Papsttochter am Aalto-Theater: Donizettis „Lucrezia Borgia“ öffnet den Blick auf psychische Extreme

Marta Torbidoni, die gastierende Premierensängerin, als Lucrezia Borgia in Ben Baurs atmosphärisch gelungenem Bühnenbau. (Foto: Bettina Stöß)

In Bergamo, dem Geburtsort Gaetano Donizettis, gibt es in jedem Herbst ein Festival, bei dem sich kaum gespielte Opern als überraschend gegenwärtig erweisen. So im Herbst 2022 zum Beispiel Donizettis „L’aio nell‘ imbarazzo“ („Der Hauslehrer in Verlegenheit“), eine skurrile Studie über extreme – heute würde man sagen – Verhaltensauffälligkeiten. Hin und wieder haben Opern Donizettis abseits des Mainstreams aber auch in Deutschland eine Chance.

Das Aalto-Theater Essen zeigt als zweite Premiere der Intendanz von Merle Fahrholz eine noch von ihrem Vorgänger Hein Mulders programmierte und wegen der Corona-Pandemie verschobene, selten zu sehende Donizetti- Oper: „Lucrezia Borgia“.

Hauptperson ist die uneheliche Tochter Papst Alexanders VI.: Borgia, deren – heute historisch entkräfteter – Ruf als verruchte, ausschweifende Giftmischerin im 19. Jahrhundert für schaudernde Faszination sorgte. Donizettis Oper von 1833 wurde für Deutschland eigentlich erst 2009 wiederentdeckt, als Edita Gruberova an der Bayerischen Staatsoper München in der Regie von Christof Loy als Lucrezia debütierte. Trotz gelegentlicher Neuinszenierungen – so vor einigen Jahren in Halle/Saale – bleibt das Werk eine Rarität.

Das dürfte nicht an der stupend ausgearbeiteten Musik aus einer Hochphase des Schaffens Donizettis liegen, sondern am Sujet. Ähnlich wie „Parisina d’Este“ (1833) oder „Maria de Rudenz“ (1837) ist „Lucrezia Borgia“ ein Stück der psychischen Extreme. Mit den nachtschwarzen Liebesgeschichten des romantischen „melodramma“ und seinen Opfer-Heroinen hat es nichts mehr zu tun. Eher weist die Oper in die Richtung, die Giuseppe Verdi später mit „Rigoletto“ eingeschlagen hat. Das ist kein Wunder: Beide Opern basieren auf Dramen von Victor Hugo, der seine „Lucrèce Borgia“ bewusst als Gegenstück zu „Le roi s’amuse“, der Vorlage für „Rigoletto“, konzipiert hat.

Geächtete Menschen

Beide sind Menschen, die gesellschaftlich geächtet sind – der eine wegen seiner körperlichen Entstellung, die andere aufgrund ihrer moralischen Verkommenheit. Und beide sollen Mitgefühl erzeugen, ja den Zuschauer laut Hugo „zum Weinen bringen“: Rigoletto durch seine Zärtlichkeit als Vater, Lucrezia durch die Qual, die sie über ihr verbrecherisches Vorleben empfindet, und durch ihre reine Mutterliebe. Die inneren Widersprüche der Existenz interessierten Hugo wie Donizetti; spätere Generationen hielten solche Sujets eher für widerlich.

Im Gegensatz zu „Rigoletto“ bleiben die Personen bei Donizetti aber in einer Sphäre zwischen Traum und Realität befangen. Lucrezia hat einen Sohn, Gennaro, von dem nur sie alleine weiß, nach dem sie sich sehnt, der aber in ihrem Leben tatsächlich keinen Platz haben darf. Gennaro, ein erfolgreicher Soldat ohne Wurzeln – Vater unbekannt, Mutter verschollen – ist abhängig von der Obsession für ein überhöhtes Mutter-Ideal. Die Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Lucrezia und Gennaro bleibt bis zum Ende unausgesprochen, bestimmt aber den tödlichen Verlauf der von fatalen Zufällen bestimmten Handlung. Gennaro fühlt sich von der unbekannten Dame unerklärlich angezogen. Die rätselhafte Zuneigung schlägt in Hass um, als am Ende des als „Prolog“ betitelten ersten Teils der Oper ihre Identität aufgedeckt wird: Sie ist das Monster „Borgia“.

Mutter und Monster: Diesen Gegensatz hat Victor Hugo konstruiert, um im besten romantischen Sinn die Rätselklüfte des Lebens aufzureißen, Extreme zu markieren, die sich nicht besänftigen, sondern nur schaudernd aushalten lassen. Felice Romani, der Librettist Donizettis, hat sie fokussiert auf nur wenige Personen und so die extremen Spannungen betont, die das Stück so schwer inszenierbar machen. Eine Herausforderung für jeden Regisseur, aber eine mit dem eigenen Reiz, zu der brillanten Musik Donizettis eine adäquate szenische Lösung zu finden.

Surreale Regie-Elemente

Immer wieder bricht Ben Baur die Szene ins Surreale auf, so wie hier mit einem Zug von Klerikern. Links: Davide Giangregorio als Don Alfonso, rechts Marta Torbidoni als Lucrezia. (Foto: Bettina Stöß)

In Essen hat sich Ben Baur an das Experiment gewagt und sich dabei stark an Victor Hugo orientiert. Er verzichtet auf die Schauwert-Schauplätze Venedig und Ferrara, baut auf der Bühne einen monumentalen, an florentinische Renaissance erinnernden Saal mit Ziegelwand, einem dominierenden Kamin und einem Vorhang, der das Element des Theaters unterstreicht und Raum und Szenen gliedert. Die kostbare goldgelbe Robe für Lucrezia ist eine der wenigen Reminiszenzen an die historische Papsttochter, die mit Donizettis Figur kaum etwas zu tun hat, aber durch das Gewand gleichzeitig überhöht wird.

Uta Meenens Kostüme bewegen sich ansonsten im Spektrum von konkreten Anspielungen – Mönchskutten, Klerikergewänder oder biedermeierliche Nachthemdchen für die Kinderstatisterie, die ein surreales Element in die Inszenierung einbringen sollen – und einer uneindeutigen Phantastik wie in den queeren, androgynen Entwürfen für die jungen Menschen in der Entourage Gennaros oder dem wie ein Bustier gestalteten Brustpanzer von Lucrezias Gatten Don Alfonso.

Baur ist ein Meister solcher fluider Zeichen und setzt sie ein, um den Raum als eine Seelensphäre zwischen Wachen und Träumen zu kennzeichnen. Mehrfach tötet Gennaro im Lauf des Stücks Erscheinungen Lucrezias, ein Motiv, das surreal rätselhaft bleibt, vielleicht zu lesen als vergeblicher Versuch des jungen Mannes, sich von der Zwangsvorstellung seines Mutterbilds zu befreien. Wie sehr ihn dieses dominierende Ideal am Leben hindert, zeigt sich in der Szene mit seinem Freund Maffio Orsini im zweiten Akt. „Mit dir immer, ob lebend oder tot“ beschwören die beiden im melodischen Schwung eines Liebesduetts eine Verbindung, die unübersehbar homoerotische Züge trägt. In Baurs Inszenierung tritt Orsini im Gewand der Lucrezia Borgia auf – ein Signal für das verzerrte Gefühlsleben Gennaros, der Liebe offenbar nur mit dem inneren Bild der „Mutter“ verbinden und so nicht zu einem authentischen Verhältnis zu Orsini finden kann.

Das Problem bei Baurs überlegtem Regie-Zugriff ist, dass die szenischen Signale zu naturalistisch wirken und nur peripher mit der verlaufsgetreu erzählten Handlung korrespondieren können. Gestorbene Kinder Lucrezias, blutüberströmte Gemeuchelte, ein Zug von Kardinälen mit dem Papst an der Spitze: Wo Baur die Handlung im Sinne einer Zeichen- oder Traumlogik aufbrechen will, wirkt das Surreale nicht; wo Transzendierung wirksam werden sollte, bleibt die Handlung zu fasslich. Dennoch: Die Intention Baurs, das Stück aus dem Korsett eines schwer nachvollziehbaren Narrativs zu befreien, führt in die richtige Richtung.

Glanzvolles Debüt

Jessica Muirhead. (Foto: Nanc Price)

In Essen war jetzt erst die ursprünglich gedachte Besetzung zu erleben, mit der auch geprobt wurde: In der Premiere am 26. November mussten drei von vier Hauptrollen durch Gäste ersetzt werden. Auch jetzt grassiert die Krankheitswelle noch, wie sich vor allem im von Klaas-Jan de Groot einstudierten Chor bemerkbar macht. Endlich konnte aber Jessica Muirhead ihr Debüt als Lucrezia Borgia feiern – und sie hat die Anforderungen der Partie zwischen verträumter Lyrik („Com’e bello! Quale incanto …“), gefährlichem Auftrumpfen („Oh! A te bada … a te stesso pon mente“) und brennender Verzweiflung („Mille volte al giorno io moro“) glanzvoll ausgeschöpft. Muirheads leuchtender, bis auf ein paar Stützschwierigkeiten bei kurzen Noten in der Höhe sicher positionierter Sopran ist in der Lage, die emotionalen Spannungen in einer hinreißenden Gesangslinie auszudrücken. Das ist anders als die ziselierte Feinarbeit, mit der Gruberova die Schwächen ihrer Stimme in Expression verwandelte, anders auch als der dramatische Impetus, den Marta Torbidoni in der Premiere als Gast – sie hatte die Partie vorher in Bologna gesungen – mitgebracht hat.

Der giftige Wein der Borgia bringt den Tod. Marta Torbidoni (Lucrezia) und Francesco Castoro (Gennaro) im zweiten Akt der Oper. (Foto: Bettina Stöß)

Francesco Castoro als Gennaro kann in der jüngsten Vorstellung überzeugender punkten als in der Premiere. Er führt seinen Tenor bewusst leicht und mit einem unangestrengten Ton fern von dem oft als „italienisch“ missverstandenen Aplomb. Auch wenn man spürt, dass ihm manche Passage Mühe bereitet: Castoro vermittelt einen Eindruck davon, was Belcanto im Sinne Donizettis bedeutet. Alles andere als Schöngesang bot dagegen Davide Giangregorio bei seinem Deutschland-Debüt als Don Alfonso. Weit weg von der eleganten Linienführung und der unangestrengten Attacke eines Kavaliersbaritons dröhnte er mit undifferenzierter, auf bloße Außenwirkung getrimmter Kraft und unsteter Tonbildung. Ein Schönsänger ist die Hausbesetzung Almas Svilpa zwar auch nicht, aber in seiner bewussten Gestaltung kommt er den stilistischen Erfordernissen des Singens näher als der Premierengast aus Bologna. Vokal glänzend und als Darstellerin überzeugend: Liliana de Sousa als Maffio Orsini.

Farben der Melancholie

Dass auch die kleineren Rollen nicht ohne Anspruch sind, demonstrieren Mathias Frey (Rustighello), Tobias Greenhalgh und das Quartett der Kumpane Orsinis, Edward Leach (Liverotto), Lorenzo Barbieri (Gazella), Timothy Edlin (Petrucci) und Joshua Owen Mills (Vitelozzo). Andrea Sanguineti, designierter GMD von Essen, hat in der Januar-Vorstellung das Tempo merklich angezogen, lässt das Orchester akzentuierter spielen, gibt den Cabaletten drängende Energie und den lyrischen Momenten die Farbe der Melancholie, die – etwa in der Einleitung – an die zwei Jahre später entstandene „Lucia di Lammermoor“ erinnert.

Die vielen Krankheitsfälle im Ensemble gehen allerdings nicht spurlos vorüber: Die Präzision leidet, die Koordination mit der Bühne wankt öfter, die Geigen der Essener Philharmoniker klingen – im Gegensatz zu den warmen Celli – kreidig-scharf. So ganz ist der Versuch, Victor Hugos sperrige Thematik in unsere Gegenwart zu übertragen, in Essen nicht geglückt. Aber diese „Lucrezia Borgia“ zeigt, dass ein ambitionierter Regisseur aus anachronistisch wirkenden Stoffen überraschende Einsichten gewinnen kann. Das ist nicht neu, hat sich an so manchem Opernhaus aber noch nicht herumgesprochen. Und Donizettis Musik ist es allemal wert, von stilsicheren Sängern und Musikern (und *innen natürlich auch) verlebendigt zu werden.

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit am 14. Januar, 4. und 15. Februar und 10. März. Karten (0201) 81 22 200 oder www.theater-essen.de

 




„Ich gebe viel, ich bekomme etwas zurück“: Jessica Muirhead singt die „Arabella“ am Aalto-Theater Essen

Endlich wieder singen: Jessica Muirhead, seit 2015 am Essener Aalto-Theater fest engagiert, freut sich riesig, dass die Corona-Pandemie kein Hindernis mehr ist, auf die Bühne zurückzukehren. Ab 14. Mai singt sie die „Arabella“ in Richard Strauss‘ gleichnamiger Oper.

