„Platz des europäischen Versprechens“ – Jochen Gerz‘ Konzeptkunstwerk wird in Bochum eröffnet

Die Idee von Europa steht mehr denn je auf dem Prüfstand. Gastautorin Isabelle Reiff über Jochen Gerz‘ Konzeptkunstwerk „Platz des europäischen Versprechens“, das nach rund zehn Jahren Vorbereitung am kommenden Freitag in Bochum eröffnet werden soll – offenbar genau zur rechten Zeit.

Erst der drohende Grexit, jetzt Flüchtlingskrise und Terroralarm. Eine harte Bewährungsprobe für Europas Selbstverständnis: Machen wir die Grenzen dicht, aber TTIP & Co. klar? Oder beziehen wir Stellung gegenüber den USA und tragen Verantwortung als Mitverursacher der Konflikte im Nahen Osten?

„Die Teilung der Welt in Künstler und Betrachter gefährdet die Demokratie“, sagt der Konzeptkünstler Jochen Gerz; ebenso wie die Teilung in Regierung und Regierte.

Jochen Gerz: Platz des europäischen Versprechens (2004-2015), Bochum. (© Jochen Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2015. Courtesy: Gerz studio, www.jochengerz.eu. Foto: Ayla Wessel, Bochum)

Jochen Gerz: „Platz des europäischen Versprechens (2004-2015), Bochum. (© Jochen Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2015. Courtesy: Gerz studio, www.jochengerz.eu. Foto: Ayla Wessel, Bochum)

Könnte es einen passenderen Zeitpunkt geben, um einen Ort einzuweihen, der „Platz des Europäischen Versprechens“ heißt? Die Rede ist vom Platz vor einem geschichtsträchtigen Sakralbau: Der Glockenturm der Christuskirche war das einzige Bauwerk in Bochums Innenstadt, das 1945 nicht in Schutt und Asche lag. Dennoch blieb das Innere 60 Jahre lang jeder Einsicht entzogen. Zwei Weltkriege hatte der Turm überstanden und diente dann nur noch als Abstellkammer. Grund ist die in den Jahren 1929-1931 erfolgte Umwidmung in eine Heldengedenkhalle: An den Wänden sind noch immer die Namen von 1358 Gefallenen und die Namen der „Feindstaaten“ der Deutschen im Ersten Weltkrieg zu lesen.

Als es in Bochum 2005 im Rahmen eines Landeswettbewerbs darum ging, den Kirchplatz – bis dahin halb Baustelle, halb Parkplatz – endlich zu verschönern, schlug der Gemeindepfarrer Thomas Wessel den Künstler Jochen Gerz als Gestalter vor. Gerz ist vor allem bekannt für seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

14726 Unterschriften für eine neue Vision

Gerz sah das Innere dieses Glockenturms und entschied: In diesem Raum fängt der Platz an. Sein Konzept für ein Kunstwerk, das dem Turm eine dritte Namensliste einschreibt und aus ihm heraus führt, erhielt den Zuschlag – mit Tausenden Unterschriften heute Lebender, die der alten Geschichtsauffassung von Feinden und Krieg eine neue Vision gegenüberstellen.

Jochen Gerz: "Platz des europäischen Versprechens" (Detail einer Steinplatte mit Namensinschriften). 2004-2015, Bochum. (© Jochen Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2015, Courtesy: Gerz studio, www.jochengerz.eu, Foto: Sabitha Saul, Dortmund).

Jochen Gerz: „Platz des europäischen Versprechens“ (Detail einer Steinplatte mit Namensinschriften). 2004-2015, Bochum. (© Jochen Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2015, Courtesy: Gerz studio, www.jochengerz.eu, Foto: Sabitha Saul, Dortmund).

