Das Eis der Adria: Winterliche „Nacht in Venedig“ als konsequente Erneuerung der Operette am Aalto-Theater Essen

Wie nähert man sich, nach einer Generation langsamen Erstickens der Operetten-Tradition, diesem Genre des Musiktheaters heute? Noch dazu einer „Nacht in Venedig“ von Johann Strauß, die mit ihren harmlos-heiteren Verwechslungsmaskeraden nicht zu den besten Libretti von Friedrich Zell und Richard Genée gehört?

Auf dünnem Eis: Elbenita Kajtazi (Annina) und Caramello (Albrecht Kludszuweit) im winterlichen Venedig im Aalto-Theater. Foto: Jörg Landsberg

Auf dünnem Eis: Elbenita Kajtazi (Annina) und Caramello (Albrecht Kludszuweit) im winterlichen Venedig im Aalto-Theater. Foto: Jörg Landsberg

Das Aalto-Theater hat sich nach verflixten sieben Jahren der Enthaltsamkeit entschlossen, für die erste Operetten-Neuproduktion der Intendanz Hein Mulders auf einen local hero zu setzen. Man verpflichtete Bruno Klimek, Professor für szenische Ausbildung im Studiengang Gesang/Musiktheater an der Folkwang Universität der Künste.

Das Ergebnis war zu erwarten: Klimek macht mit seinem Bühnenbildner Jens Kilian und der kreativen Kostümfrau Tanja Liebermann die gute alte Operette nackt. Er streift ihr den bunten Karnevalsdress ab, reißt ihr die mondänen Ballroben vom Leibe und schält sie aus den folkloristischen Fischermädchenkleidchen. Aber mehr noch: Er entblößt sie von den veralteten Sentenzen Zells und Genées, schreibt die Dialoge quasi alle neu, greift vereinzelt auch in die Gesangstexte ein. Manchmal verfehlt er den Stil: Dass Herrn Delaqua, seines Zeichens Senator der Serenissima, etwas „glatt am Arsch vorbei“ geht, ist ein gutes Stück zu pöbelhaft als Ersatz für Wiener Wortwitz.

Niente Carnevale!

Die Entscheidung greift tief ein, ist aber gut begründbar: Klimeks gereimte Pointen sind – wie die alten Albernheiten auch – Geschmackssache, aber sie sitzen und sie kommen auch an. Das Publikum bricht selten in offene Heiterkeit aus, schmunzelt aber doch über manche Pointe. Vor allem kann Klimek so die Konstellation der Figuren schärfen: Die Mädels Annina und Ciboletta sind nicht mehr die koketten Dummchen, sondern profilieren sich über die überlebenswichtige Fischhandels- und Zofen-Schläue hinaus als selbstbewusste weibliche Wesen. Sie lassen sich von den Herren der Schöpfung nichts sagen. Sie spielen ihr eigenes Spiel und schauen auf ihr eigenes Vergnügen.

"Frutti di Mare!" bietet Elbenita Kajtazi alias Annina feil. Foto: Jörg Landsberg

„Frutti di Mare!“ bietet Elbenita Kajtazi alias Annina feil. Foto: Jörg Landsberg

Niente Commedia dell’arte, niente Carnevale: Tanja Liebermann verordnet der Schaulust Askese, wo sie das Historisch-Dekorative suchen will. Schon als Christina Clark, alias Ciboletta, aufgeregt vor dem geschlossenen Vorhang herumstöckelt, wissen wir: Ihr gelbes Ölzeug eignet sich vor allem zum Schutz, wenn sich ostfriesische Himmelsfluten nach südlich der Alpen verlagern und „aqua alta“ droht. Öffnet sich der Vorhang, erleben wir, dass auch in Venedig zur Karnevalszeit Winter herrscht: Es schneit, die Menschen haben Mäntel an, zittern, frieren, rutschen auf Glatteis aus.

Dass es dabei schmerzhafte Stürze geben kann, macht Martijn Cornet als Pappacoda bewusst. Der Arme ist Neapolitaner und mit venezianischen Klimafallen nicht vertraut. Und je mehr billigen Korbflaschenwein er in sich hineinschüttet, desto heftiger kommt er zu Fall. Liebermann hat ihn mit fischgrätengemusterter Hose, Sakko, Schal, Scheiter und Brille ausstaffiert wie einen Dramaturgen der siebziger Jahre – wäre da nicht der Riesentopf mit, nun ja, Spaghetti drin. Klimek lässt die Figur immer weiter in Slapstick abgleiten. Das funktioniert nicht; auch das Publikum nimmt die traurige Show regungslos hin.

Lustvoll ausgestellte Klischees

Dekor spielt in Klimeks Inszenierung eine Rolle, wenn er nämlich ganz Venedig dazu erklärt: Jens Kilian hat in den Hintergrund der weiträumigen Aalto-Bühne ein Spielzeug-Venedig gebaut, an dem sich in regelmäßigen Abständen riesige Kreuzfahrtschiffe vorbeischieben. Dass die Miniatur-Palazzi wackeln und von einem Bühnenarbeiter (Hans-Günter Papirnik) immer wieder zurechtgerückt werden müssen, dass sie schließlich komplett zusammenstürzen, ist mehr als eine Anspielung auf die aktuelle Debatte um die Schäden, die diese Riesenpötte an der historischen Bausubstanz verursachen. Klimek entlarvt, dass es gar nicht um Venedig geht – die Stadt ist für die geschätzt 30 Millionen jährlicher Touristen eben vor allem eine Dekoration für schöne Tage.