Jessica Muirhead. (Foto: Nanc Price)

Auch sie selbst hat ihre Infektion überwunden und stürzt sich in eine für sie neue, große Partie: Mit der lyrischen Komödie „Arabella“, dem letzten gemeinsamen Werk von Strauss und Hugo von Hofmannsthal, biegt am 14. Mai die Spielzeit 2021/22 am Aalto in die Zielgerade ein. Es ist die letzte Opernpremiere der Intendanz von Hein Mulders. Werner Häußner sprach mit der britisch-kanadischen Sopranistin, die 2018 auch den Aalto-Bühnenpreis erhalten hat, über ihre Karriere und blickt mit ihr auf die Zeit mit Mulders zurück.

Ab Samstag sind Sie am Aalto-Theater Essen die Arabella in Richard Strauss‘ wehmütig-ironischem Rückblick auf das „alte Wien“.

Ja, endlich ist sie da! Ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für meine Stimme, mit Strauss zu beginnen. Vor drei Jahren sollte ich schon die Marschallin singen, aber das empfand ich noch als zu früh. Ich möchte mir die Strauss-Rollen langsam erarbeiten, zum Beispiel „Daphne“, die ich in Frankfurt gesehen habe – ein berührendes Stück und großartig für die Stimme geschrieben. Da bekomme ich Gänsehaut.

Aber Puccinis Suor Angelica im „Trittico“, die Sie gerade am Aalto-Theater gesungen haben, ist auch nicht ohne …

Aber ja. Ich bin am Ende komplett fertig, obwohl die Rolle kurz ist. In dieser Inszenierung von Roland Schwab bin ich die ganze Zeit im Spotlight.

Jessica Muirhead als Schwester Angelica in Giacomo Puccinis „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Matthias Jung)

Endlich wieder auf der Bühne singen

Wie sind Sie durch die Zeit der Pandemie gekommen?

Es war keine gute Zeit für mich. Diese Unsicherheit um unsere Zukunft hat mich geradezu depressiv gemacht. Am Anfang war die Ruhe für die Stimme okay. Aber nach zwei Jahren brauche ich ein Publikum und eine Bühne. Wenn man in einer Wohnung singt, ist das Gefühl ein anderes. Es war auch schwierig, die Zeit zu nutzen, um neue Partien zu lernen. Meine Seele war traurig, doch man braucht die Seele, um zu singen. Ich habe einige Rollen gelernt, die dann abgesagt wurden, zum Beispiel aus Rossinis „Il Viaggio a Reims“. Gottseidank dürfen wir jetzt wieder spielen und das Publikum kommt. Das ist nicht überall so. Aber ich habe bemerkt, dass unser Publikum die Kunst braucht und genießt, so wie ich auch. Jetzt fühle ich mich besser, weil ich sehe: Es gibt eine Zukunft.

Haben Sie stimmlich eine Veränderung bemerkt, weil Sie lange nicht auf der Bühne singen konnten?

Es herrschte zu viel Ruhe. Das ist wie bei der Fitness: Spazieren gehen ist super, aber man braucht auch die Anstrengung. Ich habe gemerkt, dass meine Stimme häufig zu tief intoniert hat. Da war die Spannung weg und es fehlte mir die Kontrolle. Jetzt erst ist meine Stimme wieder voll da.

Was war die erste Partie nach der Pandemie?

Am Aalto-Theater war es die Dido in Henry Purcells „Dido und Aeneas“. Aber im Herbst 2021 konnte ich in Israel in einer Uraufführung mitwirken: „Kundry“ von Avner Dorman, inszeniert von der künftigen Volksopern-Direktorin Lotte de Beer an der Oper in Tel Aviv.

Das Aalto-Theater als echtes Zuhause

Sie sind seit 2015 am Aalto-Theater im Festengagement. Was hält Sie so lange in einem Ensemble? Sie hätten die Möglichkeit, an vielen großen Häusern frei zu singen.

Dafür gibt es viele Gründe. Ich bin die Schritte sozusagen umgekehrt gegangen – erst war ich zehn Jahre frei, dann ging ich ins feste Engagement. Ich wollte ein echtes Zuhause haben. Das habe ich im Aalto-Theater gefunden. Es ist schön, die familiäre Atmosphäre hier am Haus zu genießen. Das ist nicht selbstverständlich. Ich brauche den Kontakt, weil meine Familie in Kanada weit weg ist. Außerdem eröffnen sich hier so viele schöne künstlerische Möglichkeiten. In München hatte ich früher einen Residenzvertrag, aber ich konnte nur drei Rollen singen: Musetta in „La Bohème“, eine Magd in „Elektra“ und ein Blumenmädchen im „Parsifal“. Ich war ein „small fish in huge water“. Ich wollte mehr singen, vor allem mehr Hauptrollen.

Dann eröffnete Essen Ihnen viele Rollendebüts …

Das nächste Rollendebüt für Jessica Muirhead ist „Arabella“ von Richard Strauss. Ein Probeneindruck mit Heko Trinsinger als Mandryka. (Foto: Matthias Jung)

Intendant Hein Mulders hat mir diese Möglichkeit gegeben. Ich habe als Rusalka, Luisa Miller, Elsa, Rosalinde und Anna in Marschners „Hans Heiling“ debütiert und Rollen wie Violetta, die Gräfin in „Nozze di Figaro“, Donna Anna, Micaëla, Margarethe in Gounods „Faust“, die ich früher bereits gesungen hatte, aufgefrischt. Was ich gerne wieder machen würde, ist „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ von Frederick Delius, ein wunderbares Werk. In der nächsten Spielzeit darf ich dann auch wieder Belcanto singen: die Lucrezia in Donizettis „Lucrezia Borgia“. Hier in Essen habe ich die Möglichkeit, das auszuprobieren.

Auf der anderen Seite muss ich nichts tun, was meiner stimmlichen Entwicklung schadet. Zum Beispiel habe ich die Elisabetta in Verdis „Don Carlo“ zurückgegeben, weil ich das Gefühl hatte, es sei noch zu früh für diese Partie. Das wird akzeptiert – was nicht an allen Häusern der Fall wäre – und ich fühle mich so als Künstlerin in meiner Verantwortung wahrgenommen.

„Die Vielfalt hat mir nicht geschadet“

Ein Vorteil ist auch die Verbindung von Aalto-Theater und Philharmonie. Im März hatte ich den Sopranpart in Rossinis „Stabat Mater“ übernommen, habe hier in Beethovens Neunter und zum ersten Mal in Brahms‘ „Deutschem Requiem“ gesungen. Die Vielfalt hat mir nicht geschadet, im Gegenteil: Eine Wiener Stimmspezialistin hat mir nach der Premiere der „Suor Angelica“ gesagt, meine Stimme sei so frisch wie damals, als sie mich zum ersten Mal gehört hatte.

Wann war das?

Das war 2006, als ich als Pamina in der „Zauberflöte“ an der Wiener Volksoper in der Inszenierung Helmut Lohners in Europa debütierte. Ich hatte in Kanada einen Wettbewerb gewonnen und Rudolf Berger, damals Direktor der Volksoper, war Mitglied der Jury. Er hat mich angerufen und mir Pamina angeboten. Ich bekam dann einen Residenzvertrag und habe noch Micaëla („Carmen“) und Agathe („Der Freischütz“) gesungen.

Was hat Ihnen diese Zeit in Wien gebracht?

In meinen ersten Jahren auf der Bühne habe ich viel gelernt! Ich hatte zuvor im Studium in Toronto nur in Mozarts „Idomeneo“ die Chance, szenisch zu agieren. Ich glaube, in dieser Wiener Zeit bin ich eine Schauspielerin geworden. Am meisten gelernt habe ich in der Arbeit mit einer Regieassistentin, Susanne Sommer. Ich habe bei meinem Debüt in Bizets „Carmen“ als Micaëla schlechte Kritiken bekommen. Ich war einfach zu langweilig. Bei der Wiederaufnahme habe ich mit ihr die Partie erarbeitet. Auch von Helmut Lohner habe ich viel gelernt, er war ein wunderbarer Künstler.

Was hat Sie dann bewogen, von Wien wegzugehen?

Ich bekam ein Angebot von München und an der Volksoper gab es eine neue Intendanz.

Und in Essen haben Sie sich von Anfang an wohl gefühlt?

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners "Hans Heiling" am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Thilo Beu)

Ja, ich hatte das Gefühl, Hein Mulders schaut darauf, wie neue Sängerinnen und Sänger ins Ensemble passen, nicht nur von der Stimme, auch von der Persönlichkeit her. Was mich betrifft, fühle ich mich wertgeschätzt; ich gebe viel, ich bekomme etwas zurück. Ich hatte Intendanten, die waren nicht sichtbar. Hein kommt zu jeder Premiere. Es ist das Gefühl des Kontakts da. Er sagt auch offen, was er gut findet und was nicht. So ein ehrliches Feedback schafft eine Beziehung. Besonders für uns Sänger ist das wichtig. Ich fühle mich als Künstlerin wahrgenommen.

Außerdem hat Hein Mulders für die Sänger und für das Publikum ein tolles Repertoire von Purcell bis Marschner und Wagner aufgebaut. Er hat meine Stimme gut verstanden, weil ich nicht in ein Fach gehöre. Die Möglichkeiten, die ich vorher hatte, waren oft nur in einem Fach. Hein Mulders verstand, dass ich dramatischer Koloratursopran, jugendlich-dramatischer und manchmal lyrischer Sopran bin. Verdis „Luisa Miller“ zum Beispiel habe ich mir nicht zugetraut, aber er sagte: „Du kannst das“. Und am Ende war es mein Lieblingsstück und hat auch meine Stimme gesünder gemacht. Ich habe das Gefühl, er riskiert manchmal etwas, aber die Risiken nimmt er mit Erfolg auf sich. Auch bei „Rusalka“ war ich mir zuerst nicht sicher. Ich bin persönlich dankbar, dass er solche Schritte für mich bedacht hat. Vorher hätte ich nie gedacht, dass ich einmal Wagner singen würde.




Raum des blauen Wassers: Piero Vinciguerra schafft für Puccinis „Trittico“ in Essen eine magische Bühne

Die Bühne von Piero Vinciguerra für Giacomo Puccinis Dreiteiler „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. Ein magischer Raum von Distanzierung, Verklärung und Selbstentäußerung. (Foto: Matthias Jung)

Was wäre bei Giacomo Puccini denn ein anderes Thema, das drei so unterschiedliche Opern wie in seinem „Trittico“ miteinander verbinden könnte, wenn nicht die Liebe?

So trivial die Feststellung klingt – denn fast alle Opern haben irgendetwas mit Liebe zu tun –, so grundlegend ist sie für Puccinis Experiment, drei Werke zu einem „Triptychon“ zu verbinden, die wie drei Flügel eines Kunstwerks einzeln stehen und doch zusammengehören. Aber Regisseur Roland Schwab hat in seiner dritten Inszenierung am Aalto-Theater Essen (nach Verdis „Otello“ und Leoncavallos „Pagliacci“) eine andere Antwort: der Tod.

Schwab entdeckt also, was Puccini in seiner letzten Oper „Turandot“ im schmerzlichen Scheitern letztlich bekräftigt hat. Doch schon das „Trittico“ beantwortet die Frage Friedrich Nietzsches, ob Liebe und Tod nicht Geschwister seien, in drei Versionen: dem gewaltsamen Mord, dem verklärenden Übergang und einem Satyrspiel mit dem Tod, dem Schwab durch den Suizid des Buoso zum Beginn von „Gianni Schicchi“ ein verstörendes Gewicht gibt. Aus dem Überdruss am Luxus – Buoso erschießt sich am Rand eines mondänen Pools – keimt die zerstörerische Gier nach Reichtum als Quelle materieller Völlerei. Von daher, und verbunden mit dem Blick auf die außerordentliche Qualität der Musik Puccinis, kann das „Trittico“ auf gleicher Höhe wie Verdis „Aida“ oder Wagners „Tristan und Isolde“ auf das unerschöpfliche Thema von Liebe und Tod blicken.

Die Scharniere zwischen den Werken interessieren Schwab bei seiner Neuinszenierung des „Trittico“ am Essener Aalto-Theater besonders. Am liebsten hätte er, so bekennt er im Programmheft-Interview, die drei Stücke ohne Pause aneinandergehängt, und begründet das tiefsinnig mit der Dreiteilung von Dantes „Göttlicher Komödie“: Der Beginn, „Il Tabarro“, als Abgrund der Welt, „Suor Angelica“, das ungeliebte Mittelstück, als das „Purgatorio“, den Reinigungsort. Und schließlich „Gianni Schicchi“, die rabenschwarze Komödie, als Verweis auf das Paradies. Abwegig? Sicher nicht, denn die einzige Liebe, die eine Chance auf Gelingen hat, ist die zarte, sich selbst sichere Beziehung zwischen den jungen Menschen Lauretta und Rinuccio.

Zerstiebt Hoffnung wie Seifenblasen?

Heiko Trinsinger (Gianni Schicchi), Lilian Farahani (Lauretta) in „Gianni Schicchi“. Foto: Matthias Jung.