Welche Zusage sie Europa gemacht haben, blieb unausgesprochen. Dennoch haben 14726 Menschen teilgenommen. „Diese Verschwiegenheit ist ja nicht identisch mit Unverbindlichkeit“, findet Kurt Wettengl, langjähriger Leiter des Ostwall-Museums in Dortmund. „Sollte ich mein Versprechen nicht einhalten oder brechen, muss ich es mit mir ausmachen und ich mich wieder daran erinnern. Unser aller und damit auch meine Mitverantwortlichkeit für die Gestaltung der Zukunft – Europas – macht das Bochumer Denkmal deutlich.“

600 Namen sind in der ersten Bodenplatte im Turm eingraviert. Ihre Abmessung bildet die Matrix für alle Steinplatten, die nachfolgten und jetzt (insgesamt sind es 20) den Vorplatz mit Namen füllen. „Dieser Platz ist für mich eine Gelegenheit, meine Anteilnahme kund zu tun“, begründet Rotraud Burchhardt-Kamplade, eine der ersten Versprechensgeberinnen. „Europa ist der kleinste Kontinent, und doch haben hier die meisten Kriege stattgefunden. Dass von Europa heute Frieden ausgeht, das liegt mir am Herzen.“

Ein Bündnis für den Frieden

Der „Platz des europäischen Versprechens“ ist gedacht als großes, demokratisches Manifest für ein Europa, das aus seiner blutigen Vergangenheit gelernt hat und auch andernorts keine Kriege führt. Deutschland ist das passende Land für so einen Platz, erst recht NRW. Keine Woche vergeht, in der nicht wieder Bomben aus einer Zeit auftauchen, als die einstige Industriehochburg unter Beschuss lag. Und während wir hier alte Blindgänger entschärfen, gelangt neue Munition auf andere Kontinente: Es sind ja sogar nicht zum geringen Teil deutsche Waffen, die jetzt auf uns zurückzielen.

Wo kann das Umdenken anfangen? Bei den Politikern? So denken die meisten. Ich auch, und das drückt auch meine Frustration aus. Ich konnte erst wenig mit dem Konzeptkunstwerk „Platz des Europäischen Versprechens“ anfangen – zu intellektuell, zu erklärungsbedürftig kam mir das Ganze vor. Jetzt tut es mir leid, dass meine Unterschrift fehlt, allein um dieses Zeichen zu setzen: „Krieg kann keine Lösung sein!“

Tatsächlich hat mich die Beschäftigung mit diesem Platz dazu gebracht, meine Anti-Haltung gegenüber Europa (hervorgerufen durch die Regulierungswut und den Sparzwang, der auf Kosten so vieler geht) hinter mir zu lassen und mich rückzubesinnen auf das, wozu Europa im allerersten Schritt gedacht war: als ein Bündnis für den Frieden.

(Der Platz wird am kommenden Freitag, 11. Dezember, um 17 Uhr offiziell eröffnet).




Chancen am Borsigplatz: Partizipative Kunst im Dortmunder Ghetto

Künstlerin Angela Ljiljanic  wohnt für ein Jahr am Dortmunder Borsigplatz und wundert sich...

Künstlerin Angela Ljiljanic wohnt für ein Jahr am Dortmunder Borsigplatz und wundert sich… Foto: Michael Scheer

Eine Stiftung gibt 200.000 Euro für ein Kunstprojekt am Dortmunder Borsigplatz. Die Hälfte wird in ein Spielgeld namens „Chancen“ eingetauscht und den Bewohnern geschenkt. Sie können damit ausschließlich in Kunst-Projekte zum Mitmachen investieren. Dazu leben vier Künstler ein Jahr lang im Viertel. Kann das gut gehen?

Frau Reinhold ist 85 Jahre alt. Sie hat eine Vorliebe für Gartenzwerge und den BVB, sie hegt und pflegt ihren Garten, sie mahlt Chilipulver aus Paprika, und wenn ein Hund an dem liebevoll bepflanztem Baum-Beet vor ihrem Erdgeschoss-Fenster sein Geschäft verrichtet, bittet sie den Hundebesitzer freundlich bis resolut, den Kot zu entfernen.

Um zu verstehen, wie Frau Reinhold Teil eines hoch dotierten Kunstprojekts wurde, muss man ein wenig ausholen. Die Geschichte hat zu tun mit Küchenkräutern und dem Konzeptkünstler Jochen Gerz, mit der Stiftung eines reichen Bauunternehmers und der Idee einer jungen Künstlerin. Im Zentrum der Geschichte: der Borsigplatz.