So stellt die Regie Klischees in Frage – oder stellt sie lustvoll aus, bis sie überdreht in sich zusammenbrechen. In der fast schon mathematisch choreografierten Exposition des ersten Akts rast regelmäßig eine kreischende Weiberhorde über die Bühne: „Er“ wird erwartet, der Herzog, der Macho, dem alle weiblichen Wesen gern und willig zu Füßen liegen. Teenie-Starkult mit reifen Damen, das ist erst witzig, dann nervig. Aber so ist es kalkuliert.

Natürlich werden die Erwartungen enttäuscht: Eine riesige Gangway herab schreitet nicht der Herzog, sondern stolpern die ganz „normalen“ Männer, etwa Caramello, der Leibbarbier des Herzogs. Albrecht Kludszuweit gestaltet diese Rolle mit dem Hintergrund eines operettenerfahrenen Sängers und Darstellers, der noch dazu die Höhenbrillanz und den Sinn für Phrasierung hat, um Schlager wie „Komm in die Gondel“ zu blitzenden musikalischen Sternen zu veredeln.

Die Herrlichkeit des Gockels ist in wenigen Sekunden vorbei

Als dann der tolle Mann endlich eintrifft, ist der Auftritt eine unspektakuläre Enttäuschung für die Ladies. Dennoch reißen sie Dmitry Ivanchey erst mal die Kleider vom Leib, so dass aus der schillernden Adriano-Celentano-Figur ein Normalo in biedern Boxershorts wird, raffen ihre Beute und eilen von hinnen. Die Dekonstruktion der „Gockelherrlichkeit“, wie es Klimek im Programmheft nennt, vollzieht sich in wenigen Sekunden. Ivanchey singt sein „Der Mond hat schwere Klag‘ erhoben“ zwar dynamisch differenziert, aber ohne Charme und Schmelz – da fehlt die Erfahrung mit dem Idiom der Operette.

Auf der weiten, klar strukturierten und mit stimmungsvollen Symbolbildern gestalteten Bühne treibt die muntere Handlung immer weiter ins Absurde. Am Ende des zweiten Aktes schiebt sich der Chor des Aalto-Theaters – dem es spürbar schwer fällt, die Leichtigkeit der Darstellung, wie sie die Operette braucht, zu realisieren – in verblichenen Ballkleidern und aufgetürmten Frisuren aus der Zeit des Endes der Serenissima aus dem Hintergrund. „Karneval ruft zum Ball, der ist Souverän“ wird zum Totentanz, die Gesellschaft bricht auf dünnem Eis ein und versinkt.

Gespenster-Karneval der Vergangenheit: Der Opernchor des Aalto-Theaters. Foto: Jörg Landsberg

Gespenster-Karneval der Vergangenheit: Der Opernchor des Aalto-Theaters. Foto: Jörg Landsberg

Der dritte Akt verschärft die Groteske, wenn im Nebel nur noch Namen gerufen werden und Karel Martin Ludvik, der während der zweidreiviertel Stunden ständig seine Frau sucht, vollends zum wiedergängerischen Gespenst wird. Der zügel- und regellose Karneval wird zum verwirrten Endspiel, in dem einsame Menschen im Dunkel jede Orientierung verlieren. Und die Lösung? Die ist so angeklebt wie (fast) jedes Operetten-Happy-End: Man verabredet sich zum nächsten Karneval!

Luxus-Besetzung in der Fassung von Erich Wolfgang Korngold

Liebestraum im Winter: Liliana de Sousa (Barbara) und Carl Bruchhäuser (Enrico Piselli). Foto: Jörg Landsberg

Liebestraum im Winter: Liliana de Sousa (Barbara) und Carl Bruchhäuser (Enrico Piselli). Foto: Jörg Landsberg

Das Aalto-Theater Essen spielt die Fassung von Erich Wolfgang Korngold. Kapellmeister Johannes Witt lässt mit den Essener Philharmonikern die farbige, klangsinnliche Instrumentierung leuchten und zeigt sich – als versierter Dirigent im Ballett – vor allem mit Gespür für rhythmische Finessen. Wo Strauß auf Marschmusik setzt, ist Witt in seinem Element, wo er die flexible Agogik des Walzers freilassen sollte, reagiert er zu akkurat. Die Streicher sind in der Balance des Klangbilds leicht unterbelichtet, das Schlagzeug trumpft zu sehr auf. Aber Strauß‘ Operette ist ja auch in Berlin uraufgeführt worden – so ist ein preußisch-zackig aufgeputztes Venedig, das ein wenig nach Paul Lincke klingt, vielleicht gar nicht so unangebracht.