Aber wer stärker ist, die Liebe oder der alles verbindende Tod, wird in „Gianni Schicchi“ Bild und Szene virtuos in der Schwebe gehalten. Zwar bekommt das kleine Luder Lauretta genau das, was sie will, aber hinter dem fröhlich posierenden Paar schäumen Seifenblasen auf. Und der Schelm Gianni Schicchi hält eine rote Kugel in der Hand, die während des gesamten „Trittico“ als Chiffre in der Szene präsent war. Ist es der Apfel der Eva, mit dem das Paradies unzugänglich und das Böse in der Welt wirksam wurde? Die verbotene Frucht, die den Menschen „wie Gott“ um sich selbst wissend, frei, aber auch der Mühsal unterworfen der Welt auslieferte? Und verheißt die Leuchtschrift „Addio Speranza“ nicht auch auf die vergebliche Liebesmüh‘? Die Hoffnung – addio, also „zu Gott“?

Schwab arbeitet gerne (und manchmal zu viel) mit solchen symbolischen Fingerzeigen, mit chiffrierten Hinweisen. In „Il Tabarro“ spielt ein Drehorgler einen verstimmten Walzer. Er sollte in den beiden anderen Teilen wiederkommen – stummer Repräsentant des Todes im Komödiantenkostüm und so ein Echo des „Leierkastenmannes“ Schuberts. Das Kleid in sanft abgestuften Rosa-Tönen – die Kostüme sind Gabriele Rupprechts sensible Schöpfungen – verbindet die Protagonistinnen der drei Opern, betont das Gemeinsame der Frauenfiguren, die bei Puccini von Manon bis Liu stets zu Opfern verurteilt sind.

Wesentlich getragen wird Schwabs jeden Realismus transzendierende Sicht von einem großen Wurf Piero Vinciguerras: Für diese erste komplette Realisierung des Puccini-Dreiteilers in Essen hat der international erfolgreiche italienische Bildmagier die Bühne mit einem riesigen Wasserbecken ausgefüllt. Doch was anderswo lediglich zum szenischen Aufreger taugte, erhält in Essen sinnliche fassbare Bedeutung: Das Wasser wird selbst zum symbolhaften Element von Zeit, Vergänglichkeit, Elendsstrom und Tränensee. Selbst in „Il Tabarro“, in dem der Verismo und das Sozialdrama Émile Zolas grüßen, illustriert es nicht das Ufer der Seine. Und in Verbindung mit dem meisterlich eingesetzten Licht wandelt es den Raum zur Sphäre. Hier geht es nicht mehr um Schauplätze, sondern um Seelenräume.

Das Licht schafft Verbindungen zwischen den Opern: Wenn Luigi im „Tabarro“ bitter feststellt, das Leben habe keinen Wert mehr, schimmert die Bühne in dem blauen Licht, das später Schwester Angelica umfließt, wenn sie sich vergiftet. Dieser Moment ist große Bühnenkunst: Der riesige Spiegel über der Wasserfläche senkt sich in der Hinterbühne und lässt die Zuschauer wie von oben auf die im Blau hingestreckte Angelica blicken. Der Moment des Sterbens als Selbstentäußerung, Transzendierung und Verklärung wird wie selten sinnlich fassbar. So legt Schwab Spuren aus, die sich im Lauf des Abends zu festen Banden zwischen den drei Teilen entwickeln. Puccini hätte seine helle Freude gehabt.

Sänger garantieren musikalische Qualität

Das Aalto-Theater kann mit einer Riege von Sängern aufwarten, die auch die musikalische Qualität des Abends garantieren. Bettina Ranch etwa spielt als Frugola den Frust einer derangierten Schönheit aus und streift die Spur des Naturalismus, ohne die Dichte der Szene zu durchbrechen. Als Fürstin in „Suor Angelica“ repräsentiert sie – bezeichnend mit der Chiffre des Lichts durch ihre Sonnenbrille spielend – die eiskalte Unerbittlichkeit, die empathielos auf das Erbe konzentriert schon die Gier der Nachfahren in „Gianni Schicchi“ präfiguriert. Jessica Muirhead ist ein Schatz im Ensemble des Aalto-Theaters: Die ganze Sensibilität, Verletzlichkeit und innere Qual der ins Kloster verbannten unehelichen Mutter legt sie für Schwester Angelica in ihre freie, blühende, im Piano reich schattierende Stimme.

Der Tod zerreißt das begrenzende Gespinst und öffnet den Raum: Jessica Muirhead in „Suor Angelica“. Foto: Matthias Jung.

Marie-Helen Joël hat als Äbtissin und vor allem als Zita in „Gianni Schicchi“ stimmlich sicher unterfütterte, szenisch dichte Auftritte. Auch die kleineren Rollen sind niveauvoll besetzt, etwa mit Liliana de Souza (Schwester Eiferin, La Ciesca), Giulia Montanari (Genovieffa) oder Christina Clark (Nella). Annemarie Kremer setzt als Giorgetta einen imposant-kraftvollen Sopran ein, aber den scharfen, vibratoreichen Tönen fehlt der sinnliche Schmelz einer Puccini-Stimme. Auch Lilian Farahani ist als Lauretta nicht optimal besetzt: „O mio babbino caro“, der Schlager des gesamten „Trittico“, erklingt zu leicht, zu soubrettig, und ohne fließende melodische Bögen.

Mit Heiko Trinsinger als Michele („Il Tabarro“) und als Gianni Schicchi kann sich das Aalto-Theater auf eine sichere Nummer verlassen. Er erfasst trotz eines nicht so sehr italienisch gefärbten Baritons die resignierte Trauer und den impulsiven mörderischen Ausbruch eines Mannes, der ratlos zusehen muss, wie ihm die immer noch geliebte Frau im Fließen des Schicksals entgleitet. Dem Gianni Schicchi gibt er weniger die Eleganz des gewitzten Betrügers mit, sondern eher virile Kraft, unbändige Komödiantenlust, aber auch einen Flash von Zynismus.

Sergey Polyakov (Luigi) und Annemarie Kremer (Giorgetta) im ersten Teil des Abends, „Il Tabarro“ („Der Mantel“). (Foto: Matthias Jung)

Sergey Polyakov ist ein standfester, zu kraftvollem Nachdruck fähiger Luigi, der dennoch die drückende Trostlosigkeit seiner Existenz und die leise Trauer in seiner Leidenschaft in flexiblen Tönen auszudrücken weiß. Baurzhan Anderzhanov (Il Talpa/Betto di Signa) fällt wie stets durch seine makellos geführte Stimme und den Wohllaut seines kühlen, aber schön abgerundeten Timbres auf. Zu hoffen ist, dass Christopher Hochstuhl aus dem Opernstudio NRW als Liedverkäufer künftig nicht auf ein paar Sätzchen und stumme Auftritte beschränkt bleibt. Zumal in „Gianni Schicchi“ machen die Sänger – mit Carlos Cardoso als erfrischendem Rinuccio und Uwe Eikötter als erfahrenem Gherardo – dem Begriff des „Ensembles“ alle Ehre. Opern- und Kinderchor des Aalto-Theaters unter Patrick Jaskolka bewältigen die schwierige Aufgabe, aus der Ferne und in ungünstiger Aufstellung zu singen, mit solider Sicherheit.

Im Orchester erklingt ein „moderner“ Puccini

Am Pult der Essener Philharmoniker waltet diesmal Roberto Rizzi Brignoli, Generalmusikdirektor in Santiago de Chile und häufiger Gast an Häusern wie der Mailänder Scala, Berlin, Hamburg oder Stuttgart. Er präsentiert einen „modernen“ Puccini, bedacht auf Transparenz und genaues Nachzeichnen der Komplexität von Puccinis Komposition. Das ist gerade für „Il Trittico“ ein passender Zugang. In „Il Tabarro“ betont er nach einem luftig-lockeren Beginn nicht die Qualitäten des Verismo-Reißers, sondern die diskret schattierten Töne, die lyrischen Momente, in denen sich die verletzten Seelen musikalisch äußern.

In „Suor Angelica“, die der Operntradition des 19. Jahrhunderts am nächsten liegt, hätte man sich stellenweise einen süffigeren Klang vorstellen können. Aber die Essener Philharmoniker bringen das mystische Kolorit zum Leuchten, funkeln in der differenzierten Instrumentierung in aparten Farben, spielen Lyrisches gelöst und ohne Druck. Beste Voraussetzungen für die agile Musik des „Gianni Schicchi“, in der die Moll-Klage ebenso geheuchelt klingt wie das heroische Preislied auf Florenz, und in der sich die Philharmoniker vergnügt auf punktierte Details und schräge Sprünge kaprizieren. Eine Burleske mit schaurigem Hintergrund – der Kreis ist geschlossen.

Vorstellungen am 13. Februar (mit Nachgespräch), 2., 20., 31. März, 24. April, 15. Juni 2022. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/2022-02/iltrittico/6384/




Eher das böse Grinsen: Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ zeigt in Essen überraschend aktuelle Seiten

Für eine fröhliche Faschingsunterhaltung taugt „Das Land des Lächelns“ sowieso nicht. Aber Sabine Hartmannshenns ehrgeizige Regie-Bearbeitung macht Franz Lehárs Operette in Essen eher zum Land des bösen Grinsens.

Atmosphärisch dicht: Die erste Szene von Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ am Aalto-Theater Essen. Die Bühne ist von Lukas Kretschmer. (Foto: Bettina Stöß)

Während draußen unverdrossene Närrinnen und Narren den Stürmen trotzten, brauten sich drinnen auf der Bühne des Aalto-Theaters vor der Fassade eines Zwanziger-Jahre-Etablissements die braunen Stürme zusammen, die vier Jahre nach der Uraufführung von Franz Lehárs „romantischer Operette“ zahllose Künstler aus Deutschland wegfegen und der abgedreht-ironischen Gattung die kritischen Zähne glattschleifen sollten.

Die Inszenierung von Hartmannshenn, die im Dezember am Aalto Premiere hatte, schafft zunächst mit einer sorgfältig durchgestalteten Eingangsszene einen atmosphärischen Hintergrund: eilige Passanten, Zeitungsjungen, Straßenkehrer, eine etwas zu aufdringlich gestylte Schönheit und ein Flugblatt-Verteiler in SA-Uniform. Man bewundert die atmosphärische Treffsicherheit von Lukas Kretschmers Bühne. Dem Theater strebt nobel gekleidetes Publikum zu: Gegeben wird „Die gelbe Jacke“, jene China-Operette, die Lehár 1923 herausbrachte. Wenig erfolgreich, sollte sie sechs Jahre später dem Welterfolg „Land des Lächelns“ als Grundlage dienen.

Jessica Muirhead als Lea (Lisa). (Foto: Bettina Stöß)

So alltäglich das Treiben anmutet: die Atmosphäre ist lastend. Unterschwellige Aggressivität wird manifest, als ein Radfahrer einen älteren Herrn anfährt. Der Star der Abendvorstellung naht und wird vor dem Bühneneingang gefeiert. Die Menge verläuft sich, ein Herr bleibt zurück. Es ist der Darsteller des Leutnant Gustl, und er ahnt, dass seine bittersüße Sehnsucht bei der Diva nicht erfüllt wird: „Freunderl, mach dir nix draus‘“ ist ihr wohlgemeinter Rat an ihren „besten Freund“. Später, auf der Seitenbühne, als Lea, die im Stück die Lisa spielt, mit dem Gasttenor „bei einem Tee á deux“ flirtet, wird der abgeblitzte, eifersüchtig spähende Kollege beziehungsvoll eines der Flugblätter von draußen auf den Schminktisch legen: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen…

Neuer Rahmen für die Erzählung

Es sind solche vielsagenden Gesten, Zeichen und Signale, die Sabine Hartmannshenns „Land des Lächelns“ zu einem dicht gewebten, virtuos konstruierten Theater-Ereignis machen. Details, über denen nie das Ganze aus dem Blick gerät, sondern die immer schlüssig auf den großen Bogen der Erzählung hingeordnet sind. Und die Regie zertrümmert nicht, sondern erzählt, aber in einem neuen, aus der Geschichte des Stücks und seiner Zeit entwickelten Rahmen. Nicht mehr das noble Wiener Aristokratenhaus, sondern das Theater ist der Schauplatz. Die exotische Pracht des Fantasie-Chinas aus dem zweiten Akt wird nicht dekonstruiert, sondern zitiert: als glamouröse Bühnenshow in einem Varieté, dicht an der Unterhaltungskunst der Zwanziger Jahre und näher an Lehárs originaler „Gelber Jacke“.