Der Borsigplatz in der Dortmunder Nordstadt hat viele Gesichter: Er ist der bekannteste Kreisverkehr in Dortmund. Ein Baudenkmal. Ein Ghetto. Die Wiege des BVB und der Ort, an dem noch immer die großen Siege gefeiert werden. Ein Platz, den früher 25.000 Arbeiter täglich passierten, um zur nahe gelegenen Westfalenhütte zu gelangen  – und heute der Dortmunder Bezirk mit der höchsten Arbeitslosigkeit. Ein Platz, an dem nach und nach alle dicht machten: Sparkasse und Deutsche Bank, Edeka und Aldi – und das, obwohl 10.000 Bewohner im Viertel leben. Sie stammen aus 132 Nationen. Etwa jeder Vierte ist arbeitslos – die Quote im Bezirk ist doppelt so hoch wie im Rest der Stadt.

Frau Reinhold wohnt seit 53 Jahren am Borsigplatz, genauer: an der Schlosserstraße, Ecke Dreherstraße. Die Mietwohnung gehörte früher Hoesch, heute der Wohnungsbaugesellschaft Vivawest. Ihr Mann war Lokführer bei Hoesch, auch die beiden Söhne: Hoeschianer. In den vielen Jahren, die sie in der Siedlung lebt, wurde aus dem großen Innenhof Frau Reinholds kleines Paradies, ein Paradies mit Blumenbeeten und Borussia-Gartenzwergen, mit Gartentischen aus Plastik und Kunstblumen darauf, mit Geranien auf den Fensterbänken zum Hof. Der Anblick vor ihrer Haustür wurde dagegen zunehmend unerfreulich. Frau Reinhold sieht Dealer, die das Geld in dicken Bündeln und dicken Autos vor ihrer Haustür zählen. Sie erlebt Menschen, denen es egal ist, ob Müll auf der Straße liegt. Und dann stand da diese Künstlerin vor der Tür: Angela Ljiljanic.

Partizipative Kunst, das ist auch: Partygurken ziehen. Foto: Angela Ljiljanic

Partizipative Kunst, das ist auch: Partygurken ziehen.
Foto: Angela Ljiljanic

Ziel der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft sei es, „mit den Mitteln der Kunst die alltäglichen Lebensverhältnisse von Menschen spürbar und nachhaltig zu verbessern“, heißt es auf der Webseite der Stiftung, die der ehemalige Bauunternehmer Carl Richard Montag ins Leben gerufen hat: „Gemeinsam mit KünstlerInnen und anderen Partnern entwickelt und fördert die Stiftung partizipatorische Kunstprojekte. Sie will damit ganz bewusst in gesellschaftliche Prozesse eingreifen, Impulse zur Verbesserung des sozialen Miteinanders geben und Veränderungsprozesse in Gang setzen.“

Das alles hat Angela Ljiljanic nicht erzählt, als sie vor Frau Reinholds Tür stand. Stattdessen erzählte sie von Petersilie und Pfefferminze: Sie erzählte, dass sie auch am Borsigplatz wohne, ein Jahr lang, und dass sie in dieser Zeit mit den Bewohnern gemeinsam Dinge fürs Viertel tun könne. Zum Beispiel Hochbeete bauen und bepflanzen, um die sich Frau Reinhold und ihre Nachbarn kümmern könnten. Ein Teil der Ernte dürften die Bewohner behalten, die andere Hälfte würde man gemeinsam verwerten, zum Beispiel zu Essig oder Ölen, oder zu einem experimentellen Gebäck.

Die ersten Reaktionen waren ernüchternd. „Die  wollten auf keinen Fall mitmachen“, erzählt Angela Ljiljanic. Man habe lange genug probiert, die Straße sauber zu halten, die Bäume auf dem Gehweg zu bepflanzen, und das habe zu nichts als Frustration geführt. Auf einen Kompromiss ließ sich die Nachbarschaft schließlich ein: Die Hochbeete bekamen Rollen und wurden auch nicht öffentlich, sondern im geschützten Innenhof aufgestellt. Sechs der insgesamt 15 Hochbeete stehen inzwischen im Innenhof bei Frau Reinhold, er gilt als Vorzeige-Hof.

