Das Schöne muß sterben: „Übergewicht, unwichtig: Unform“ von Werner Schwab im Dortmunder Theater

Leichenschmaus. Szene mit (von links) Christian Freund, Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Amelie Barth und Uwe Rohbeck. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

„Übergewicht, unwichtig: Unform“: Das alliteriert sehr schön und sollte einen auf keinen Fall zu einem Deutungsversuch verleiten. Was nicht bedeutet, daß diesem Stück und seinem Titel kein Sinn innewohnte, doch der erschließt sich besser im Zusammenhang, und dann auch eher assoziativ. Am Sonntag war Premiere von Werner Schwabs „Übergewicht…“ auf der Dortmunder Studiobühne.

Schwab, der 1994 mit gerade einmal 36 Jahren starb, schrieb Erfolgsstücke wie „Die Präsidentinnen“, „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ und eben „Übergewicht…“ in seinen letzten Lebensjahren. Er galt unter den Theaterautoren als Enfant terrible, Provokateur und Punk, in seinen Stücken wird viel gekotzt, geprügelt, geblutet, gemordet und gestorben, gesellschaftliche Fallanalysen sind sie mit maximaler Negativwertung.

Kneipenszene mit (von links) Wirtin (Amelie Barth), Karli (Frank Genser) und Schweindi (Andreas Beck). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Nüchterne Kneipe

Da ist es geradezu erstaunlich, in welchem vergleichsweise nüchternen Setting Regisseur Johannes Lepper sich dem Schwabschen Kosmos der Abgründigkeiten nähert. Spielort – Lepper sorgte auch für das Bühnenbild – ist eine auch auf den zweiten Blick noch ganz anheimelnde Kneipe, in der ein Fernseher unbeachtet vor sich hin flimmert, zwei Paare an Tischen hocken, ein graues Männchen über gesellschaftliche Verhältnisse doziert und ein Mensch namens Fotzi mit obszön kurzem Kleid in der Ecke hockt.

Verkommene Gesellschaft

Lehrer Jürgen (Uwe Rohbeck) und Fotzi (Christian Freund) sind auf ihre Art auch so etwas wie ein Paar, „Es“ und „Über-Ich“ könnte man in trivial-freudianischer Terminologie vielleicht sagen, einander bedingend. Das Paar zur Linken sind Karli und Herta (Frank Genser und Friederike Tiefenbacher), er schlägt sie, wenn er sie vögelt, und auch, wenn er sie nicht vögelt.

Die anderen beiden sind Schweindi und Hasi (Andreas Beck und Marlena Keil), beide adipös. Beide stricken Strampler, doch mit der Elternschaft will es nichts werden, weil Schweindi bei Hasi keinen hochkriegt, er scheint eher pädophile Neigungen zu haben. Amelie Barth schließlich ist die Wirtin und als solche zunächst in einer Art Moderatorenrolle, kurzum: ein repräsentativer Querschnitt durch Werner Schwabs verkommene, verrohte, verlogene (europäische?) Gesellschaft.

Ach ja, nicht zu vergessen das dritte (bzw. vierte) Paar: Verliebt hocken sie lange Zeit weiter hinten, haben Augen nur füreinander (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul).

Karli (Frank Genser, stehend) ist gewalttätig. Szene mit Herta (Friederike Tiefenbacher, vorn), Wirtin (Amelie Barth, hinterm Tresen) und dem verliebten namenlosen Paar (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul, im Hintergrund (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

„Schwabisches“ Schwafeln

Nun, Schwabsches Kneipengeschwafel weist in Schwabs kunstvollem, an eigenen subtil-treffsicheren Wortneubildungen reichen „Schwabisch“ durchaus einige Leckerbissen für Sprachverliebte auf, ist aber für sittenstrenge Theatergänger auch eine Last. Denn ebenso ist „Schwabisch“ grob sexualisierte Fäkalsprache. Beleidigungen, Entwertungen und Entwürdigungen reihen sich, und irgendwann fragt man sich auch als hartgesottener Theatergänger, warum sie nicht endlich mal aufhören mit dem ätzenden Streß, wenn doch endgültig, endgültig alles gesagt, geflucht, geschrieen und herausgekotzt ist.

Gleichzeitig empfindet man Mitleid mit diesem Autor, der nicht lassen kann von seinen Obsessionen und dem auch die Sprache nicht zur Überwindung hilft, so kunstvoll sie ist.

Der Leib des Herrn

Ein Thema zum mindesten gibt es bei alledem schon, und das nicht erst, wenn die Kneipenbande das verliebte Paar im Hintergrund massakriert und auffrißt. Der Untertitel weist den Weg. „Ein europäisches Abendmahl“ hat Schwab sein Stück da genannt, und tatsächlich kreisen die wüsten Phantasien und Gewaltexzesse, weihnachtlich passend, relativ konstant um das christliche Motiv der Hingabe des Leibes zum Zwecke der Erlösung und um die Inkorporation desselben – hier nur eben nicht in Gestalt der Abendmal-Oblate, sondern entschieden realistischer.