Im Gegensatz zu Verfremdungsversuchen und Subtextlektüren, die in der Operette nicht selten desaströs ausgehen, schafft es die Essener Inszenierung, die Liebesgeschichte nicht als trivial zu denunzieren, sondern im Gegenteil in berührenden Szenen zu unterstreichen. Die Frage nach der Maske, die Menschen tragen, spielt dabei eine entscheidende Rolle, aber auch die Fremdheit, allerdings anders gefasst als von den Librettisten Ludwig Herzer und Fritz Löhner-Beda: Der Darsteller des Sou-Chong ist nicht nur Konkurrent in amourösen Dingen, sondern gerät als Fremder („Lernt erst mal richtig Deutsch“ schallt es vom Balkon) ins Fadenkreuz eines Bühnen-Publikums, das vom „Gauleiter“ bis zur graumausigen Mamsell, die sich ihr Bier selbst mitgebracht hat, durch Susana Mendozas Kostüme liebevoll charakterisiert wird.

Die China-Welt bleibt glamouröse Show: Jessica Muirhead (Lisa) und Tänzerinnen. (Foto: Bettina Stöß)

Das Klischee-China ist bunte Show, aber die Menschen, die in einer zunehmend feindlichen Gesellschaft Fremde werden, sind bitter real: Der Conférencier (im Original der chinesische Obereunuch), beschimpft als „Judenbengel“, wird hinausgeschleppt und kehrt schmerzverkrümmt zurück; der fremde Tenor schafft es gerade noch, zum Ausgang hinauszuhuschen – in Hut, Schal und Mantel wie einst der strahlende Uraufführungs-Chinaprinz Richard Tauber, den die Nazis ins Exil getrieben haben. Und wer denkt nicht an Fritz Löhner-Beda? Lehár verdankt seinem loyalen Freund fünf Libretti und hat (nach allem, was wir inzwischen wissen) nichts für ihn getan, als ihn die Nazis 1938 verhafteten, in Buchenwald erniedrigten und 1942 in Auschwitz erschlugen.

Fremd und einsam: Carlos Cardoso als Darsteller des Prinz Sou-Chong. (Foto: Bettina Stöß)

Der dritte Akt nimmt „eine neue Wendung“ nicht nur im China der Showbühne: Die frauenverachtenden Worte Sou-Chongs („Du bist hier nichts als eine Sache“) treffen mit ungedämpfter Wucht. Die Feststellung, ein Chinese könne sogar „sein Weib köpfen lassen“, quittiert der Uniformierte auf dem Balkon mit Beifall. Beim „Zig, zig, zig“-Duett reicht es den Damen im Bühnen-Publikum, viele verlassen türenknallend den Raum, während Chinamädels am Lederhalsband vorgeführt und herumgetrieben werden – Objekte der Gewalt-Geilheit, die an die Shows mit Josephine Baker in den Zwanzigern erinnern. Lisa allerdings, die beklemmend beziehungsreich in der Dirndl-Anmutung ihres Kleids von Sehnsucht nach der „Heimat“ singt, findet ihren Frieden mit dem zuprostenden Obernazi und dem in prächtigem österreichischem Rot-Weiß-Rot aufgetakelten Gustl: Auf sie wartet ein weißer Pelz. Als die Fassade des Theaters wieder auftaucht, prangen dort Hakenkreuzfahnen und ein Plakat, das „Land des Lächelns“ ankündigt…

Überraschend aktuelle Seiten

So verwebt Sabine Hartmannshenn die Geschichte der Lehár-Operette und die Zeitgeschichte ihrer Entstehungsstationen virtuos mit einem politischen Kommentar, der dem Stück keine Gewalt antut, sondern aus genau ausgearbeiteter Distanz befragt und seine überraschend aktuellen Seiten herausstellt. Dass sie dabei an die Grenzen der Gattung geht, schadet nicht, sondern lässt neu erleben, wie relevant Operette jenseits nostalgischer Unterhaltung sein kann.

Wenn dann auch die musikalische Umsetzung stimmt, wird ein spannender, berührender Abend daraus: Stefan Klingele am Pult weiß, wie weich und flexibel Lehárs Geigen geführt werden, wie sich die Bläser auf samtigem Streicherklang tragen lassen sollten statt ihn aufzureißen, wie die Balance zwischen der feinen Süße des Operetten-Sentiments und den auftrumpfend dramatischen Opern-Reminiszenzen herzustellen ist: Lehár, der Freund Puccinis, hat die China-Atmosphäre der „Turandot“ vorweggenommen. Anfangs schleppen die Tempi noch, aber in „Von Apfelblüten einen Kranz“ schaltet Klingele das Orchester auf höchste Schmeichelstufe.

Sorgfältig charakterisierte Figuren

Das Arioso inspiriert Carlos Cardoso zu berückenden Lyrismen, der in der Rolle des Sou-Chong überzeugend das Fremde einfängt, musikalisch aber gern die gestemmte Höhe italienischer Provinz-Provenienz einsetzt, statt den Ton elegant in die Linie einzubinden. „Dein ist mein ganzes Herz“ also eher á la „Turandot“. Frisch genesen, mit noch etwas schnupfigen Nebenhöhlen, strahlt die Stimme von Jessica Muirhead weitgehend frei, badet in den geschmeidigen Phrasierungen, charakterisiert  die sonst oft blässlich gezeichnete Lisa mit den Mikro-Färbungen expressiver vokaler Gesten.

Exemplarisch deutlich wird das im Tonfall, mit dem sie den enttäuschten Gustl beschwichtigen will. Ein erfahrener Darsteller wie Albrecht Kludszuweit füllt diese Rolle über Buffo-Tenor-Klischees weit hinaus, rückt den scheinbar so harmlosen österreichischen Leutnant an frustrierte, verschlagene Figuren heran, wie sie bei Hans Fallada oder in Heinrich Manns „Der Untertan“ auftauchen. Christina Clark erinnert als Mi fatal an die Showgirls, wie sie in den Vergnügungszentren von Berlin damals – etwa im „Haus Vaterland“ – materiell und sexuell ausgebeutet wurden. Karel Martin Ludvik gibt den „Gauleiter“ mit der stoischen Gewissheit, dass seine „neue“ Zeit kommen wird; Rainer Maria Röhr zeichnet – mit einem Intermezzo als Eunuch – sensibel den Conferencier, der die Frage nach der Menschlichkeit der Unmenschen herausschreit, bevor er von der Menge einfach überrollt wird.

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit: 1. März, 12. April, 10. Mai, 17. Juni. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/aaltomusiktheater/das-land-des-laechelns/3818/




Neue Rollen und ein Zuhause in Essen: Die kanadische Sängerin Jessica Muirhead erhält den Aalto-Bühnenpreis

Ihre Augen schauen groß und neugierig in die Welt, ihr Lachen füllt mühelos den Raum: Jessica Muirhead, Sopran am Aalto-Theater Essen, vermittelt den Eindruck eines Menschen, der mit sich und der Welt im Reinen ist. Fast drei Jahre lebt die britisch-kanadische Sängerin nun schon in Essen – und sie bekennt, sich pudelwohl zu fühlen. Am Freitag, 22. Juni, erhält Jessica Muirhead nach der letzten Vorstellung von Heinrich Marschners „Hans Heiling“ den Aalto-Bühnenpreis 2018.

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners "Hans Heiling" am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Die kreative Neugier trägt Jessica Muirhead in sich: Sie freut sich auf neue Rollen, wie zurzeit in Marschners selten gespielter Oper, in der sie Anna, die Braut des düsteren Erdgeistes Hans Heiling singt. Eine Partie, die sie völlig überrascht hat: „Ich kannte diese Oper überhaupt nicht“, gesteht sie, „und war von Anfang an begeistert, wie schön diese Rolle ist. Warum ist solche Musik nie zu hören, nicht einmal im Konzert?“

Für Jessica Muirhead steht fest: Diese Arie der Anna („Weh mir, wohin ist es mit mir gekommen“) wird sie weiterhin singen, wenn möglich, schon in einem kommenden Konzert in London. Lachend stellt sie fest: „Ich habe ja auch die Elsa in ‚Lohengrin‘ gesungen. Und jetzt gemerkt, wie Wagner von Marschner geklaut hat!“

Als das ständige Reisen keine Freude mehr machte

Neue Rollen sind für die Sängerin ein wesentlicher Grund gewesen, 2015 den Vertrag mit Essen zu unterschreiben. Für ihre Karriere kam das Angebot des Aalto-Theaters zur rechten Zeit. Gut zehn Jahre war Jessica Muirhead frei tätig, hat in Lissabon und Toronto, im slowenischen Maribor und beim irischen Wexford Opera Festival gastiert. „Als ich London verlassen habe, hatte ich für drei oder vier Jahre nicht einmal mehr eine eigene Wohnung.“ Eine schöne, spannende Zeit, aber nichts auf Dauer: „Anfangs hat es Spaß gemacht, immer unterwegs zu sein. Nach einiger Zeit nicht mehr.“

Neue, spannende Rollen wünscht sich Jessica Muirhead, so wie die Katerina in Bohuslav Martinus "Griechische Passion", eine ihrer ersten Partien am Aalto-Theater. Foto: Matthias Jung

Neue, spannende Rollen wünscht sich Jessica Muirhead, so wie die Katerina in Bohuslav Martinus „Griechische Passion“, eine ihrer ersten Partien am Aalto-Theater. Foto: Matthias Jung

So kam der Schritt in ein festes Ensemble gerade zum rechten Augenblick: Anfangs hatte sie Angst, auf zwei Jahre zu unterschreiben. Jetzt sei sie froh darüber. Schon beim Vorsingen, so bekennt sie, habe ihr die Atmosphäre am Haus zugesagt: „Ich habe gleich gemerkt, wie unterstützend hier alle sind. Die Leute am Aalto sind wunderbar, hinter, neben, unter und auf der Bühne. Ich habe viel anderswo gearbeitet – da war immer Stress. Hier ist das nicht so, hier passt das Ensemble.“ Bis 2019 läuft ihr Vertrag, aber Jessica Muirhead lässt durchblicken, dass sie gegen eine Verlängerung nichts einzuwenden hätte.

Debüt an der Wiener Volksoper

Mehr oder weniger auf Wanderschaft war Jessica Muirhead immer, seit sie nach ihrem Master of Music an der McGill University Montreal und einem Sieg in einem Wettbewerb ihren ersten Auftritt in Europa hatte: Am 13. Januar 2006 debütiert sie in der „Zauberflöte“ an der Wiener Volksoper in der Inszenierung Helmut Lohners, von der sie heute noch schwärmt. Es folgten ein Residenzvertrag und weitere Rollen: Micaëla in Bizets „Carmen“, Antonia in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ und Agathe in Webers „Freischütz“ – eine Rolle, die sie im Juli an der Seite von Torsten Kerl als Max im Hyogo Performing Arts Center in Japan und auch 2018/19 am Aalto-Theater gestalten wird.

Jessica Muirhead als Elsa in Richard Wagners "Lohengrin" am Aalto-Theater Essen. Foto: Forster

Jessica Muirhead als Elsa in Richard Wagners „Lohengrin“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Forster

Auf Dauer war Wien – obwohl inzwischen zu ihrer Lieblingsstadt avanciert – jedoch keine Perspektive für die junge Frau aus Kanada: An der Volksoper wurde alles auf Deutsch gesungen und das Repertoire, das ihr angeboten wurde, war zu schmal. Jessica Muirhead bekam einen Residenzvertrag in München und sang an der Staatsoper Musetta in Puccinis „La Bohème“, ein Blumenmädchen im „Parsifal“ und eine Magd in Richard Strauss‘ „Elektra“. Und sie gastierte: als Alice in Verdis „Falstaff“ in Glyndebourne, als Vreli in Frederick Delius‘ von ihr sehr bewunderten Rarität „A Village Romeo and Juliet“ („Romeo und Julia auf dem Dorfe“) beim Wexford Opera Festival, an der Semperoper Dresden als Mimí in „La Bohème“ und Marguerite in Charles Gounods „Faust“.

Attraktive Rollen in Essen

Essen konnte der auf Neues erpichten Sängerin nicht nur ein Zuhause und ein funktionierendes Ensemble mit einem freundlichen Arbeitsklima bieten, sondern auch ergiebige neue Rollen, von Katerina in Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“ über Rosalinde in der „Fledermaus“ bis zu ihren Rollendebüts als Elsa in „Lohengrin“ und Marie in Bedřich Smetanas „Die verkaufte Braut“.

In der nächsten Spielzeit freut sie sich auf ihre erste „Rusalka“ – die Wiederaufnahme von Antonín Dvořáks symbolistischer Märchenoper ist am 15. Juni 2019 –, auf „Luisa Miller“ als ihre dritte Verdi-Partie nach Alice („Falstaff“) und Violetta („La Traviata“), auf Wagners „Sieglinde“ im „Ring an einem Abend“ und auf ihre Repertoire-Partien wie Micaëla in der Neuinszenierung des Bizet-Klassikers „Carmen“ von Lotte de Beer mit Sébastien Rouland am Pult ab 13. Oktober, Donna Anna in Mozarts „Don Giovanni“ und Puccinis Mimí in „La Bohème“.