Es gibt auch die anderen Beispiele: Ein mitten auf dem Bürgersteig platzierter Kräuterkasten wird als Aschenbecher missbraucht. Die Aufstellung eines anderen Hochbeetes ließ lange schwelende Missstimmungen unter Nachbarn eskalieren. Ein drittes Beet wird die Künstlerin demnächst abbauen: „Dort kann ich mich gar nicht mehr blicken lassen“, sagt sie und deutet auf ein Beet im Vorgarten ihres Nachbarhauses.

Angela Ljiljanic fürchtet sich fast vor den Bewohnern, die das Projekt anfangs so begeistert begleitet hatten. „Dieser ganze Borsigplatz – man merkt, hier gibt es einen unterbrochenen Dialog, gescheiterte Beziehungen. Über die Beete habe ich den Dialog neu aufgenommen. An dieser Stelle ist er klar gescheitert, da habe ich verbrannte Erde hinterlassen. Aber das ist das Einzige, was ich tun kann: Dem Ort zeigen, wie er wirklich ist.“ Die Pflanzen zeigen schonungslos, wie es um die Qualität des sozialen Gefüges bestellt ist, ob dort Gemeinschaft wächst und gedeiht, ob sie sich heranziehen und pflegen lässt, oder ob sie verkümmert und verdorrt.

Künstlerin und Nachbarin – das ist das Spannungsfeld, in dem sich Angela Ljiljanic und ihre Kollegen am Borsigplatz bewegen. Sie alle haben sich auf eine Ausschreibung, quasi ein Stipendium beworben, das damit verknüpft ist, ein Jahr lang mietfrei am Borsigplatz zu wohnen, um dort partizipative Kunst zu verwirklichen. Um die Partizipation anzukurbeln und sie in ein ökonomisches Prinzip alternativer Wirtschaft zu verwandeln, wurden „Chancen“ ersonnen, eine Art Anti-Geld, das in zehntausend 10-Chancen-Scheinen ausgegeben wurde und insgesamt tatsächlich 100.000 Euro entspricht. Mit ihren „Chancen“ konnten die Teilnehmer an Angela Ljiljanics Projekt z.B. Kräuter, Erde und Holz für die Hochbeete erwerben.

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100 Chancen und mehr für jeden Bewohner am Borsigplatz. Foto: Borsig11

Ein Jahr lang mietfrei am Borsigplatz – das gab es schon einmal. Die Idee geht auf Konzeptkünstler Jochen Gerz zurück, der im Kulturhauptstadtjahr 2010 Menschen nach Duisburg, Mülheim und Dortmund einlud. „2-3 Straßen“ hieß das Projekt, es ist eines der nachhaltigen Projekte aus 2010.

„Gerz ist weg. Wir sind noch da“, sagt Guido Meincke, einer der Teilnehmer von damals. Gemeinsam mit Volker Pohlüke, der nach 2010 ebenfalls blieb, gründete er 2011 die „Machbarschaft Borsig11“.  Der Verein versucht, den Geist von „2-3 Straßen“ weiterzutragen. Der Geist, das ist die Auflösung von Kunst in der Gesellschaft. Oder auch: die Herstellung von Gesellschaft. „Man kann die Gesellschaft nutzen, um Kunst zu machen. Jochen Gerz nutzt die Kunst, um Gesellschaft zu machen“, sagt Meincke.

Mit ihrer Idee zu „Public Residence: Die Chance“ setzte sich der Verein „Machbarschaft“ gegen 400 Bewerbungen aus ganz Deutschland durch. So viele Einreichungen gab es auf die Ausschreibung der Montag Stiftung. Es ist eine Idee, die mit den teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern steht und fällt. Gut 80 Bewerbungen  für das Borsigplatz-Stipendium kamen, zwei Künstlerinnen und zwei Künstler wurden ausgewählt. Zwei sind nach knapp fünf Monaten wieder weg, zwei neue rücken nach. Es ist einiges in Bewegung geraten, geplant und ungeplant.

Künstlerin Susanne Bosch kochte mit Anwohnern Ajyar und Apfelmus in einer mobilen Küche mitten auf der Straße, an einem anderen Tag lud sie dazu ein, sich in wandelnde Trash-Skulpturen zu verwandeln: In Schutzanzüge gekleidet ging es einmal um den Borsigplatz, gegenseitig beklebten sich die Teilnehmer mit Müll von der Straße. Die Künstler Henrik Mayer und Martin Keil ließen die Menschen neue Straßennamen ersinnen und hängten alternative Straßenschilder im Viertel auf.