Die Besetzung am Aalto ist luxuriös – es zahlt sich eben aus, wenn ein Theater sorgfältige Ensemblepflege betreibt. Elbenita Kajtazi (Annina) turnt mit Luftballons in Fisch- und Krustentierform durch den Zuschauerraum auf die Bühne und preist ihre „frutti di mare“ mit einem Sopran an, der so frisch ist, wie der Meeresfang sein sollte. Die hoffnungsvolle Sängerin wechselt im Sommer an die Hamburgische Staatsoper, wo sie in Robert Schumanns Faust-Szenen debütiert. Kürzlich hat die gebürtige Kosovarin den Publikums- und den Dritten Preis im ersten Glyndebourne Opera Cup gewonnen

Christina Clarks Silberstimme ist seit Jahren eine Stütze des Musiktheaters, auch als Ciboletta setzt sie kratzbürstigen Charme und gewitzte Schläue als Lockmittel und Waffe ein. Liliana de Sousa hat eine wunderschöne Einlage zu singen und wertet mit ihrer cremigen Stimme die Rolle der Barbara auf, die sonst nur mit ihrem „Neffen“ Enrico, dem jungenhaften Carl Bruchhäuser, auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen für eine Liebesnacht ist. Peter Holthausen und Karl-Ludwig Wissmann bilden mit Karel Martin Ludvik das Trio der soignierten Senatoren, die vergeblich versuchen, ihre Frauen im Zaum zu halten – keine Chance: Marie-Helen Joël und Susanne Stotmeister wissen ihnen zu entkommen.

Die Frage, wie man heute Operette macht, hat das Aalto-Theater jedenfalls mit einer mutigen Inszenierung für sich entschieden: Keine billige Aktualisierung, sondern konsequente Erneuerung.

Die nächsten Vorstellungen: 7./10./16./21./29. Juni, 11./13. Juli, Wiederaufnahme am 14. September. Info: www.theater-essen.de




Spinxen erlaubt: das Dortmunder Ballett probt „G’schichten aus dem Wiener Wald“

Morbide Szene im Wiener Wald: Mark Radjapov als "Der Tod". Foto: Bettina Stöß

Morbide Szene im Wiener Wald: Mark Radjapov als „Der Tod“, mit Untoten. Foto: Bettina Stöß

Theaterproben anschauen, das Unfertige also beäugen, um daraus möglicherweise zu schließen, wie denn die komplett erarbeitete Produktion einmal aussehen wird, hat etwas von der Eigenart, dem Koch in die Töpfe zu gucken. Da brodelt oder brutzelt etwas, und vielleicht wird’s ja eine gute Suppe oder ein saftiges Steak.

Das Lupfen des Vorhangs, um Einblick zu gewähren, was denn passiert, bevor sich zur Premiere eben jener Vorhang hebt, hat manches Opern- oder Schauspielhaus zu seiner Maxime erhoben. Gewissermaßen als geschickter dramaturgischer Akt, das Publikum ans Theater zu binden. Und siehe: Neugierige gibt es genug. Sie wollen mehr als nur konsumieren, wissen, was dahinter steckt.

Gleichwohl existiert nach wie vor der andere Zuschauertypus, der den Premierenzauber genießen will, ohne sich in der Werkstatt bereits umgesehen zu haben. Der sich der Überraschung hingibt und der Hoffnung auf grenzenlose Faszination. Dann geht der Vorhang auf und alles ist neu. Und mancher mag sich fragen: Wie haben die das bloß gemacht?

Wie dem auch sei: Das Dortmunder Ballett hat nun einen Vorgeschmack geliefert auf die „G’schichten aus dem Wiener Wald“. Hat uns teilhaben lassen an ersten Szenenfolgen in kärglicher Kulisse, mit Musik von Johann Strauß und Alban Berg, die noch elektronisch zugespielt wird, mit der Umsetzung eines einstudierten Bewegungsvokabulars auf der großen Bühne. Das alles sieht noch derart nach Arbeitsprozess aus, dass eine Einschätzung, wie es denn wohl wird, nur eine Frage der Spekulation sein kann.

(Marianne) Monica Fotescu-Uta verliebt sich in Alfred (Dmitry Semionov). Foto: Bettina Stöß

(Marianne) Monica Fotescu-Uta verliebt sich in Alfred (Dmitry Semionov). Foto: Bettina Stöß

Andererseits, erste Gestaltungslinien werden erkennbar. Die Choreographie des Dortmunder Ballettchefs Xin Peng Wang setzt zunächst einmal auf Reduktion. Denn Ödön von Horváths Volksstück, die „G’schichten“ über die kleinen Leute des 8. Wiener Bezirks, bietet eigentlich ein üppiges Personaltableau von einsamen, unglücklichen, einfältigen, aufbegehrenden oder sich in Nostalgie flüchtenden Menschen in der Zeit des aufkeimenden Faschismus. Wang aber fokussiert sich auf nur vier Charaktere, nutzt das Corps de Ballet als eine Art kommentierenden Chor, und führt zwei neue Figuren ins Geschehen ein: den Tod und das Mädchen.

