Beklemmendes Nachdenken: Concerto Köln und Joachim Król zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren

Flotte Märsche klingen durch das Foyer der Philharmonie Essen. Das Concerto Köln intoniert Joseph Haydns „March for the Prince of Wales“, danach zwei Märsche für das Derbyshire Cavalry Regiment und einen „Ungarischen Nationalmarsch“. Fröhliches Dur, die Zuhörer wippen im Takt mit. Man hat viel getan, um den Menschen im 18. Jahrhundert den Krieg schmackhaft zu machen, damals, als in manchen deutschen Territorien junge Männer verkauft wurden, um für andere Potentaten ins Scharmützel zu ziehen.

Joachim Król las in der Philharmonie Essen. Foto: Emanuela Danielewicz

Joachim Król las in der Philharmonie Essen. Foto: Emanuela Danielewicz

Übermütig ging’s auch anno 1914 zu, als die Männer Europas in den Krieg zogen. Sie hielten den Krieg für ein Abenteuer. Den Gesichtern auf den über das Podium projizierten seltenen Farbfotos aus der Sammlung Reinhard Schultz ist es abzulesen. Die schneidigen Burschen in buntem, blinkendem Waffenrock lockten die jungen Frauen. Jaja, der „Zauber der Montur“.

Nichts von all der Kriegsfolklore war wahr. Schon vor 500 Jahren nicht. Auf der Bühne des Großen Saales las Joachim Król, was Erasmus von Rotterdam zum Krieg geschrieben hatte. „Wer ihn erfahren hat, schaudert allein bei der Vorstellung über die Maßen“. Dazu wird das Luftbild Essens in herbstlicher Sonne überblendet vom Blick auf die Ruinenlandschaft 1945. „Über Wunden“ hieß dieses Gedenkkonzert zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Hier waren zunächst nur die Wunden im Stadbild zu erkennen. Dachlose Häuser, hohl wie verfaulte Zähne, klaffende Löcher in Straßenzügen.

Die 90 Minuten Programm – eine Mischung aus Lesung und Konzert – hatten Ilka Seifert und Folkert Uhde zusammengestellt. Die Betroffenheit sollte ein Gesicht bekommen: Verarbeitet wurden nicht nur literarische Texte wie aus dem bekannten Anti-Kriegs-Roman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, sondern vor allem Erinnerungen, die in den Familien der Musikerinnen und Musiker des Concerto Köln weitergegeben wurden. Aus aller Herren Ländern kommen sie, und kaum jemand war nicht vom Schlachten und Morden der beiden Weltkriege betroffen. Manches haben wir Europäer gar nicht im Blick: Etwa die Gräuel im japanisch-chinesischen Krieg, die Vorfahren einer japanischen Musikerin erlitten.

Bombenwetter, Schusslinie und Marschrichtung

Dass es den lustigen Operettenkrieg der Propaganda nie gegeben hat, brachte Król seinen betroffen stillen Zuhörern mit diesen Texten aus Familien-Erinnerungen nahe. Es schnürt die Kehle zu, wenn die Großmutter einer Geigerin einen Brief mit wundervoll liebenden Worten an ihren Mann im Felde richtet. Er hat ihn nie gelesen, denn er war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Das Schreiben kam zurück – ohne Vorwarnung. Mit dem zynisch beschönigenden Vermerk „gefallen für Großdeutschland“.

Bis heute sind die Spuren des „Jahrhunderts der Grausamkeiten“ präsent, zum Beispiel in der Sprache: Wer weiß schon, was er sagt, wenn er von einem „Bombenwetter“ spricht? Nehmen wir einen Politiker „aus der Schusslinie“ oder geben wir die „Marschrichtung“ vor? Wir sind groß geworden mit solchen Begriffen, deren wahre Bedeutung nicht mehr bewusst ist.

Der Abend am Volkstrauertag war eher eine Zeit beklemmenden Nachdenkens als ein Konzert. Die Musik mit dem wie stets untadelig aufspielenden Concerto Köln war ernst und gesammelt: Eine Fantasie Henry Purcells über John Taverners damals beliebtes „In nomine“-Thema, ein kaum bekannter düsterer Triumphmarsch Beethovens zum noch unbekannteren Schauspiel „Tarpeja“, dazu die Stimme Kaiser Wilhelms II. mit der verlogenen Ankündigung des Waffengangs 1914.

Ein tragischer Zug klingt in der Ouvertüre zu Mozarts „La Clemenza di Tito“, und die wundervolle Perfektion der „Jupiter“-Sinfonie KV 551 klingt zu einem solchen Anlass geradezu schmerzend schön. Ob das alles reicht, immer wieder vor dem Verderben des Krieges zu warnen? Man muss es hoffen, auch wenn die lebenden Generationen das Inferno nur aus Games, Hollywood-Filmen und Schwarzweiß-Dokus kennen. Ob wir kapieren, welch unverschämtes Glück wir mit 73 Jahren Frieden haben?




Fußball im edlen Frack – Experiment der RuhrTriennale: Oratorium „Die Tiefe des Raumes“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Wer wollte bestreiten, dass der Fußball rituelle und mythische, ja quasi religiöse und liturgische Anteile hat? Da liegt es vielleicht doch nahe, diesem phänomenalen Sport ein ehrwürdiges Oratorium zu widmen. Die RuhrTriennale probiert’s mit der in Bochum uraufgeführten Kreation „Die Tiefe des Raumes“.