Oder Frank Bölter zum Beispiel. Der Künstler hat in der Vergangenheit Bundeswehr-Soldaten und Flüchtlinge dazu gebracht, einen Leopard 3-Panzer aus Papier zu falten. Mit Bewohnern einer Siedlung in Linz baute er eine 24 Meter lange Akropolis aus Papier. In Münster mischte er sich in den Namensstreit um den Hindenburgplatz ein, indem er ein eigenes Straßenschild aufhängte: Frank-Bölter-Weg. „Unkonventionelle Skulpturen, die kommunikativ wirken“, schreibt die Kunstkritik und spricht von einem „humorvoll-poetischen Ansatz“.

Bölter sagt, er zettle Dialoge an. „Ich mache etwas, das stört oder auf etwas hinweist“, sagt er. In Dortmund faltete er mit Kindern ein überdimensioniertes Papierauto und setzte es mitten auf den Borsigplatz. Demnächst will er mit Alkoholikern aus der Nordstadt das „Dortmunder Schwarzbräu“ brauen, ein Schwarzbier. Mitmachen darf nur, wer schon am Morgen einen Pegel von 0,5 Promille nachweisen kann. „Ich bin gespannt, ob überhaupt jemand kommt“, sagt er. Die Aktion solle Alkoholiker darin bestärken, wieder Verantwortung für sich zu übernehmen. „Das ist vielleicht ein etwas frecher therapeutischer Ansatz“, sagt Bölter. Aber es geht nichts ums Bekehren – eher um eine Leichtigkeit. Wer in der Lage ist, den Humor dahinter zu erkennen, hat vielleicht schon den ersten Schritt gemacht.

Fast allen Projekten, die seit Juni dieses Jahres am Borsigplatz entstehen, wohnt diese Radikalität inne. Sie haben kein konkretes Ziel – und zielen doch auf Veränderung. Die Menschen zu packen und ihnen klarzumachen: Das hier ist euer Leben. Macht was daraus!

Ist das naiv? Grenzt das teilweise nicht an Soziale Arbeit? Letzteres weisen alle Beteiligten weit von sich, obwohl Methoden Sozialer Arbeit zweifellos dazu gehören. Frank Bölter wünscht sich, dass die Menschen „anders aus meinen Projekten rausgehen“. Er hat es erlebt: „Einige Teilnehmer früherer Projekte haben sich verliebt, in London hat jemand seinen Broker-Job gekündigt, nachdem er mit mir Schiffe gefaltet hat. Das ist für mich spannender als die üblichen Vertriebswege der Kunst: Ich kann so mehr Einfluss nehmen, als wenn ich ein Gemälde verkaufe.“

In Dortmund allerdings sei über das unmittelbare Tun hinaus bisher nicht viel passiert. „Das hat sicher damit zu, dass die Leute erstmal mit existenziellen Sorgen zu kämpfen haben. Sie lassen sich zwar für Aktionen begeistern, bringen das aber nicht mit Kunst in Verbindung. Für viele ist es eher komisch, auch unsinnig: Sie wollen lieber Euro anstatt der Lokalwährung.“

Where the streets have new names: Ein Projekt der Künstler Henrik Mayer und Martin Keil. Foto: Borsig11

Where the streets have new names: Ein Projekt der Künstler Henrik Mayer und Martin Keil. Foto: Borsig11

Guido Meincke von der „Machbarschaft Borsig11“ setzt Jochen Gerz und sein Prinzip der Ansteckung dagegen: „Der Künstler gibt seine Philosophie vor und macht andere zu Teilnehmern, und die machen wieder andere zu Teilnehmern.“ Daneben stehen und meckern – aus dieser Falle heraus komme man nur durch soziale Kreativität.

Viele kleine und große Chancen warten also am Borsigplatz. Dass sie die die „alltäglichen Lebensverhältnisse von Menschen spürbar und nachhaltig verbessern“, wie es die Montag Stiftung formuliert, ist am Ende ein bisschen viel verlangt.