Bisher kaum Belcanto gesungen

Was auffällt: Jessica Muirhead ist von Monteverdi bis Britten in vielen musikalische Stilrichtungen eingetaucht und hat sich mit sechs großen Partien als Mozart-Sängerin qualifiziert. Aber sie hat kaum Belcanto gesungen: keinen Bellini, keinen Donizetti, nur wenig Verdi. Eine Lücke, die Jessica Muirhead gerne schließen würde, aber: „Das liegt an den Angeboten. Zuerst habe ich viel Mozart gesungen, dann kam die französische Oper. Ich hatte anfangs auch Schwierigkeiten mit Koloraturen. Meine Stärke sind lange Linien mit hohen Pianissimi. Aber jetzt fühle ich mich fit, etwa für eine Gilda in Verdis ‚Rigoletto‘, die ich immer schon einmal singen wollte. Oder für Gaetano Donizettis ‚Maria Stuarda‘.“

Auch für diese Wünsche setzt Jessica Muirhead auf das Ensemble: „Freiberuflich ist es schwierig, neue Rollen zu bekommen oder in eine andere Richtung fortzuschreiten. An einem Ensemble-Haus wie Essen kann ich neue Partien für mich entdecken. Und mit Hein Mulders und Tomáš Netopil überlegen, was ich im nächsten Schritt singen könnte. Hier habe ich die Möglichkeit, meine Stimme in Ruhe zu entwickeln.“

In dieser Spielzeit singt Jessica Muirhead am Freitag, 22. Juni noch die Anna in Heinrich Marschners „Hans Heiling“. In der neuen Spielzeit geht’s für sie los mit Micaëla in Georges Bizets „Carmen“ am 13. Oktober, gefolgt von Mimí in der Wiederaufnahme von Puccinis „La Bohème“ am 2. November 2018. Info: www.theater-essen.de




Glücksmomente: „Lohengrin“ zurück im Aalto-Theater

Für drei Vorstellungen kehrt Richard Wagners „Lohengrin“ ins Aalto-Theater zurück. Und auch aus dem Abstand von über einem Jahr und vor dem kritischen Blick auf die Wiederaufnahme kann diese Produktion als eine der besten im Essener Repertoire bestehen.

Szene aus dem Essener "Lohengrin": Heiko Trinsinger (Telramund, Mitte oben), Jessica Muirhead (Elsa, Mitte unten), Chor und Statisterie. Foto: Forster.

Szene aus dem Essener „Lohengrin“: Heiko Trinsinger (Telramund, Mitte oben), Jessica Muirhead (Elsa, Mitte unten), Chor und Statisterie. (Foto: Forster)

Das liegt nicht allein an der komplexen Regie von Tatjana Gürbaca, die dem Wunder Raum gibt, ohne es zu banalisieren oder vorschnell zu erklären. Das liegt auch am Einsatz der Essener Philharmoniker und ihrem GMD Tomáš Netopil. Und an einem Ensemble, das nicht mit Luxusglamour aufwarten muss, um musikalisch voll und ganz zu überzeugen.

Im Vergleich zur Premiere (4. Dezember 2016) hat Netopil seine Lesart noch verfeinert: Die Mischungen des Klanges sind noch detaillierter modelliert, die Spannung zwischen schwebender ortloser Piano-Kultur und auftrumpfender, blechglänzender Pracht ist noch kühner ausgereizt.

Was auf der anderen Seite auffällt, ist ein Hang zum Ästhetisieren: Netopil setzt auf leuchtende, erfüllte Klang-Ereignisse, poliert die Konturen und ummantelt das Bedrohliche, Verstörende in der Musik mit schwarzem Samt. Lässt er wie in satten, markant ausmusizierten Momenten der tiefen Holzbläser einen expressiven Ton zu, wird er zum Ereignis. In der Dynamik greift er beherzt zu – aber es darf ruhig einmal sein, dass die Stimme eines Sängers ins Orchester gebettet ist, statt sich darüber zu erheben.

Bei aller Vorsicht gegenüber der eigenen Erinnerung und derartigen Vergleichen: Die Elsa Jessica Muirheads hat, gemessen an der Premiere, Sicherheit und Reife gewonnen. Sie strahlt auch im tiefsten Unglück einen Wesenskern selbstbewusster Würde aus und lässt damit den existenziellen Zusammenbruch am Ende umso tragischer erscheinen. Stimmlich hat sie ihren strahlenden Ton gerundet und in dramatischen Momenten und exponierten Höhen sicher im Körper verankert.

Sergey Skorokhodov, der Lohengrin auch am Mariinskij-Theater in Sankt Petersburg singt, bringt Leichtigkeit und italienischen Schmelz mit in die Partie und wird damit der fragilen Sanftheit lyrischer Bögen ebenso gerecht wie der dramatischen Attacke. In der Gralserzählung trifft er den glanzvollen Quartsprung, der das heilige Gefäß charakterisiert, ebenso wie die schwebende Verzückung für den Schimmer des Wunders.

Auf der Höhe seines Könnens agiert Heiko Trinsinger. Parallel zu einer anderen großen Bariton-Partie, Heinrich Marschners „Hans Heiling“, singt er am Aalto den Telramund und gestaltet Trotz, Schmerz und Wurt dieses mehrfach genarrten, an der Konsistenz seiner Weltsicht verzweifelnden Mannes auf sicherem Fundament, mit präsentem Glanz und modellhafter Artikulation, frei und strömend im Klang. Seiner Partnerin Rebecca Teem als Ortrud fällt es nicht leicht, auf diesem Niveau mitzuhalten: Dazu ist der Ton zu wenig frei gebildet, zu erzwungen emittiert, zu unfreiwillig grell im Timbre. Packende Momente hat sie dennoch immer dann, wenn sie sich vokal nicht exponieren muss, sondern charakterisierend gestalten kann.

Frank van Hove singt einen milden König Heinrich, der sich redlich, aber vergeblich bemüht, zu verstehen, mit welchem Kraftfeld er es in Brabant zu tun bekommt; Karel Martin Ludvik ist ein Heerrufer, der seine Stärke im Zentrum ausspielt. Der Chor von Jens Bingert knüpft an seine überzeugende Leistung in der Premiere an; Carolin Steffen-Maaß hat die auf präzises Timing und deutliche Zeichensprache angewiesene Inszenierung Tatjana Gürbacas für die Wiederaufnahme so einstudiert, dass von entscheidenden Details der Personenregie bis zur Wirkung der Massenszenen nichts als verloren bemerkt werden könnte.

Essen hat einen „Lohengrin“, der sich getrost in die Konkurrenz mit anderen Bühnen werfen kann.

Weitere Vorstellungen am 22. April und 6. Mai.




Alfried Krupp auf der Bühne: Heinrich Marschners Bergbau-Oper „Hans Heiling“ als Ruhrgebiets-Familienstory in Essen

Zechenschließungen drohen und Hans Heiling (Heiko Trinsinger) liebt ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu. Foto: Thilo Beu

Zechenschließungen drohen und Hans Heiling (Heiko Trinsinger) liebt ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu. Foto: Thilo Beu

Die Schätze, die schliefen in ewiger Nacht, fördern die Erdgeister in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ ans Licht – den Menschen zum „Heil und Verderben“. Das „schwarze Gold“, das dem Ruhrgebiet fast 200 Jahre lang Reichtum und Elend gebracht hat, versiegt in diesem Jahr: Mit Prosper-Haniel in Bottrop schließt am 21. Dezember 2018 die letzte Steinkohlenzeche. So lag es für das Aalto-Theater nahe, sich mit Marschners romantischer Oper an den vielfältigen Aktivitäten rund um das Ende dieser Ära zu beteiligen.

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Marschner wusste, worüber er Musik schrieb; er erinnerte sich wohl an die Braunkohlenförderung rund um seine Heimatstadt Zittau und den traditionsreichen Bergbau im benachbarten Gebirge.

Regisseur Andreas Baesler und sein Bühnenbildner Harald B. Thor knüpfen daran an: Sie rücken die böhmische Sage vom designierten König der Erdgeister, der auf die Erde flieht, um menschliche Liebe zu erlangen und dabei scheitert, eng an eine Geschichte aus dem Ruhrgebiet. Und decken verblüffende Parallelen auf: Hans Heiling wird zu Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, die Königin der Erdgeister schreitet als perlenbehangene Mutterfigur Bertha Krupp umher.

Zwei gescheiterte Verbindungen

Der Konflikt erinnert an die Heirat Alfrieds mit der geschiedenen Anneliese Lampert im Jahr 1937. Sie mag den Krupp-Erben glücklich gemacht haben, war aber eine Ehe gegen den Willen seiner Eltern. Nach drei Jahren trennte er sich – wohl auf Betreiben der Mutter – von Frau und Sohn, übernahm die Firma, führte aber ein zurückgezogenes, innerlich einsames Leben.

Hans Heiling muss entsetzt erkennen, wie seine mit „rasendem Verlangen“ geliebte Anna ihrem unheimlichen Bräutigam aus einer anderen Sphäre immer fremder wird, sich in der Gesellschaft der einfachen Leute wohler fühlt und schließlich (ihre wahren Gefühle erkennend und unter dem Einfluss der Geisterkönigin und ihres dämonischen Gefolges) Konrad heiratet, einen einfachen Mann aus ihrer Schicht.

Die herrschaftliche Sphäre der Villa Hügel als Reich der Erdgeister, in dem die Königin (Rebecca Teem) ihren Sohn Hans Heiling (Heiko Trinsinger) vom Weg in der Menschenwelt abhalten will. Foto: Thilo Beu

Die herrschaftliche Sphäre der Villa Hügel als Reich der Erdgeister, in dem die Königin (Rebecca Teem) ihren Sohn Hans Heiling (Heiko Trinsinger) vom Weg in der Menschenwelt abhalten will. Foto: Thilo Beu

Bis ins Detail arbeitet das Produktionsteam die Gleichsetzung durch: Gabriele Heimann lässt sich von dem bekannten Familienporträt der Krupps zu nobel-dezenter Nachkriegsmode inspirieren. Der Chor trägt das Gewirk einfacher Leute aus den sechziger Jahren, als sich die Zechenstilllegungen ankündigten, aber in dem im Bild zitierten Essener „Blumenhof“ bei Tanztee und Schnitzeltag das gesellschaftliche Leben florierte.

Der gewaltige vertäfelte Saal der Villa Hügel kontrastiert mit der beengten Stube mit Bett, Kohleherd und Schwarz-Weiß-Fernseher, in der Witwe Gertrud die Rückkehr ihrer Tochter Anna bei nächtlichem Sturm erwartet. Gefeiert wird in einem hohen, schmutzigweißen Raum, wie einst auf großen Zechen als Lohnhallen oder Waschkauen zu finden. Dort spielt auch das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen in schönsten Bergmannsuniformen das Glückauf-Lied.

Das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen wirkt auf der Aalto-Bühne mit. Foto: Thilo Beu

Das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen wirkt auf der Aalto-Bühne mit. Foto: Thilo Beu

Popularmythen des Potts strapaziert

Couleur locale also allenthalben, liebevoll entworfen. Das geht immerhin über die bloße Äußerlichkeit hinaus, wie sie 2008 in Essen in Wagners „Tannhäuser“ von Hans Neuenfels und Reinhard von der Thannen bemüht wurde. Lästig wird’s dann aber, wenn Hans-Günter Papirnik langwierige Dialoge in breiten Ruhri-Slang überträgt und von der Brieftaube bis zum Karnickel alle Popularmythen des Potts bemüht. Zur Sinnfindung tragen derlei biedere Anleihen, wie wir sie aus missglückten Operettenabenden kennen, nichts bei.

Unheimliche Heimeligkeit: Die Wohnung von Annas Mutter Gertrud erinnert an die Verhältnisse im Ruhrgebiet in den Sechziger Jahren. Foto: Thilo Beu

Unheimliche Heimeligkeit: Die Wohnung von Annas Mutter Gertrud erinnert an die Verhältnisse im Ruhrgebiet in den Sechziger Jahren. Foto: Thilo Beu

Auch im ehrgeizig gedachten dramaturgischen Ausbau knirschen die Stempel. Die Bergleute-Metapher funktioniert noch einigermaßen: Unter Tage sind die Arbeiter mit Helm und Grubenlampe die Geister, die ihren König zurückhalten wollen und deshalb gegen die Verbindung mit einem Menschen opponieren. Oben demonstrieren sie mit Spruchband und Schildern gegen Stilllegungen und damit gegen den Krupp-Heiling aus der Oberschicht.

Grenzen der soziologischen Sicht

Aber wenn Anna in der neusachlichen Sechziger-Jahre-Villa ihres noblen Bräutigams im „Zauberbuch“ blättert und maßlos erschrecken soll, aber nur die Vorhänge wehen wie in einem schlechten Gruselfilm; wenn in der von Marschner genial konzipierten Arie „An jenem Tag“ Hans Heiling plötzlich in türkisgrünes Licht getaucht ist, wenn im nächtlichen Park rotes Hilfslicht die Erscheinung der „Geister“ beglaubigen soll, ist sichtbar, wie das Konzept Baeslers an seine Grenzen kommt. Der Konflikt erschöpft sich eben nicht in der Klassen-Herkunft seiner Protagonisten, lässt sich soziologisch nur oberflächlich beschreiben. Eher wäre danach gefragt, die Konstellationen psychologisch zu erschließen oder die romantische Doppelnatur eines Hans Heiling überzeugend zu dechiffrieren.

