist sie durchtrieben? Kann sie überhaupt verantwortlich sein? Jedenfalls: Halb zieht sie ihn, halb sinkt er hin. Um in Lolitas Nähe zu bleiben, heiratet Humbert Humbert gar ihre ungeliebte Mutter Charlotte (Melanie Griffith), deren Unfalltod ihn insgeheim beglückt (seinen vorherigen Mordplan am Badesee läßt der Film ganz aus).

Nun also kann Humbert mit Lolita auf eine Hotelreise quer durch die USA gehen. Ein quälendes Road Movie, ein Trip durch Paradies und Hölle. Mal benehmen sich die beiden wie ein turtelndes Liebespaar, mal gesittet wie Vater und Tochter, mal ist sie ganz unbefangenes Kind mit beträchtlichem Kaugummi- und Comic-Verbrauch, dann wieder heult sie still in ihr Kissen – oder sie spielt trotzig ihre Macht aus: Entweder doppeltes Taschengeld oder keinen Oralsex mehr. Womöglich der erste Schritt in die Prostitution?

Wie beim Wettstreit ums süßeste Girl im nassen T-Shirt

Regisseur Lyne ist vorbelastet. In „Eine verhängnisvolle Affäre“ hat er eine furienhafte Geliebte auf ein braves Ehepaar gehetzt, in „9 1/2 Wochen“ Untiefen sexueller Auslieferung und in „Ein unmoralisches Angebot“ die Mechanismen zwischen Sex und Geld geschmäcklerisch bebildert. Ein Mann mit dieser Filmographie mußte früher oder später auf „Lolita“ stoßen. In den USA hat er sich mit dem Projekt Ärger eingehandelt. Es ist ja auch ein Dilemma: Die Kamera muß, um Humberts Begehren zu beglaubigen, permanent die Reize Lolitas ausstellen und doch halbwegs diskret bleiben. So kommt es, daß vor allem Lolitas entblößte Füße die Erotik verkörpern und daß ihre frühe, von Humbert hervorgelockte Verderbtheit sich in grell geschminkten Lippen äußert. Ein neckisches Spielchen der Andeutungen.

Geistige Dimensionen, mythische Qualitäten gar, erlangt man so nimmer. Der Zuschauer fühlt sich stets ein wenig wie beim Strandwettbewerb ums süßeste Girl im tropfnassen T- Shirt. Und der Showdown mit jenem Kinderporno-Finsterling Clare Quilty (Frank Langella), der dem zuweilen faustischen Humbert und dem Lolita-„Gretchen“ als mephistophelischer Schatten folgt, erschöpft sich letztlich im Action-Gerangel um eine Pistole.

Immerhin wird deutlich, daß es hier nicht nur um pure Lüsternheit, sondern zumindest seinerseits um eine dauerhafte, wenn auch höchst prekäre Liebe geht. Denn Humbert Humbert ist zu tätiger Sühne bereit, indem er später die von einem anderen Mann schwangere, zum unscheinbaren Heimchen gewordene Lolita selbstlos umsorgen will.

Doch im Vergleich zu Nabokovs genialem Roman, dessen ungeheuer vitaler Sprachfluß von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln vermag, bleibt dieser Film Flachware. Ja, man könnte als Leser geradezu zornig werden, daß ein solcher Streifen und seine Gesichter nun den Kopf besetzt halten und sich vor die Erinnerung an das Buch zu schieben drohen.