Frau Reinhold sieht die Sache vermutlich ganz richtig: „Man muss sich hier ganz schön was gefallen lassen. Aber wenn jeder ein bisschen darauf achtet, kann das schon etwas werden, woll.“

(Der Beitrag erschien zuerst in der November-Ausgabe des NRW-Kulturmagazins K.West)




Nach dem Kahlschlag – Im Marler „Glaskasten“ besichtigen Jochen Gerz und Jan Kopp Welt-Zerrbilder des „Weißen Mannes“

Von Bernd Berke

Marl. Völlig entblößt stehen diese Männer und Frauen da, jeweils ganz für sich allein und ziemlich ratlos blickend. Ringsumher liegen die traurigen Überreste gefällter Bäume. Keine paradiesische Nacktheit ist es, die sich hier offenbart. Im Gegenteil. Es sind Menschen nach einem Kahlschlag.

Der in Paris lebende Künstler Jochen Gerz, der zuletzt bundesweites Aufsehen mit seiner von der WR unterstützten Dortmunder Foto-Aktion „Das Geschenk“ erregt hatte (noch heute bekommt er zahlreiche Briefe von abgelichteten Teilnehmern), greift jetzt im Marler Museum „Glaskasten“ eine ökologische Untat auf, die sich 1999 in Kanada zugetragen hat. Ein riesiges Regenwald-Areal fiel dort den Bulldozern und Kettensägen zumOpfer.

Zugleich das Porträt einer Generation

Die Menschen, die Gerz auf neun Diptychen (große zweiteilige Bilder) zeigt, sind Bewohner jener gepeinigten Gegend; unter ihnen ein Greenpeace-Mitgründer, ein ausgewanderter deutscher Maler, ein Atomphysiker. Sie alle waren wegen der grandiosen Natur dorthin gezogen und konnten die wahnwitzige Abholzung auch mit einfallsreichen Protesten nicht verhindern.

Gerz lichtete sie hüllenlos, hätten sie keine Habe mehr, inmitten der zerstörten Landschaft ab. Die Gesichter stehen noch ganz im Banne der Verzweiflung, der Resignation. In die Fotos eingestellte Texte künden gleichfalls von dieser Gefühlslage, immer wieder ist dort von Vergewaltigung der Natur die bittere Rede. Ganz bewusst hat Gerz ältere Leute vor die Kamera gebeten. Makellose Körper würden wohl vom ökologischen Anliegen ablenken. Außerdem nennt der 60-jährige Künstler die erstmals gezeigte Installation „ein Porträt meiner Generation“. Eine Generation, die ihren Kampf verloren hat?

„White Ghost“ (weißes Gespenst) heißt die Arbeit. Einen solchen Namen hatten einst die Chinesen dem „weißen Mann“ gegeben. Der nämlich huschte nach ihrem Empfinden wie ein Geist, ohne innere Bindungen und also achtlos über alles Lebendige auf Erden hinweg.

Mit einer die Wirklichkeit verzerrenden „weißen“ Sicht auf die Welt befasst sich auch Jan Kopp (30). In Marl ist es guter Serien-Brauch, dass ein arrivierter Künstler mit einem jungen Kollegen gemeinsam ausstellt. Und Jochen Gerz bat eben seinen früheren Assistenten Kopp hinzu. Der hat das letzte Jahr in New York verbracht. In seinem Reisegepäck befand sich eine Kopie der Karl May-Verfilmung „Old Shatterhand“ (1963; bekanntlich mit Lex Barker, Pierre Brice & Co.), ein Streifen, der oft im Fernsehen abgenudelt worden ist.

Karl May und der Stich ins Surreale

Kopp ist dem Film mit einem listigen Konzept zu Leibe gerückt. In den USA (wo kaum jemand von Karl May etwas weiß) bat KOPP mutmaßlich amüsierte, jedenfalls von Haus aus englisch sprechende Museumsbesucher, einige Szenen gleichsam neu zu synchronisieren. Und so reden die Filmfiguren nun in gebrochenem Deutsch bunt durcheinander. An drei Projektionsstellen schnurren in Marl 28 kurze Sequenzen ab. 240 Stimmen sind zu hören, Old Shatterhand, Winnetou, Sam Hawkins und all die anderen sprechen – oft mitten im Satz wechselnd – mal männlich, mal weiblich, mal kindlich.