Noch eins ist schade: Die bemühte Verortung in der Region rückt Marschners allzu selten gespielte Oper in die Ecke einer Ausgrabung, die man gerade mal aus passendem Anlass auf den Spielplan setzen kann. Mitnichten: Schon in den siebziger Jahren haben Aufführungen in Frankfurt, Zürich oder Bielefeld die innovativen musikalischen Errungenschaften Marschners und die dramatische Qualität des Librettos von Eduard Devrient erwiesen. Dass „Hans Heiling“ auf der Bühne selten zu erleben ist – zuletzt am Theater an der Wien und in Regensburg – spricht nicht gegen die Oper, sondern eher gegen routinierte Spielplan-Bastler.

Der Dirigent der Premiere von "Hans Heiling", Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Der Dirigent der Premiere von „Hans Heiling“, Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Frank Beermann und die Essener Philharmoniker machen die Qualität der Musik hörbar – und lassen nebenher erfahren, wie ungeniert sich etwa der Bayreuther Meister Richard Wagner bei Marschner bedient hat, dessen Oper er 1833 brandneu in Würzburg mit einstudiert und den er später in seinen Schriften höhnisch niedergemacht hat.

Dirigent Beermann setzt auf eine aufgehellte, vor allem zu Beginn im Tempo etwas zu rasche Lesart, auf brillant-durchsichtige Bläser und schlanke, manchmal zu wenig betonte Streicher. Aber in Szenen wie dem unerhört expressiven Melodram der Gertrud, in den bedeutenden Arien von Heiling und Anna oder in den auffallend großräumig konzipierten Finali kehrt er die vielgestaltige und farbenreiche Musik heraus und zeigt, dass sich Marschner vor Zeitgenossen nicht verstecken muss.

Bedauerlich, dass der spätere Hannoveraner Hofkapellmeister nie wieder ein so zündendes Libretto gefunden hat: In späteren Jahren beklagt er sich bitter über die Qualität der Opern-„Dichtungen“. Aber über die Qualitäten seiner Musik lässt sich nichts aussagen. Opern wie „Des Falkners Braut“, „Das Schloss am Ätna“ oder „Der Bäbu“ kennt einfach kein Mensch mehr, und die Forschung ist über tradierte Allgemeinplätze auch kaum hinausgekommen.

Bewährtes Ensemble im Einsatz

Das Aalto-Theater setzt bei den Sängern auf sein bewährtes Ensemble und fährt in den meisten Partien gut damit. Heiko Trinsinger fügt mit „Hans Heiling“ seinem breiten Repertoire – das etwa auch Marschners „Vampyr“ umfasst – eine weitere wichtige Bariton-Rolle hinzu. Wirkt die fordernde Höhe anfangs noch etwas erzwungen und fest, steigert sich Trinsinger in der früher noch in Wunschkonzerten und Arienabenden beliebten große Szene „An jenem Tag“ überzeugend, befeuert den brennend schmachtenden Ton des rasend Verliebten, verliert sich in seine Rachefantasien, falls Anna – was später ja auch geschieht – ihm die Treue bräche. Als Darsteller bleibt er in der steifen Rolle des Außenseiters in allen Welten; am Ende bricht er als Entwurzelter zusammen und löst eine Sprengung aus: Im Hintergrund fliegt in historisierendem Schwarz-Weiß ein Zechengebäude in die Luft, stürzen Fördergerüste ein – eine Projektion, die Heilings innere Katastrophe nachzeichnet: Den Wunsch, diese Welt hinter sich zu lassen, die ihm kein Heil, aber bitteres Verderben brachte.

Psychologisches Meisterstück in der Musik

Oft unterschätzt wird die Figur der Anna, die Jessica Muirhead vor Soubretten-Putzigkeit bewahrt. Die Rolle entwickelt sich vom leichten Tonfall der jungen, noch recht naiven Tochter zu den dramatischen Linien einer jungen Frau, die sich und ihrer wahren Gefühle bewusst wird. In der Stimme beglaubigt Muirhead diesen Weg in leuchtendem Ton, in der Gestaltung der Rolle lässt sie die Regie in diesem Punkt eher im Stich. Auch Bettina Ranch als Gertrud erfasst das Spektrum der Figur zwischen den angedeutet buffonesken Zügen der Mutter, die ihrer Tochter die reiche Partie zuschanzen will, und des im Melodram vom Unbewussten ins Erkennen wandernden Schrecken – ein stimmlich einfühlsam nachgezeichnetes psychologisches Meisterstück in Marschners Musik.

Jeffrey Dowd ist über den Konrad längst hinaus: Statt seines reifen Tenors, dem in der Höhe Glanz und Frische fehlt, bräuchte es ein jugendliches Timbre für den Liebhaber und Retter Annas. Rebecca Teem orgelt als Königin der Erdgeister nach schlechter Wagner-Manier – das bedeutet flackernde, bisweilen gewaltsame Tonemission, und eine monochrome tour de force. Teem ist freilich nicht die einzige Sängerin, die mit dieser Partie ihre Probleme hat: Den Typ des dramatischen, aber schlank-beweglichen Soprans mit strahlender Höhe, wie ihn etwa auch Rezia in Webers „Oberon“ fordert, gibt es kaum mehr. Karel Martin Ludvik und Hans-Günter Papirnik stehen ihren Mann an der Seite des forschen Konrad.

Der Opernchor des Aalto-Theaters wirkt in der Szene der Erdgeister anfangs noch dünn und inhomogen – liegt das an der breiten Aufstellung im Hintergrund? –, findet aber schnell seine bewährte Form, für die Jens Bingert als Chordirektor in allen Stilformen einsteht.

Heinrich Marschners Oper „Hans Heiling“ steht bis Juni auf dem Spielplan in Essen. Am 10. März um 19.05 Uhr wird die Aufzeichnung aus dem Aalto-Theater auf Deutschlandradio Kultur übertragen, am 1. April um 20.04 Uhr auf WDR 3. Eine CD-Aufnahme ist geplant.




Kreativer Kopf auf hohlen Füßen: Bedřich Smetanas Oper „Die verkaufte Braut“ in einer fragwürdigen Inszenierung in Essen

Zwischen Realität und Traum: Jessica Muihead (Marie) und der Prinzipal (Rainer Maria Röhr). Foto: Matthias Jung

Zwischen Realität und Traum: Jessica Muihead (Marie) und der Prinzipal
(Rainer Maria Röhr). Foto: Matthias Jung

Na endlich, möchte man erleichtert aufatmen, endlich einmal eine „Verkaufte Braut“ ohne böhmische Gemütlichkeit, ohne Wirtshaus und Bauernkate, ohne Kopfputz und rote Stiefelchen (oder gehören die zur „Gräfin Mariza“?). In Essen ist der wohl bekanntesten tschechischen Oper jeder verlogene Folklorismus ausgetrieben. Und zwar von einem tschechischen Team namens SKUTR, das sich von den wirkmächtigen Konventionen, die Bedřich Smetanas Oper bisher gern eingekastelt haben, ungeahnt konsequent verabschiedet hat.

Das tut dem beliebten Stück zunächst einmal gut. Es zeigt nämlich, dass „Prodaná nevĕsta“ jenseits aller Nationalopern-Ideologie (die tschechische Nationaloper ist eher Smetanas „Libuše“) funktionieren kann. Sie ist nicht an Bildklischees gebunden, die das Stück verorten und zur Kenntlichkeit verdammen.

Martin Chocholoušek baut auf die Bühne des Aalto-Theaters eine Turnhalle, wie sie – so entnimmt man dem Programmheft – in Tschechien in vielen Orten stehen und auch für Dorffeste, Hochzeiten und Kulturveranstaltungen verwendet werden. Und Simona Rybáková steckt Chor und Solisten in Kostüme und Frisuren, die ein wenig sechziger Jahre, ein wenig real existierender Sozialismus und eine Spur Zirkus mit behutsam überzogenen und damit surrealen Formen vereinen. Über allem schwebt, mit magisch leuchtender Brautkrone, ein weißes Hochzeitsgewand.

Im Licht fantastisch-surrealer Literatur

Wer ein bisschen tschechische Literatur oder ein verkanntes Meisterwerk wie Leoš Janáčeks „Die Ausflüge des Herrn Brouček“ kennt, entdeckt in der Inszenierung der beiden SKUTR-Leute Martin Kukučka und Lukaš Trpišovský unschwer die leichthändige Mischung aus verzerrt Realem, hintersinnig blauäugiger Fantastik, wunderlichem Naturalismus und einer als völlig normal akzeptierten Skurrilität. Das lässt die Geschichte der „Braut“ auf einmal in einem anderen Licht erscheinen – und wir verstehen, dass auch Franz Kafka literarische Vorgänger hatte.

Nicht dass Karel Sabinas Libretto, das er mit Smetana zusammen erarbeitet hat, plötzlich höhere dramaturgische Weihen zu beanspruchen hätte – die Handlung bleibt im Bereich einer Komödie, ist mit dem Effekt des „verlorenen Sohnes“ kein bisschen überraschend mehr, streift die Sphären des Tragischen nur sanft, ganz wie es die Konvention vor 150 Jahren zugelassen hat. Aber Kukučka und Trpišovský lesen die heute harmlose Handlung in eine progressive Richtung, und die führt in der Oper in letzter Konsequenz zum surrealen Meisterstück von Bohuslav Martinůs „Julietta“ (ab 3. März 2018 in Wuppertal zu sehen).

Aus fernem Land: Hans (Richard Samek) mit seiner Marie (Jessica Muirhead). Foto; Matthias Jung

Aus fernem Land: Hans (Richard Samek) mit seiner Marie (Jessica Muirhead). Foto; Matthias Jung

Was bringt’s also, auf Bänder und Stiefelchen zu verzichten? Zumindest eine Lektüre des Stücks, die andere Sichtweisen als die des naiv Komödiantischen eröffnet.

Der Auftritt von Hans ist der einer romantischen Erscheinung: Der Frauenchor zieht einen Kasten aus der Wand, darin ein stilisierter Wald und ein Mann, der beinahe wie Lohengrin aus einer unnahbaren Sphäre kommt: der geheimnisvolle Unbekannte. Am Ende – um es vorwegzunehmen – wird Marie in ihrer Hochzeitsgarderobe dorthin fliehen und sich in ein leuchtendes Wolkenmeer betten.

Diese geordnete Welt ist nicht ganz geheuer

Dass die geordnete kleine Welt nicht ganz geheuer ist, wird im dritten Akt überdeutlich: Ein schief gestelltes Häuschen fährt herein, ein riesiges Pauschenpferd im Hintergrund der Bühne wird wie eine Kiste genutzt, aus der Hans wie ein Automat auf- und niederklappt. Das Element des Marionettenhaften durchzieht die Personenführung von Anfang an, etwa wenn die Eltern Maries (Peter Paul und Bettina Ranch) mit mechanischen Bewegungen dem Heiratsvermittler Kezal folgen.

Der Essener Opernchor, einstudiert von Jens Bingert, bewältigte anspruchsvolle Aufgaben, auch szenisch. Foto: Matthias Jung

Der Essener Opernchor, einstudiert von Jens Bingert, bewältigte anspruchsvolle Aufgaben, auch szenisch. Foto: Matthias Jung

Das hat etwas mit Zirkus zu tun – und das Regieteam zitiert die Welt fahrender Artisten, die in Tschechien eine besondere Bedeutung hatte, in Bildern und Auftritten des Chors, eine wunderliche Giraffe eingeschlossen, die wohl für die Zirkustiere stehen mag. Es ist eine Welt der Freiheit, aber auch eine schräg überdrehte Sphäre, wenn etwa der Chor in der Diagonale über die Bühne zieht und Konfettis wirft, als solle ein Can-Can beginnen. Und wenn ein „Indianer“ aus der Truppe im letzten Akt einen Gartenzaun schließt und Friedhofslichter anzündet, wirkt es, als werde die wohlgesetzte dörfliche Bürgerlichkeit endlich zu Grabe getragen.

Verstehens-Horizonte öffnen und schließen sich

Allein: Die Flut der mal sehr klar aufeinander bezogenen, mal im Ungefähr bleibenden Szenen- und Bildsymbolik wird zu wenig konsequent erschlossen, öffnet damit zwar Verstehens-Horizonte, schließt sie aber auch wieder. So reizvoll es ist, aus Hans einen Lohengrin auf dem Dorfe zu machen – wenn der Darsteller, der hartstimmige Tenor Richard Samek, seine Rolle nicht weiter erschließt, ermattet der Ansatz rasch. Oder Marie: Jessica Muirhead hat nicht nur erhebliche Mühe, die Partie kontrolliert und geschmeidig zu singen. Ihr ist auch verwehrt, das Changieren zwischen Traum, Vorstellung und bitterer Realität konsequent auszugestalten.