Morbide also wird’s, wenn die Geschichte Mariannes, die den gediegenen, aber langweiligen Fleischermeister Oscar heiraten soll, die sich aber dem Hallodri Alfred an den Hals wirft, der dafür seine Geliebte, die etwas derangierte Valerie sausen lässt, in Form eines großen Totentanzes aufgerollt wird. Einer alten Wiener Legende folgend, dass einmal im Jahr die Toten eine Chance haben, alles besser zu machen als im einstigen Leben. Die daran natürlich scheitern. Wie eben auch Horváths Figuren. Wie denn auch Mariannes uneheliches Kind sterben muss.

Dortmunds Ballettdirektor Xin Peng Wang choreographiert die "G'schichten". Foto: Philip Lethen

Dortmunds Ballettdirektor Xin Peng Wang choreographiert die „G’schichten“. Foto: Philip Lethen

Dabei wird die Frage zu beantworten sein, ob Horváths Sozialstudien, inklusive psychologischer Ausleuchtung, ihre Entsprechung in Bewegung, Gestik und Mimik finden können. Oder anders gefragt: „Sind Tanz und Musik (Strauß’ Walzer und Bergs Zwölftonklangfarbenwucht reiben sich bisweilen aufs Heftigste) in der Lage, die Atmosphäre des Horváthschen Wien einzufangen?

Das Lupfen des Vorhangs hat uns Probenatmosphäre schnuppern lassen, mehr ist kaum zu sagen. Andererseits hat die bewährte Kooperation von Ballett und Dortmunder Harenberg-Haus den Weg gewiesen zu Horváth und seiner Welt. Mit einer wunderbaren Lesung von Eva Dité (Klavierbegleitung: Ursula Schwarz), die Veza Canetti („Die gelbe Straße“) zu Wort kommen lässt – Schilderungen aus dem Wiener Arbeitermilieu, treffliche Typenzeichnungen. Und die Hertha Pauli zitiert, aus deren Buch „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz“ liest, speziell vom Begräbnis Ödön von Horváths. Der Schriftsteller war 1938 im Pariser Exil durch einen herabfallenden Ast erschlagen worden. „Gemütliche Bestialitäten“ heißt das Programm, und damit ist vieles gesagt.

Xing Peng Wang und seine Compagnie haben sich einiges vorgenommen. Weltliteratur in Tanz umzusetzen ist nicht neu, doch stets eine Herausforderung. Egal, ob Probenbesuch oder nicht, spannend wird’s allemal.

 

„G’schichten aus dem Wiener Wald“ erlebt seine Premiere im Dortmunder Opernhaus am 22. Februar, 19.30 Uhr. Am 22. März lädt Chefdramaturg Christian Baier im Harenberg-Haus zu einem literarischen Spaziergang durch Wien und will einiges berichten, „was die Reiseführer der Stadt (wohlweislich) verschweigen“.




Operette am Rande: Eindrücke von einer vernachlässigten Gattung aus Hagen und Wuppertal

Mondän: Banu Böke als Rosalinde in der Wuppertaler "Fledermaus". Foto Uwe Stratmann

Mondän: Banu Böke als Rosalinde in der Wuppertaler „Fledermaus“. Foto Uwe Stratmann

Operette – einst die Brot- und Butter-Gattung deutscher Stadttheater, ist an vielen Häusern weit in den Hintergrund getreten. Operetten-Ensembles mit ihren Diven, Liebhabern und Komikern gibt es nicht mehr. Das Repertoire, so man überhaupt noch davon sprechen kann, ist auf ein paar Titel zusammengeschrumpft. Dramaturgen-Fantasie glänzt meist durch Abwesenheit.

Man müsste nur bei Volker Klotz nachsehen – doch trotz dessen flammenden Plädoyers für die Gattung bleibt es bei diversen Fledermäusen, Lustigen Witwen und Csárdásfürstinnen. Dazu hin und wieder missverstandener Offenbach oder eine Galoppade des weißen Röss’l.

Wer etwas anderes kennenlernen will, muss etwa nach Gera fahren, wo bald wieder die Operette des Kubaners Moїses Simons „Du bist ich“ als exotische Ausgrabung gezeigt wird. Oder nach Ulm, wo sich jemand erinnert hat, dass Franz Lehár nicht nur „Das Land des Lächelns“ musikalisch bereist, sondern auch eine Goethe-Operette namens „Friederike“ hinterlassen hat. In der Rhein-Ruhr-Region dagegen sieht es (nicht nur) in dieser Spielzeit blässlich aus. Lediglich Aachen zeigt mit Offenbachs „Die Banditen“ ab 8. Juni 2014 eine witzig-spritzige Rarität; auch Münster besinnt sich mit den „Piraten von Penzance“ ab 29. März 2014 auf das komische Potenzial des jüdischen Franzosen aus Köln.