Resultat ist eine vielfache Verfremdung, mit der Kopp (erkennbar ein Kind der Fernseh-Generation) lässig spielt. Die wahre Welt liegt hinter lauter medialen Schleiern verborgen: Schon Karl May phantasierte sich ja seinerzeit in Sachsen einen „Wilden Westen“ zurecht, der von der Realität weit entfernt war.

Die naive Verfilmung mit ihrem Klischee vom „edlen Wilden“ Winnetou verhüllte den wirklichen Sachverhalt (sprich: Vertreibung oder Ausrottung der Indianer) noch drastischer. In der neuen „Synchronisation“ wirkt die Dramaturgie vollends grotesk, sie bekommt geradezu einen Stich ins Surreale.

Durchzogen werden die Gänge zwischen Gerz‘ und Kopps Arbeiten von einem „Biotop“ aus lauter wuchernden Topfpflanzen. Auch hier waltet wohl Ironie: Soll derlei Restgrün etwa alles sein, was von der Natur übrig bleibt?

Jochen Gerz/Jan Kopp. „Glaskasten“, Marl (Creiler Platz, am Rathaus). Ab Samstag, 11. November (Eröffnung 17 Uhr), bis 21. Januar 2001. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 32 DM.




Neue Gemeinschaft stiften – Jochen Gerz‘ Kunstaktion „Das Geschenk“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Gesichter blicken einen an – und es werden immer mehr. Schon gestern waren es 400 Porträts, die die Wände des Dortmunder Ostwall-Museums zierten. Im August sollen es rund 5000 sein. Der Ankauf für die Sammlung ist bereits beschlossene Sache.

Der mit documenta- und Biennale-Weihen versehene Künstler Jochen Gerz (60) beschert den Dortmundern mit seiner Aktion „Das Geschenk“ ein spezielles Gemeinschafts-Erlebnis.

In der Medienkunst-Schau „Vision Ruhr“ (frühere Zeche Zollern II/IV – die WR berichtete) hat Gerz ein Fotostudio mit moderner Digitaltechnik eingerichtet. Studenten der Dortmunder FH lichten dort kostenlos Besucher ab. Möglichst gefasst sollen sie dreinschauen, niemand soll sich in Szene setzen. Gerade dann tritt die Individualität der Gesiebter (frontal und in Nahsicht) hervor. Im Schnitt haben sich die Macher 8 Minuten Zeit für eine Porträtsitzung gegeben – samt Ausdruck und Rahmung.

Jede(r) Fotografierte darf ein Bild mit nach Hause nehmen, aber nie das eigene. Also trägt man das Bildnis eines oder einer Unbekannten heim, gewährt symbolisch „Gastfreundschaft“. Das eigene Konterfei nimmt wiederum ein „Fremder“ mit. Menschenfreundliche Vision: sich auf den Anderen einzulassen, ohne Ansehen von Herkunft, Beruf und dergleichen.

Inspirieren ließ sich der in Paris lebende Gerz vom Gedanken an die oftmals bewiesene Solidarität der Revier-Bewohner. Vor diesem Hintergrund stiftet sein Projekt eine neue Gemeinschaft. Besonderer Zusatz-Effekt: Man besitzt ein Kunstwerk und ist zugleich Teil von ihm. All das beschränkt sich nicht auf den privaten Raum, sondern greift ins Öffentliche aus: Sämtliche Zweitabzüge gelangen ins Ostwall-Museum, das somit nach und nach ganz gefüllt wird. Frankfurts Schirn-Kunsthalle will die Schau übernehmen.

Die Westfälische Rundschau unterstützt die Aktion auf vielfältige Weise, auch durch Veröffentlichung von Porträtfoto-Seiten (in der Dortmunder WR-Ausgabe). Zur Eröffnung der Ostwall-Schau (heute um 19 Uhr) wird WR-Chefredakteur Frank Bünte mit Jochen Gerz und dem Ausstellungsleiter Axel Wirths über die „Geschenk“-Aktion sprechen.

Jochen Gerz: „Das Geschenk“. Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 20. August. Di/Mi/Fr/So 10-18, Do 10-20, Sa 12-18Uhr.

„Vision Ruhr“, Zollern 11/IV, DO-Bövinghausen (Grubenweg). Bis 20. August. Tägl. außer Mo 10-19, Fr 10-22 Uhr.