Befreiung als Bär: Dimitry Ivanchey (Wenzel) mit seiner Esmeralda (Christina Clark). Im Vordergrund Richard Samek (Hans). Foto: Matthias Jung.

Befreiung als Bär: Dimitry Ivanchey (Wenzel) mit seiner Esmeralda (Christina Clark). Im Vordergrund Richard Samek (Hans). Foto: Matthias Jung.

Die Behauptung des Regieteams im Programmheft-Interview, wir Zuschauer nähmen Marie und ihre Gefühle „quasi in ihrem Kopf“ wahr, bleibt eine solche. Sie wird szenisch immer wieder durch eine ratlos wirkende Unmittelbarkeit gebrochen. Dazu reichen die Konfetti und das Potenzial des Bühnenbilds dann doch nicht aus. Und Kezal (Tijl Faveyts) singt seine große Arie mit aufgerauter Stimme auf Tschechisch, bleibt aber der gute alte Komödiant aus der guten alten komischen Oper.

Die Identität als Bär behaupten

Nur Dmitry Ivanchey als Wenzel genießt die Gunst, sich zum anrührend gestalteten Charakter zu entwickeln. Wenn er, am Rand hockend, in sich gekauert, mit seinem Stottern kämpft, wenn er sich bei den Zirkusleuten endlich aus sich selbst befreien kann, seine Identität als Bär gegen den Spott der Gesellschaft fröhlich behauptet und mit seiner Esmeralda – der wie stets quirlig-lockeren Christina Clark – durchbrennt, dann erleben wir, dass es im Theater allemal lohnend ist, die Persönlichkeiten kraftvoll und konsequent durchzuzeichnen.

Tomás Netopil ist seit 2013 Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Tomás Netopil ist seit 2013 Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Eine Aalto-Premiere mit vielen bedenkenswerten Ansätzen also, die auf sicheren Füßen zu stehen scheint. Klopft man allerdings dagegen, klingt’s hohl. Ganz und gar erfüllt dagegen setzen Tomáš Netopil und die Essener Philharmoniker Smetanas Musik präsent.

In der beinahe zu rasch genommenen Ouvertüre streben die „vivacissimo“ und non legato notierten Achtelketten spitz und präzis dem ersten Fortissimo-Haltepunkt entgegen. Da klingt wenig böhmisch-triefender Geigensirup, sondern federleichte, spritzige Beweglichkeit. Da dürfen die Bläser herrlich frei leuchten. Da springt der Rhythmus fröhlich diesseitig in die Höhe und winden und schlingen sich die Melodien frisch und frech akzentuiert.

Und selbst wenn Smetana hie und da zu Wagner schielt, bleibt in Netopils hellwacher Lektüre die Musik immer schlank und lauter. Musikalisch hat sich die „tschechische“ Linie, die der GMD am Aalto-Theater durchzieht, glänzend bewährt und macht Lust auf Fortsetzung, ob mit einem der weniger bekannten Werke Smetanas oder mit Kostbarkeiten von Leoš Janáček, Bohuslav Foerster oder Zdenĕk Fibich. Zu entdecken gäb’s noch viel!

Weitere Vorstellungen am 16. und 22. Dezember sowie am 14. und 18. Januar 2018. Info: www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-verkaufte-braut.htm

 




Wunderbare Ausdrucks-Vielfalt: Tomáš Netopil dirigiert Mozarts „La Clemenza di Tito“ am Aalto-Theater Essen

Erregte Auseinandersetzung zwischen Sesto (Bettina Ranch, links) und Vitellia (Jessica Muirhead). Foto: Thilo Beu

Erregte Auseinandersetzung zwischen Sesto (Bettina Ranch, links) und Vitellia (Jessica Muirhead). Foto: Thilo Beu

Die Bewertung von Wolfgang Amadeus Mozarts „La Clemenza di Tito“ hat sich grundlegend gewandelt. Die Rezeption der in Mozarts Todesjahr 1791 uraufgeführten Oper hat in den letzten Jahrzehnten freigelegt, dass es sich nicht um ein widerwillig ausgeführtes Auftragswerk mit einem hoffnungslos veralteten Libretto handelt. Vielmehr haben Mozart und sein Librettist Caterino Tommaso Mazzolà die häufig vertonte Vorlage Pietro Metastasios zu einem erstaunlich differenzierten Stück über Menschlichkeit und Macht weiterentwickelt, dessen Offenheit für zeitgenössische Deutungen den Vergleich mit der „Hochzeit des Figaro“ oder „Cosí fan tutte“ nicht zu scheuen braucht.

Am Aalto-Theater in Essen ließ sich Tomáš Netopil nicht nehmen, diese letzte Premiere der Spielzeit 2016/17 selbst zu dirigieren und nach „Don Giovanni“, „Idomeneo“ und „Le Nozze di Figaro“ seinem Mozart-Spektrum eine neue Farbe hinzuzufügen. Mit fabelhaftem Erfolg: Netopil schwört die Essener Philharmoniker auf ein zurückhaltendes, transparentes, vielfältig aufgefächertes Piano-Klangbild ein, das den Sängern jeden Raum gewährt, sich zu entfalten, aber nicht verhehlt, welche entscheidende Rolle dem Orchester auch in dieser Mozart-Oper zukommt.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Bei Netopil wirken – von dieser Voraussetzung ausgehend – die Forte-Passagen auch wirklich groß, ohne lärmend zu werden, die Akzente und musikalische Ausrufezeichen markant, aber nie brutal. Die Streicher halten sich im Vibrato zurück, entwickeln expressive Klangnuancen zwischen warm-farbig und fahl-wesenlos.

Die Bläser erfüllen Akkorde plastisch und luftig, wirken in selbständigen Stimmen Wunder aus diskreter Geschmeidigkeit. Johannes Schittler und Tristan von den Driesch lassen Klarinette und Bassetthorn mit eleganter Tongebung springen und singen. Und eine Klasse für sich zeigt Boris Gurevich beim Begleiten der Rezitative am Hammerflügel: So mitatmend, flexibel und sinngebend hört man die begleitenden Figürchen, Arpeggien und Stützakkorde aus der „Schülerhand“ – wahrscheinlich Franz Xaver Sußmayr – nicht eben häufig.

Abstand vom Geschwindigkeitswahn

Netopil erliegt nicht dem Geschwindigkeitswahn, der momentan wieder von gewissen Modedirigenten angeheizt wird. Seine Tempi wirken organisch, lassen nie den Eindruck von Hetzerei aufkommen, geben der Musik den Raum, um Nuancen zu entwickeln. Netopil weiß offenbar die Polarität zwischen der Musik als „absoluter“ Größe und als Partnerin der Sprache einzuschätzen: Er gestaltet mit den Mitteln fein variierter Tempi und eines gelösten Metrums. Wenn die Rede von einem Mozart-Wunder nicht so elend abgegriffen wäre – hier könnte man sie mit Recht verwenden.

Abgelebte Metapher, aber geshicktes Raumkonzept: Der Airport in Mozarts "La Clemenza di Tito" in Essen. Foto: Thilo Beu

Abgelebte Metapher, aber geschicktes Raumkonzept: der Airport in Mozarts „La Clemenza di Tito“ in Essen. Foto: Thilo Beu

Die Sänger fühlen sich offenbar wohl, selbst wenn man sich die eine oder andere Phrasierung Netopils atmender vorstellen könnte. Das Essener Ensemble braucht sich nicht zu verstecken; Dmitry Ivanchey glänzt in der Titelrolle mit einem unerschütterlich fokussierten Tenor, der anfangs etwas festgesungen anmutet, sich aber bald als wendig und agil genug erweist, um Titus aus der farblosen Rolle als Abziehbild herrscherlicher Tugenden für Kaiser Leopold II. zu lösen – zu dessen Krönung als König von Böhmen die Oper uraufgeführt wurde – und zu einem idealistisch denkenden, aber anfechtbaren und verletzlichen Menschen zu machen.

Jessica Muirhead legt als Vitellia die äußerliche Brillanz in die Stimme, die ihr entschiedenes, aggressiv geladenes Auftreten als Gegenspielerin des Kaisers beglaubigt. Doch Mozart erschöpft diese starke Frau nicht in den eindimensionalen Zügen einer gerissenen Furie, sondern gewährt ihr im zweiten Akt in ihrem anspruchsvollen Rezitativ („Ecco il punto, o Vitellia“) und Rondo („Non piu di fiori“) eine erstaunlich modern wirkende Selbstanalyse und den Ausdruck einer seelischen Tiefe, die nicht nur Macht und Intrige, sondern auch Sehnsucht nach menschlicher Nähe und nach Liebe kennt.

Bettina Ranch als Sesto. Foto: Thilo Beu

Bettina Ranch als Sesto. Foto: Thilo Beu

Bettina Ranch singt den Sesto, diesen sich zwischen Zuneigung, Schuld, Freundschaft und (sexueller) Hörigkeit zerquälenden Charakter, mit einem schmelzenden Mezzo, ausgeglichen und klangsinnlich geführt, fähig zu schmerzvoller Innigkeit und zu loderndem Ausbruch. Eine Mozart-Stimme, die kaum einen Wunsch offen lässt – so wie auch der klare, sauber geführte Bassbariton von Baurzhan Anderzhanov als Publio.

Christina Clark als Servilia und Liliana de Sousa als Annio schließen an dieses Niveau an: Beide singen frei, unangestrengt und mit bezauberndem Charme. Der Essener Opern- und Extrachor, einstudiert von Jens Bingert, zeigt im Schlusschor des ersten Akts, wie Mozart über Gluck hinaus schon das edle Pathos anschlägt, das Giovanni Simone Mayr in Italien und Luigi Cherubini in Frankreich weiterführen sollten.

Dass die szenische Seite der Essener Neuproduktion von „La Clemenza di Tito“ der musikalischen nicht gleichziehen konnte, ist vor allem auf die Idee zurückzuführen, als Schauplatz eine VIP-Lounge eines Flughafens zu wählen. Thorsten Macht setzt das „Raumkonzept“ des Regisseurs Frédéric Buhr um und stellt das Ambiente standardisierter Bussiness-Zweckmäßigkeit geschickt auf die Bühne: zwei Ebenen, verbunden durch eine zentrale Freitreppe, eine Bar und eine Sitzgruppe in den Nischen, ein Panoramafenster mit Aussicht auf das Terminal als Hintergrund.

Kein Staat mit alten Römern

Reichlich Spiel-Raum für Frédéric Buhrs erste selbständige Regiearbeit also. Er macht uns auch schon in der Ouvertüre überdeutlich, dass mit der alten Römer-Oper kein Staat mehr zu machen ist: Da sitzt ein gelangweilter Darsteller im Legionärskostüm am Bühnenrand, schaut genervt auf die Uhr und zündet sich eine der im Plastikhelm versteckten Kippen an. Warum ihn dann aber irgendwelche Kumpels in Alltagsklamotten in einer Art Polonaise hinausgeleiten, erklärt sich schon nicht mehr so einfach.

Dmitry Ivanchey als Titus, im Hintergrund Baurzhan Anderzhanov (Publio) und Liliana de Sousa (Annio). Foto: Thilo Beu

Dmitry Ivanchey als Titus, im Hintergrund Baurzhan Anderzhanov (Publio) und Liliana de Sousa (Annio). Foto: Thilo Beu

Alles weitere spielt sich im Airport-Ambiente ab: Vitellia, in aggressiv rotem Kostüm, hat noch eine Rechnung mit dem milden Titus offen und nötigt den ihr verfallenen Sesto, einen graumausigen Funktionär mit Hornbrille und linkischen Bewegungen, als Instrument ihrer Rache zu dienen.

Titus und seine Entourage wirken wie südländische Politiker mit der Anmutung gegelter Mafiosi – die Kostüme von Regina Weilhart sagen mehr über die Personen als die immer wieder ins Stereotyp flüchtende Regie. Sesto lässt sich auf einen Brandanschlag aufs Kapitol und einen – scheiternden – Mordversuch ein. Da rumst es gewaltig hinter der Bühne, die Anzeigetafeln flackern und der Mörtel rieselt von der Decke. Die Wirkung freilich ist flau; seibst die Hostessen der Statisterie wirken nicht besonders beeindruckt. Die Flughafen-Metapher hat ihr kreatives Potenzial längst hinter sich, wirkt abgelebt – und Buhr kann szenisch nicht erschließen, was sie für das Stück bedeuten könnte.

Das ist schade, denn der Regieassistent am Aalto-Theater hätte das Zeug dazu, ein spannendes Kammerspiel zu erarbeiten. Das zeigt sich in Szenen, in denen er seinen Figuren wirklich nahe kommt: Vitellia etwa, die am Ende des zweiten Akts von Rot auf beruhigtes Blau wechselt, aber die flammenden Gelb-Rot-Töne unter dem eleganten Frack nicht verloren hat, punktet nicht zuletzt durch die Regie in ihrer großen Szene.