Während etwa in Essen seit geraumer Zeit Fehlanzeige zu melden ist, kümmern sich kleine und klein gesparte Häuser noch um die Sparte der unterhaltsamen musikalischen Lustbarkeiten. Deren Renaissance steht dennoch keineswegs an, auch wenn sich ein Barrie Kosky an der Komischen Oper intensiver um das leichte Metier kümmern will. In Hagen hatte Paul Burkhards zwischen „silberner“ Operette und Singspiel stehende Spätblüte „Das Feuerwerk“ Premiere. In Wuppertal setzt Intendant Johannes Weigand auf den allüberall totinszenierten Klassiker „Die Fledermaus“: Eine Auswahl, die sicher nicht für die künstlerische Auffrischung einer vernachlässigten Gattung steht.

„Fledermaus“ in Wuppertal: Sichere Pointen ohne Brechstangen-Lustigkeit

Dabei ist Weigand alles andere als die bequeme Bedienung eines bräsigen Publikums vorzuwerfen: In der letzten Spielzeit etwa landete Wuppertal mit Wolfgang Fortners „Bluthochzeit“ eine der besten Opernproduktionen in Nordrhein-Westfalen. Und aus Eduard Künnekes „Glücklicher Reise“ zauberte Weigand eine leichthändige, mit lässigem Sentiment gewürzte Petitesse – ein Glücksfall für die Operette. Die neue „Fledermaus“ nimmt er leicht, aber nicht leichtfertig: eine konzentrierte Personenführung, pointensicher, aber nicht kalauernd, heiter, aber ohne die peinliche Brechstangen-Lustigkeit, die dem musikalischen Flattertier oft szenisch Flügel machen soll.

"Champagner hat's verschuldet": Szene aus der Wuppertaler "Fledermaus". Foto Uwe Stratmann

„Champagner hat’s verschuldet“: Szene aus der Wuppertaler „Fledermaus“. Foto Uwe Stratmann

Der Bühne von Moritz Nitsche merkt man das Krisenprodukt an. Zwar funktioniert die Idee: Die beschränkte, scheinmondän tapezierte Enge von Eisensteins Salon wird in der Kellerkammer des „fidelen Gefängnisses“ von Etablissementsdirektor Frank wieder aufgegriffen. Aber dem Fest der Prinzen Orlofsky, das im Freien im barock gestutzten Park eines Palais‘ stattfindet, fehlt großzügiger Luxus, wie ihn der Hausherr zu leben vorgibt. Der ist einmal kein anämischer Jüngling, sondern ein blonder, fetter Wohlstandsrusse, dreist, aber ohne Melancholie. Joslyn Rechter übertreibt’s mit dem Akzent, singt aber mit sicherem Wohllaut.

Dramolett im Hause Eisenstein: Rosalinde (Banu Böke), Alfred (Christian Sturm) und das unglückliche Stubenmadl Adele (Elena Fink). Foto Uwe Stratmann

Dramolett im Hause Eisenstein: Rosalinde (Banu Böke), Alfred (Christian Sturm) und das unglückliche Stubenmadl Adele (Elena Fink). Foto Uwe Stratmann

Zwischen Klavier und Kanapee baut sich das Dramolett auf, als der frühere (und vielleicht eigentliche?) Liebhaber der jetzo verehelichten Frau von Eisenstein (Christian Sturm) arienschmetternd wieder auftaucht. Banu Böke als Rosalinde steckt ihm geschickt durchs offene Fenster die dienlichen Hinweise auf das bevorstehende Einsitzen des Gatten. Wie wir wissen, ist es ein Abschied auf Zeit.

Man trifft sich wieder auf dem Feste: Kay Stiefermann als schwerstimmiger, grisettengieriger Eisenstein, nicht mit dem eleganten Konversationston alten Adels, sondern dem schmierigen Imitat des Emporkömmlings; Banu Böke als ungarische Gräfin in einer grandiosen roten Robe Judith Fischers, leider in ihrem „Csárdás“ nicht frei und ohne Anflug von maliziöser Doppelbödigkeit. Und Adele – Elena Fink – mit leicht geträllerten Couplets ohne den nur an einer Stelle passenden stubenmadeltypischen Quietscher, obwohl sie mit ihrer „Schwester Ida“ (Annika Boos) als erst „angehende“ Künstlerin firmiert. Als solche muss sie sich stimmlich keineswegs verstecken, und nicht nur Olaf Haye als Frank findet Gefallen an dem feschen Geschöpf.

Für den flotten Fluss der Ohrwürmer sorgen die Wuppertaler Sinfoniker unter Florian Frannek, der schon die Ouvertüre leicht und plastisch ausformt, manchmal aber vergisst, dass in Wien das Metrum etwas lasziver schwingt als im Rest der Welt. Gregor Henze versucht als Frosch erst gar nicht, die schwer erreichbaren Wiener Originale wie Josef Meinrad, Otto Schenk oder Helmut Lohner zu imitieren. Er macht aus der Rolle einen böhmischen „Froschek“ und durchbricht mit schräg-trockenem Humor die Phalanx der alten Kalauer. – Eine sauber inszenierte „Fledermaus“, gestaltet mit solidem Regie-Handwerk, das heute nicht mehr selbstverständlich ist.