Wenn hier die Mannschaftsaufstellung verkündet wird, klingt es fast, als riefen Posaunen zum Jüngsten Gericht. Der mit blauweißen bzw. schwarzgelben Schals angetretene, zuweilen ausgelassen tobende TriennaleChor (48 Damen und Herren verkörpern 60 000 Fans) antwortet auf die Vorgabe „Oliver“ mit Donnerhall: „Kaaaaahn“! Dazu lässt Dirigent Steven Sloane die sturmstarken Bochumer Symphoniker zu apokalyptischer Klangmacht anwachsen.

Das Spiel mit der komischen Fallhöhe

Es darf gefeixt werden. Derlei komische Fallhöhe zwischen Thema und Instrumentierung wird sich an diesem Abend häufig ergeben. Es ist ja ein Heidenspaß. Doch irgendwann fragt man sich, ob dem Fußball dieser edle Frack überhaupt passt. Soll das Kicken nachhaltig nobilitiert werden? Oder lässt man sich gnädig-gönnerhaft dazu herab? Ist diese Schöpfung gar blasphemisch, weil sie eine religiös geprägte Form profan ausbeutet? Nun, so päpstlich sollte man nicht denken.

Erzählt wird die Geschichte eines 17-jährigen Spielertalents (Corby Welch, Tenor): Er schwankt zwischen „Tugend“ (Claudia Barainsky, Sopran) und „Laster“ (Ursula Hesse von den Steinen, Mezzosopran). Wird er nach ersten Erfolgen nur noch hinterhältig nach Geld und Weibern gieren, oder wird er dem wunderbar zweckfreien Spiel huldigen, wie es dem Menschen seit Anbeginn der Zeiten gemäß ist? Ein paar Lebensjahre hinzu gerechnet, denkt man dabei jetzt vor allem an Kölns Nationalstürmer Lukas Podolski. Er soll bei der Genese dieses Oratoriums gleichsam Pate gestanden haben: Tonsetzer und Textautor haben angeblich diskutiert, ob es sich bei ihm um eine „Erlöserfigur“ im biblischen Sinne handele…

Doch ein erzählerischer Kern schält sich nicht so klar heraus in dieser Aufführung, die fußballgerecht zweimal 45 Minuten plus 8 Minuten (!) Nachspielzeit dauert und mit dem legendären Resultat 3:2 endet. Es fehlt ein kräftiger roter Faden. Ohne Programmheft (mit komplettem Libretto-Text) haben Zuschauer bei dieser gestisch nur sparsam akzentuierten Nummernfolge kaum eine Chance. Die überfrachtete Story (Autor: Schalke-Fan Michael Klaus) verirrt sich auf ebenso viele Nebenwege wie die Musik (Komponist: Bayern-Anhänger Moritz Eggert).

Wenn die Abseitsregel gesungen wird

Der Text sammelt allerlei Vorfälle aus dem Umkreis eines Fußballspiels ein – bis hin zur gesungenen Erläuterung der Abseitsregel. Zudem wollen drei prominente Rezitatoren als Trainer, Radioreporter und Alt-Internationaler mitmischen: Doch Joachim Król, Christoph Bantzer und Peter Lohmever (Film „Das Wunder von Bern“) dringen mit ihren Sprechstimmen manchmal kaum durch.

Die Musik ist vollends eklektisch. Sie nimmt – mit imponierendem Kunstverstand – ihre Impulse von überall her und begreift alles als Spielmaterial, beileibe nicht nur Schlachtgesänge aus der Stadionkurve. Der hehre Duktus eines barocken Oratoriums (Gipfel ist eine „Hymne an den Ball“) wird in dieser Collage vielfach (post)modernistisch und ironisch gebrochen. Es gellen die Schiri-Pfeifen und Siegesfanfaren à la Verdi dazwischen, oder man wiegt sich auch schon mal in schlagerseligen Rhythmen undskandiert feinsinnige Weisheiten: „Nichts ist scheißer als Platz zwei.“

Meist steigert sich das Orchester aus lyrisch leisen Kapitel-Anfängen in ein anschwellendes Breitwand-Pathos, das freilich immer wieder in den tonalen Zusammensturz getrieben wird. Man ist schließlich avanciert.

Innenminister Otto Schily hat’s kürzlich bei der Vorstellung der WM-Kulturprojekte geahnt: „Die Tiefe des Raumes“ werde sich dem durchschnittlichen Fußballfan nicht leicht erschließen. Tatsächlich behält dieses interessante Experiment eine Zwittergestalt. Auf dem grünen Rasen geht’s drauf und dran. Auf kulturellem Spielfeld aber zählen Zwischentöne. Insofern ist es ein exemplarisches Projekt, das solche Distanzen spürbar werden lässt. Doch damit wird bestimmt keine neue Gattung begründet.

• Weitere Aufführung in der Bochumer Jahrhunderthalle: 18. Sept. (20 Uhr). Karten  0700/2002 3456. www.ruhrtriennale.de