„Was wird man von mir sagen?“, fragt Vitallia sich und beginnt sich hektisch zu schminken, eine intuitive Reaktion einer auf Außenwirkung bedachten Frau, die befürchtet, nun aufzufliegen oder auf immer mit Verstellung und Lüge an der Seite des begehrten und endlich in greifbare Nähe gerückten Kaisers leben zu müssen. Ihren Entschluss zu radikaler Ehrlichkeit unterstreicht sie, als sie am Ende ihres Rondos die Handtasche ausleert und angewidert wegwirft. Buhr weiß, Zeichen en détail zu setzen. Das rettet einen Abend, der sonst an seiner verkrampften Aktualisierung erstickt wäre.

http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/titus-la-clemenza-di-tito.htm




Raum für das Wunder: Wagners „Lohengrin“ fasziniert am Aalto Theater Essen

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Der Zusammenbruch ist vollkommen. Elsa, entleibt im blutigen Hochzeitsgewand, Ortrud, weinend über dem Sarg des toten Telramund. Der Herzog von Brabant, ein blindes Kind, das in einer Uniform über die Bühne torkelt. Der Rückzug Lohengrins ist nicht das Ende eines wundersam romantischen Liebesmärchens, sondern die Katastrophe einer haltlos zurückgelassenen Gesellschaft. Was da bleibt, ist der Krieg: Ein Bischof in vollem Ornat segnet die Soldaten König Heinrichs, lässt sie von Messdienern beweihräuchern. Wo die wahre Transzendenz verbannt ist, macht sich die falsche breit.

Tatjana Gürbaca hat am Aalto Theater Essen Richard Wagners „Lohengrin“ in einer klugen, komplexen Regie an die Gegenwart angenähert, ohne die Deutungswege der letzten Jahre weiter auszutreten, aber auch ohne in die Extreme verstiegenen Überbaus zu flüchten oder das Heil in der Rückkehr zu Opulenz und Konvention zu suchen. Das ist bei einem permanent über-inszenierten Komponisten wie Wagner ein Kunststück. Gürbaca liest also das Märchen vom gescheiterten Schwanenritter nicht als Künstlerdrama – wie es Äußerungen Wagners nahelegen –, sie inszeniert keine bloß politische Parabel, sondern sie versucht, dem „Wunder“ Raum, Sinn und Deutung zu geben.

Ein Vorhaben, das bei einer konsequent säkularisierten Sicht auf Wagners rätselvolle Oper kaum durchzuhalten ist. Der Einbruch einer metaphysischen Sphäre in die Welt der Brabanter ist so fundamental für das Stück, dass weder die tapfere Negation noch die Reduktion auf den – durchaus vorhandenen – Aspekt einer charismatischen Politik tragfähig sind. Wagner selbst beschrieb „Lohengrin“ als Berührung einer übersinnlichen Erscheinung mit der menschlichen Natur. Ohne diesen Aspekt ist etwa der Sinn des Frageverbots nicht erschließbar.

Mit unglaublicher Präzision gespielter Kind-Schwan

Gürbacas Bühnenbildner Marc Weeger baut ein beängstigend enges Gebilde ins Zentrum der Bühne, eine weiß strahlende Treppe, begrenzt von hohen Wänden, viel zu eng für die Massen, die sich auf den Stufen drängen und formieren. Lohengrins Erscheinen vollzieht sich unspektakulär. Er ist ein Mensch wie alle, den Silke Willrett in Mantel und Hut steckt und damit an die unbehausten dämonischen Figuren der romantischen Oper wie Marschners Hans Heiling oder Wagners Holländer erinnert. Ihm wird ein Kind von oben herab zugereicht, das als „Schwan“ erklärt wird. Telramund und Ortrud sind die einzigen, die sich aus dieser begrenzten Sphäre herausbegeben – auch das schon ein signifikantes Detail. Telramund fällt, als der Kleine einen Arm hebt: Die transzendente Macht, die Lohengrin begleitet, bewirkt sein Verderben.

"Lohengrin" in Essen: Jessica Muirhead (Elsa) und Aron Gergely (Der Schwan). Foto: Forster

„Lohengrin“ in Essen: Jessica Muirhead (Elsa) und Aron Gergely (Der Schwan). Foto: Forster

Mit diesem Kind-Schwan, von Aron Gergely mit unglaublicher Präzision gespielt, holt Gürbaca das „Wunderbare“ sinnlich in das Stück, zeigt sein Wirken, die eng mit der Person Lohengrins verbunden ist, aber sich nicht völlig mit ihm identifizieren lässt. Während Elsa und die Menge den Sieg bejubeln, klettert der Kleine nach oben und geht unbeachtet ab.

Den zweiten Aufzug inszeniert Gürbaca als eine subtile Studie über die Psychologie von Macht und Abhängigkeit, beginnend mit dem grellen Licht, das auf Ortrud fällt, während das Orchester in dunkel-fahlen Holzbläserfarben mit Quinte, Tritonus und der Paralleltonart fis-Moll das reine A-Dur der Gralssphäre in Frage stellt. Und gipfelnd in der Aktion Telramunds, der die beengte Bühnenskulptur aufdrückt und den verwundert staunenden Menschen das weite, unergründliche Schwarz des Raums öffnet. Telramund, der nicht versteht, was da in seine rational geordnete, schlüssige Weltsicht eingebrochen ist, packt das Kind, schüttelt es so verzweifelt, als wolle er die Antwort aus dem Körperchen herauszwingen. Aber der Kleine geht zu Lohengrin, der den Zweifel noch einmal besiegen kann.

Im dritten Aufzug wird das nicht mehr möglich sein: Gürbaca macht die Unvereinbarkeit der Welten des Grals und des Herzogtums Brabant, des Göttlichen und des Irdischen, oder – so Wagner – des Wunders und der Liebe sinnlich greifbar. Lohengrin kann die Frage nach „Nam‘ und Art“ nicht zulassen, denn das Metaphysische, das er repräsentiert, wäre mit keiner Sprache jemals umfassend und damit wahr zu beschreiben – es entzieht sich dem definierenden Wort. Elsa aber muss die Frage stellen, will sie die Liebe ernst nehmen, die – auch hier sei Wagner zitiert – nach Erkenntnis strebt und das Wesen des Geliebten ergründen will.

Diese tragische Unvereinbarkeit darzustellen, gelingt Gürbaca eindrucksvoll. Wenn Lohengrin sich Elsa zuwendet – zum ersten Mal allein! –, legt er das Kind am oberen Rand der Stufen des weißen Raumes ab. Aber der „Schwan“ warnt, als sich Elsa und Lohengrin zur ersten Umarmung nahekommen, wälzt sich von Stufe zu Stufe auf Elsa zu.

Die Interaktion des Paares ist ständig auf den Bezugspunkt dieses lebendigen Symbols des Wunderbaren bezogen – und als die verhängnisvolle Frage gestellt ist, streckt der Kleine den Arm aus („Der Schwan, der Schwan!“), nimmt Lohengrin an der Hand – und der Raum dreht sich: eine riesige, schwarze Treppe mit viel zu hohen Stufen, verbaut mit Baumstämmen, als sei ein Scheiterhaufen zu errichten. Ein bezwingendes Bild trostlosen Zusammenbruchs.

Detaillierte und vielschichtige Personenführung

Gürbacas Regie überzeugt nicht nur auf dieser Ebene metaphorischer Darstellung; die Regisseurin löst auch den Anspruch an eine detaillierte, vielschichtige Personenführung ein, der die meisten ihrer bisherigen Arbeiten – auch die nicht so gelungenen – ausgezeichnet hat. Die Ortrud von Katrin Kapplusch etwa ist kein wildes Biest, sondern eine zunächst rational abwägende, sich dann in ihre politische Vision steigernde Frau, die am Ende erkennt, dass der Rückzug Lohengrins die Katastrophe schlechthin ist und einen Moment rührender Solidarität mit Elsa zeigt. Heiko Trinsinger gebärdet sich desto gewalttätiger, je schmerzhafter er seine eigene Ohnmacht erfährt, gespeist aus einem fast schon tragischen Nichtverstehen, das ihm die Sphäre Lohengrins verschließt.

Eindrucksvolle Darsteller: Heiko Trinsinger (Telramund) und Katrin Kapplusch (Ortrud). Foto: Forster

Eindrucksvolle Darsteller: Heiko Trinsinger (Telramund) und Katrin Kapplusch (Ortrud). Foto: Forster

Mit Jessica Muirhead hat das Aalto Ensemble eine Elsa in seinen Reihen, die sich darstellerisch die Rolle nahezu ideal erarbeitet hat: Vom verschüchterten Opfer eines undurchschaubaren Verhängnisses bis zur selbstbewusst fragenden Liebenden und zur hoffnungslos gestrandeten Existenz überzeugt ihr Spiel, ihre Erscheinung, ihre Körpersprache. Ihr kristalliner Sopran betont die mädchenhaften Züge der Figur, zeigt sich klangschön von der besten Seite, wo helles Piano und sanftes Mezzoforte gefragt ist. Die dramatischeren Momente des zweiten und dritten Akts lassen den schlanken Ton bisweilen eng werden. Die Stimme ist an ihre Grenze geführt, wird aber nicht überfordert.

Katrin Kapplusch punktet als Ortrud, wo sie die Klänge des Schmeichlerischen, des Höhnischen, aber auch den Tonfall lapidarer Grausamkeit und intellektueller Schärfe trifft. „Entweihte Götter“ wirkt nicht durch die Wucht einer großen Stimme, sondern durch den aggressiv-gefährlichen Ton, in den Kapplusch diese Paradestelle kleidet. Eine durch und durch fesselnde Gestaltung.

Heiko Trinsinger dagegen hat die vokale Wucht, um Wut und Verzweiflung des Telramund herauszuschleudern. Manchmal geschieht das mit viel Druck, den einzusetzen der Sänger nicht nötig hätte. Sobald die Töne frei gebildet werden, tragen sie die ausgezeichnete Artikulation, die jedem Wort Gewicht und Ausdruck gibt.

Almas Svilpa porträtiert den König Heinrich mit einem untrüglichen Bass-Fundament einen in seinem ehrlichen Bemühen nicht unsympathischen König; Martijn Cornet stößt als Heerrufer an deutliche Grenzen. Daniel Johansson als Lohengrin schafft den Spagat zwischen lyrischer Noblesse und dramatischer Attacke; er singt mit konzentriertem, stets sauber geführtem Ton, auch in der Gralserzählung mit abgesicherten Piani. Vor allem ist er auch ein Darsteller, bei dem stimmliche Expressivität und szenische Aktion korrespondieren.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, überzeugt mit Wagners "Lohengrin". Foto: Hamza Saad

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, überzeugt mit Wagners „Lohengrin“. Foto: Hamza Saad

Was Tomáš Netopil und die Essener Philharmoniker leisten, könnte man ein unfassbar hehres Wunder nennen – aber die Beschreibung hinkt, weil dieser „Lohengrin“ auf ein Niveau aufsetzt, das sich immer wieder als zuverlässig und stabil erweist.

Das Orchester meistert jede Hürde mit großer Klasse, die Streicher sind in den offenen Stellen ganz bei sich, die Holzbläser haben bezaubernde Momente en masse, das Blech trägt nie dick auf oder drängt sich vor. Netopil zaubert das Vorspiel wie eine Vision reinsten Klangs ohne räumliche Verortung, erfasst aber auch, wie sich der Klang in Rhythmus und Melodie verdichtet, tariert das allmählich wachsenden Crescendo mit Gespür für die Innenspannung aus. Das Vorspiel zum dritten Aufzug hat Energie und Leuchtkraft, ohne zu schmettern.

Netopil trägt auch die Sänger, erstickt sie nie im Klang und kann so die Subtilitäten von Wagners Partitur darstellen, ohne auf der anderen Seite Glanz und Pracht zu verraten. Das war Orchesterglück auf Spitzenniveau – und Essen hat damit klar gemacht, dass sich andere Opernhäuser der Region durchaus strecken müssen, um da mitzuhalten.

Nicht zu vergessen ist der Chor von Jens Bingert, überzeugend nicht nur in Momenten treffsicherer Präzision, sondern auch in einer differenziert ausgehörten Staffelung des Klangs und in der Vielfalt dynamischer Nuancen.

Mit diesem „Lohengrin“ hat Essen nach dem „Parsifal“-Fehlschlag am Ende der Ära Soltesz wieder einen Wagner im Repertoire, der szenisch wie musikalisch keinen Vergleich zu scheuen braucht.

Die nächsten Vorstellungen: 7. und 11. Januar, 26. März, 1.April 2017. Info: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/lohengrin.htm

Das Aalto-Theater hat ein Wagner-Spezial-Abo aufgelegt: Zum Gesamtpreis von 50 Euro können die Vorstellungen am 25. Februar (Tristan und Isolde) und 1. April 2017 (Lohengrin), jeweils um 18 Uhr, besucht werden. Erhältlich ist das Abo unter Tel.: (0201) 81 22 200.

Nächste Premiere einer „Lohengrin“-Inszenierung in der Region: Samstag, 15. April 2017, im Theater Krefeld. http://www.theater-kr-mg.de/spielplan/inszenierung/lohengrin/.