„Das Feuerwerk“ in Hagen: Dosierte Komik im Spießer-Heim

Auch Nicola Glück bringt für ihre Hagener „Feuerwerk“-Inszenierung ein glückliches Händchen für Tempo und dosierte Bühnen-Komik mit. Denn die Verwandtschaft, die da in ein ach so trautes Heim einbricht, um dem 60. Geburtstag des Patriarchen beizuwohnen, verführt schnell zum Überzeichnen: Onkel Fritz (Christoph Scheeben) und Tante Berta (Verena Grammel) babbeln irgendwie fränkisch-bayrisch-provinziell; Onkel Gustav (Richard van Gemert) und Tante Paula (Marilyn Bennett) kämpfen seit den Verlobungsküssen bereits mit einem pränatal angelegten Hustenreiz des Gatten. Und der an Länge wie Breite gewaltige Onkel Heinrich (Orlando Mason) genießt mit seiner aufgeputzten Lisa (Veronika Haller) sichtbar die Genüsse des entstehenden Wirtschaftswunderlandes.

Onkel und Tante ... Die Versammlung der Spießer ist bereit für die Geburtstagsfeier. Foto: Stefan Kühle

Onkel und Tante … Die Versammlung der Spießer ist bereit für die Geburtstagsfeier. Foto: Stefan Kühle

Pia Oertel hat sich für einen liebevollen Kostüm-Rückblick entschieden, der schon in der Entstehungszeit des Stücks 1950 nostalgisch gewirkt hätte: Wir befinden uns ja in einem Haushalt, in dem die Uhren seit der Kaiserzeit offenbar nur noch stark verlangsamt ticken. Auch die Maske unter Ronald Bomius hat Erkleckliches geleistet, um die Illusion zu perfektionieren.

Paul Burkhards liebenswürdiges Singspiel lebt nicht nur vom unvergänglichen Schlager „O mein Papa“. Schon der Auftritt der resoluten Köchin hat komödiantische Qualitäten. Kristine Larissa Funkhauser, einmal nicht die dicke drollige, sondern eine knackig kecke Küchenoberaufseherin, bringt ihn mit Lust über die Rampe. Die sentimentale Verwandtschaftshymne „Ja, an so nem Tag“ ist so genüsslich verlogen, dass sich sogar der Jubilar (Werner Hahn) irgendwann nur noch mit Spießen aus dem Käse-Igel ruhig stellen kann. Und Onkel Gustavs Husten-Ballade, von Richard van Gemert mit leidenden Anfällen vorgetragen, sorgt endgültig für heitere Laune beim Publikum.

Aufbruch in eine selbstbestimmte Welt

Das Ganze könnte man als gefällige, angestaubte Harmlosigkeit beiseitelegen, ginge es nur um ein wenig Slapstick und die sentimentale Story von den zwei jungen Leuten, denen die Alten mit ihren erstarrten Traditionen wieder einmal im Weg stehen. Paul Burkhard findet gefühlvolle Leichtigkeit in seinem Schlager für Anna. Maria Klier auf der Schaukel singt „Heut‘ hab‘ ich Flügel…“ und wirkt dabei ganz entzückend: ein Kind an der Schwelle zum Teenie-Mädchen der fünfziger Jahre. Und Gärtner Robert (Benjamin Hoffmann) ist der passende nette Junge für die gemeinsamen Träume vom lebenslangen Verliebtsein – so lange, bis das schwarze Schaf der Familie die Feier sprengt und mit dem Duft der Manege eine fremde, faszinierende Welt in die pastellfarbene Spießigkeit einbrechen lässt.

Dem Charme Idunas erlegen: Die Onkelriege und die Artistin (Ruth Ohlmann). Foto: Stefan Kühle

Dem Charme Idunas erlegen: Die Onkelriege und die Artistin (Ruth Ohlmann). Foto: Stefan Kühle

Pia Oertels sanft überstilisierte Arena bürgerlicher Zickereien verwandelt sich mit ein paar Lichtgirlanden zum Zirkus – und nicht nur die kleine Anna erliegt dem Charme der Manege und ihres charismatischen Direktors Alexander Obolski (Rolf A. Scheider). Der hat mit der französischen Artistin Iduna (Ruth Ohlmann) eine faszinierende Frau und liebende Gattin mitgebracht. Ihre Ausstrahlung bringt die dünne Kruste wohlanständiger Gesittung – zumindest bei den drei Onkels – widerstandslos zum Brechen. Zum Entsetzen der darin beharrlicheren Damen, die in der Zirkusluft zu krallenbewehrt fauchenden Bestien mutieren.