Das wirft die Frage auf, warum das unschuldige Opferpaar dran glauben muß, aber wahrscheinlich ist eben gerade ihre (gemutmaßt) unschuldige Liebe dem Kneipenvolk so unerträglich, und von der geringen Lebenserwartung schöner, wilder Rosen weiß man nicht erst seit Nick Caves Lied. Schönheit muß sterben; warum soll man immer nur Toastbrotscheiben essen, wie Schweindi nicht müde wird zu postulieren, wenn man es auch in echt haben kann?

Und so läßt sich recht mühelos assoziativ einiges weiterspinnen von dem, was im Stück angelegt ist und was Johannes Lepper mit dieser Einrichtung übersichtlich und notabene nur mit den traditionellen Mitteln des Sprechtheaters (ohne Video) auf die Bühne stellt.

Fotzi (Christian Freund) provoziert das namenlose Paar (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Herta hat nicht mitgemacht

Herta übrigens hat nicht mitgemordet, um auch das noch zu erzählen, sondern nur vom Kneipentresen aus das kannibalische Gemetzel mit angesehen und kommentiert. Mit dem Fortgang der Handlung macht sie das nun zur Heiligen im Brautkleid, der die anderen die Füße küssen müssen. Die derben Anspielungen auf Schweißfüße und flutschigen Hundekot, in den Herta so gerne tritt, sind nur schlichte Ablenkungsmanöver und verfangen nicht; tatsächlich sind wir auch hier wieder mittendrin in der christlichen Schuld-Unschuld-Erlösungs-Mythologie, die dem Autor offenbar keine Ruhe gibt. Vielleicht, weil sie nicht funktioniert und nichts Schreckliches verhindert hat in den zweitausend Jahren ihres Bestehens. Da hätte er natürlich recht mit seiner unstillbaren Wut.

Doch im Jahr 1991 ist Schwab damit eigentlich spät dran, 20, 30 Jahre früher hätte man sich trefflicher und letztlich auch überzeugender über diese Dinge echauffieren können. Man denke da nur an Thomas Bernhards bebende Wut auf Pfaffen, Lungenärzte und Bürokraten, die trotz eindrucksvoller Sprachgewalt nie zu besiegen, höchstens für einige Zeit zu bändigen war.

Wiederauferstehung

In der letzten Szene ist das nette Paar dann wieder da, sitzt jetzt sogar an einem Tisch in der Mitte der Bühne und tritt entschieden offensiver auf als zuvor. Über die anderen Gäste, hilflos und lächerlich in ihren Obsessionen verfangen, lachen sie, und schließlich gehen sie wie Sieger aus der Kneipe. Das Motiv der Wiederauferstehung hat Schwab ähnlich auch in der „Volksvernichtung“ bemüht, alles nur Theater, man mag seine Schlüsse daraus ziehen.

Fazit: Johannes Leppers Inszenierung vermag in Dortmund mehr zu überzeugen als das mit seinen 26 Jahren schon etwas angestaubt wirkende Stück. Eine Freude ist die Wiederbegegnung mit geschätzten „alten“ Ensemblemitgliedern: Uwe Rohbeck, Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser und Friederike Tiefenbacher.

Doch auch einige neue Gesichter bleiben in guter Erinnerung: Amelie Barth, Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul. Christian Freund schließlich ist seit dieser Spielzeit Mitglied des Dortmunder Ensembles.

  • Weitere Termine „Übergewicht, unwichtig: Unform“:
  • 23.12.2017 — 7., 10., 21., 26.1., 18.2., 8.3. und 10.6.2018
  • www.theaterdo.de



Wenn Ibsen uns anbrüllt – Volker Lösch murkst in Oberhausen den „Volksfeind“ mit Skandal-Gehabe ab

Von Bernd Berke

Oberhausen. Sieben rote Laufbahnen auf ansonsten leerer Bühne streben stracks auf den Zuschauerraum zu. Es sieht so aus, als könnte hier gleich eine Sprint-Konkurrenz beginnen. Tatsächlich kommt man fix aus den Startblöcken, und die Ziellinie ist auch zeitig erreicht: In knapp 90 Minuten ist das Stück abgetan, bei dem es sich um Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“ handeln soll.

Der Kleinstadt-Arzt Dr. Stockmann hat entdeckt, dass das Wasser aus der Heilbad-Quelle des Ortes verseucht ist. Diesen Umweltskandal will er sogleich in der Zeitung publik machen. Der Redakteur ist Feuer und Flamme, schwingt linksradikale Phrasen. Auch alle anderen wollen den Arzt lauthals unterstützen. Doch Stockmanns Bruder ist Bürgermeister und vertritt touristische Interessen. Nach und nach kippen die Opportunisten um und huldigen der Stadtspitze im Namen einer „kompakten Majorität“. Als wär’s ein Stück von heute.