Zauber der Manege: Carola Casselly in einer atemberaubenden Nummer. Foto: Stefan Kühle

Zauber der Manege: Carola Casselly in einer atemberaubenden Nummer. Foto: Stefan Kühle

Erik Charell, der alte Fuchs des Berliner Unterhaltungstheaters, hat in seinem Plot noch etwas mehr verborgen. Es ist nicht nur der Show-Effekt des Zirkusrunds, den die Hagener Inszenierung mit Artisten vom Zirkus Jonny Casselly vergnüglich ausbreitet. Die glitzernde Welt stellt die Selbstverständlichkeit des biederen Bürgerhaushalts auf die Probe. Für Anna ein Grund, endlich einmal nicht mehr „vernünftig“ zu sein und den Aufbruch in eine selbstbestimmte Zukunft zu wagen. Dass sie den Weg letztendlich nicht geht, ist kein zagender Rückzug in die Welt ihrer Eltern, sondern einer Erkenntnis geschuldet: Iduna öffnet dem Mädchen den Blick darauf, wie brüchig der Glanz, wie einsam das Leben in der Zirkusluft sein kann. Und ermöglicht ihr damit, sich zu entscheiden, statt aus dem Impuls der Bezauberung zu handeln.

Dieser Prozess einer Selbstvergewisserung macht das Stück heute noch aufführenswert – abgesehen von der Fülle charmanter Musik, die Paul Burkhard für das „Feuerwerk“ eingefallen ist. Steffen Müller-Gabriel lässt die Hagener Orchestermusiker oft zu dick auftragen, da hilft auch die misslungene Verstärkung nicht, die etwa Dagmar Hesses (Mutter) Stimme verzerrt, Scheiders Obolski mit polterndem Vibrato dominieren lässt und der Iduna Ruth Ohlmanns ein ältlich-heiseres Vibrato aufdrückt. So bleibt der musikalische Eindruck dieser sympathischen Produktion am Stadttheater Hagen leider unnötig getrübt.




Die Wiener Symphoniker in Essen: Sachte pocht das Schicksal …

Die Wiener Symphoniker waren auf Tournee in Deutschland, unter anderem in Köln, Düsseldorf und Essen. Mit Alison Balsom, neben Tine Thing Helseth eine der jungen Startrompeterinnen der Klassik-Szene, und mit Gerhard Oppitz, dem gereiften, stets gesetzte Ernsthaftigkeit ausstrahlenden deutschen Pianisten.

In der Essener Philharmonie präsentierte das Orchester unter Dmitrij Kitajenko ein durch und durch wienerisches Programm: Beethovens Fünfte und Haydns Trompetenkonzert. Dazu die „Rosenkavalier“-Suite als kleinen Vorgeschmack auf das Strauss-Jahr 2014; eines der Stücke, in denen sich der nostalgische Blick auf ein barockes Ideal-Wien erfüllt. Der nächste Strauss-Jahr „Preview“ wird übrigens schon am 12. März geboten: Das Nederlands Philharmonisch Orkest spielt dann in der Essener Philharmonie die „Alpensinfonie“.

Doch vor dem „Rosenkavalier“ pochte es erst wieder einmal an die imaginäre Pforte, das legendäre Schicksal: Kitajenko ließ das so berühmte wie unscheinbare Beethoven’sche Motiv jedoch nicht die künftigliche heroische Entwicklung dräuen, sondern setzte es in luftigem Piano in den Saal, ließ das Orchester dann ein dumpfes Forte spielen und hatte eigentlich erst im Seitenthema den „Bogen“ raus: Die Wiener ließen es in ihrem sanften, unverwechselbaren Streicherklang erblühen; auch die warmen Holzbläser weckten schönste Erwartungen.

Instrumental wurden die auch eingelöst, „szenisch“ allerdings nicht immer: Beethovens suggestive Rhetorik ließ Kitajenko ziemlich kalt. Er befrachtete das Eingangsmotiv nicht mit poetisch-romantischer Schwere, sondern beließ es bei dem Hinweis auf seine zunehmend strukturgebende Bedeutung. Das war eher ein Beethoven aus dem Geiste Haydns, weniger jener politisch-musikalische Feuerkopf, der in seine Fünfte Symphonie ungeniert französische Revolutionsmusik einbaute.

Neben den Details, in denen sich Kitajenko als genau beobachtender, konzeptuell denkender Kopf erwies, neben spannenden Crescendi und Momenten schwungvoller Frische stand eine merkwürdige Erschlaffung von Beethovens hochgespannter Idee: die drängende Dynamik, das ungeduldige Losbrechen aus Stauungen, der stürmerische Gestus blieben altmeisterlich distanziert.

So wechselte man ohne Bruch zu Haydn hinüber: Der hatte im Wien des Jahrhundertwechsels 1800 andere Revolutionen im Sinn als sein Kollege drei Jahre später. Er schrieb für Anton Weidingers „Klappentrompete“, die damals eine aufmerksam registrierte, grundlegende Verbesserung dieses Blechblasinstruments brachte. Haydn kostet die Innovation genüsslich aus und verwandelt die Trompete zu einer Primadonna, der er musikalische Kabinettstückerln geschrieben hat, wie sie die Zuhörer wohl aus der letzten opéra comique im Ohr hatten.

Für Alison Balsom genau das richtige Material, um souveräne Könnerschaft zu demonstrieren, von virtuosen Sprüngen bis zum schmeichelnden Dolce, vom tackernden Staccato bis zum kantablen Legato, vom schmetternden militärischen Fanfarenklang bis zu einem Piano, dessen Süße jedem Wiener Zuckerbäcker Konkurrenz androht. Dass Balsom auch anders kann, dass sie auch die „schmutzigen“, zwielichtigen Töne beherrscht, zeigte sie nach dem begeisterten Beifall in Astor Piazzollas „Libertango“ als Zugabe.

Im „Rosenkavalier“ schien sich Kitajenko eher in die derbe lerchenauische Ochsen-Gemütlichkeit verguckt zu haben als in die wehmütig verblassende Rokoko-Finesse der Marschallin und ihres Liebhaber-Buben. Recht behäbig zeigt schon das Hornsignal zu Beginn, dass wir mit dem Beisl rechnen müssen, weniger mit dem Ballsaal. Für ein rundum farbenfrohes Porträt des rustikalen Barons freilich ließ Kitajenko das Metrum zu wenig schlendern; auch der Kontrast zur Raffinesse der gläsern-ätherischen Welt der „Silbernen Rose“ erinnerte eher an den Stil einer ländlichen Skizze als an eine verfeinerte Silberstift-Zeichnung.

Die herzlich applaudierenden Zuhörer in diesem wieder fast ausverkauften „Pro Arte“-Konzert schickten Kitajenko und die Wiener Musiker dann „Ohne Sorgen“ ins „Krapfenwald’l“, wo der Kuckuck auch mal aufwärts schlägt und die Vogerln tirilieren: die Strauß-Polkas erweisen sich eben immer wieder als Sorgenkiller und Stimmungsraketen!




Mit saftigem Klang ins Neue Jahr

Neujahrskonzert der Essener Philharmoniker unter Stefan Soltesz

Schüsse in der Philharmonie! Schrecksekunden im Publikum, aber dann Aufatmen: Gefeuert hat nur der Schlagzeuger, passend zu Johann Strauss‘ Schnellpolka „Auf der Jagd“. Bei einem zünftigen Treiben, wie es Stefan Soltesz und die Essener Philharmoniker zu Jahresbeginn entfesselten, da knallt es eben auch einmal. Nicht immer geht’s beim Walzer-Meister so gemütlich zu wie in der „Annen-Polka“. Aber die ist ja auch keiner fröhlichen Jagdgesellschaft gewidmet, sondern der Kaiserin Maria Anna Carolina Pia von Savoyen, Gattin Kaiser Ferdinands I. Bei solchen allerhöchsten Herrschaften zügelt auch der Essener Generalmusikdirektor, selbst ein waschechtes k.u.k.-Kind, sein Temperament.

Bei Franz von Suppé hat er das nicht nötig: Der komponierende Edelmann aus Dalmatien hat zu seinen leider vergessenen Operetten schwungvolle Ouvertüren geschaffen. Diejenige zu „Leichte Kavallerie“ trumpft mit einem frisch-flotten Bläsersignal auf, kennt aber auch den „ungarischen“, dunkel-schweren Streicherklang: eine Mischung, bei der Soltesz dem Orchester saftige Klänge entlockt.

Ein Signal bildet auch den Kern einer anderen Komposition eines Wahl-Wieners: Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nummer drei eröffnete das Konzert – und Soltesz ließ das Thema aus einem lyrischen Grundimpuls heraus erblühen, animierte seine Streicher zu wundervoll anschwellenden Crescendi, als wolle Beethoven seinem Zeitgenossen Rossini Konkurrenz machen. Es geht eben nicht ohne Beethoven zum Jahreswechsel …

Ein Moment des Innehaltens sollte zur Neujahrs-Fröhlichkeit dazugehören. Die Philharmoniker bauten dafür Edvard Griegs a-Moll-Klavierkonzert in ihr Programm ein. Boris Giltburg, 27-jähriger russisch-israelischer Debütant, gab dem träumerischen Mittelsatz viel Delikatesse, lockere Phrasierung und milde Pastellfarben im Anschlag mit. Giltburg hat schon bei seinem Debut in der Region beim Klavier-Festival Ruhr 2011 in Dortmund Eindruck hinterlassen und konnte schon 2006 als 21-Jähriger ein CD bei EMI veröffentlichen. Auf der neuesten Box der Edition Klavier-Festival Ruhr ist ein Ausschnitt aus diesem Konzert veröffentlich: Giltburg spielt Franz Liszts „Leggierezza“.

Wer am Fernsehen das Silvesterkonzert aus Berlin mit Jewgenij Kissin und Griegs Konzert mitverfolgt hat, wird bestätigen: Giltburg fehlen noch ein paar raffinierte Farben, aber seine Darstellung muss sich vor Kissins reifer Deutung nicht verstecken.

In Gershwins „Rhapsody in Blue“ verbannt er den Swing in schnellen Passagen zugunsten selbstbewusster Virtuosität etwas in den Hintergrund, ließ sich aber in tänzerischen und gesanglichen Momenten auf das elastische Spiel mit den Notenwerten ein. Soltesz und die Philharmoniker traten „unter Donner und Blitz“ ab, nicht ohne dem unverwüstlichen, dem Feldmarschall Radetzky gewidmeten Mitklatsch-Klassiker schmetternde Reverenz erwiesen zu haben.