Grotesk gehetzte Figuren eilen über die Laufbahn

Unter der Regie von Volker Lösch geht alles rasch und lärmend vonstatten. Die eingangs erwähnten Laufbahnen (Bühne: Carola Reuther) werden weidlich genutzt. Die Figuren, grotesk gehetzt von Karriere-Geilheit und ökonomischen Zwangslagen, sausen hier ständig auf und ab wie in einer schrillen Spielshow. Sie kommen kaum zu Atem, mithin nicht zur Sprache. Deshalb müssen sie Ibsen japsen – oder bellen, brüllen und juchzen.

Dennoch: Bis zu einem gewissen Grad sind Bewegungsabläufe und Figurenzeichnung stimmig angelegt. Prägnant arbeitet Jeff Zach das Doppelwesen des beileibe nicht nur edlen Stockmann heraus. Der Doktor ist von seiner Öko-Mission so erleuchtet, dass fiebriger Glanz in seinen Augen glimmt. Auch Frank Wickermann als Bürgermeister findet zur ansehnlichen Parodie amtlichen Krisengejammers, mit kaum verhohlenen Drohungen unterfüttert.

Doch dann wird das Stück brachial abgemurkst: Um uns zu beweisen, dass in Dr. Stockmann ein verbaler Amokläufer steckt, lässt Lösch ihn gegen Ende (assistiert von der Ehefrau und der ihm fast inzestuös ergebenen Tochter) eine rabiate Volks(feind)-Rede auskotzen, direkt vor die Zuschauer hin. Es ist eine kalkulierte Überschreitung des reinen Spiels. Und darauf darf man entsprechend antworten.

Zuschauerinnen per Zuruf als „Fotzen“ bezeichnet

Merke: Wir alle, die wir da ach so bräsig sitzen, sind jene Stimmvieh-Idioten, die nichts tun gegen herrschende Mächte. Gewiss treiben diese famosen Theaterleute unterdessen täglich die Revolution voran, nicht wahr? Leider muss Klartext her: Nicht nur pauschal, auch per Einzelzuruf werden Frauen im Zuschauerraum als „Fotzen“ bezeichnet, zudem krähen die Schauspieler, dass sie in diesem „verfickten Saal‘ nicht auftreten wollen. Ach, dann lasst es eben bleiben! Müßig zu erwähnen, dass Stockmann sich bei seiner wüsten Tirade splitternackt auszieht und sich wie ein geschundener Christus geriert. Vermutlich dient auch dies der Wahrheitsfindung.

Geradezu putzig, dass Intendant Johannes Lepper die Abonnenten brieflich vorgewarnt hatte. Einige Premierenbesucher taten der Truppe den offenbar heiß ersehnten Gefallen, Reißaus zu nehmen. Andere gaben sich abgebrüht, manche lachten. Mit ungleich minderen Mitteln ausgestattet als vor Jahrzehnten Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“, feiern hier ausgeleierte, kläglich ins Leere laufende und niemals ironisch gebrochene „Provokationen“ schaurige Auferstehung. Welch ein bequem subventioniertes Skandal-Gehabe!




Macbeth auf der Suche nach dem Kick – Intendant Johannes Lepper inszeniert Shakespeare im Schlosstheater Moers

Von Bernd Berke

Moers. Überall wabert der Bühnennebel, und die Scheinwerfer leuchten so schockfarbig wie in einem Rock-Schuppen der frühen 70er Jahre. Es scheint, als hätte man Shakespeare mitsamt seinem „Macbeth“ unter Drogen gesetzt.

Fremder und ferner als Shakespeares elisabethanisches Zeitalter kommt einem dieser Einstieg im Schlosstheater Moers vor. Die Stimmen der Hexen, die Macbeth auf magisch-doppeldeutige Art den Aufstieg zum Königtum prophezeien, ertönen mit Verzerrer und Echo-Hall. Sodann verheißt der alte Beatles-Song „For the Benefit of Mr. Kite“ eine bizarre Show mit allseits garantiertem Vergnügen. Um im Genre zu bleiben: sozusagen „Best of Macbeth“ mit ein paar BonusTracks. Yeah!

Hausherr Johannes Lepper (auch Bühnenbild) hat das blutige Drama von der entgrenzten Machtgier tatsächlich inszeniert, als sei’s eine Show-Improvisation, eine mal lässige, mal überdrüssige, mal hysterisch aufwallende Probe aufs bereits tausendfach in Theatern gespielte Exempel.

Sie streiten wie im Kasperletheater

Seine nicht immer trefflichen Bilder sucht und findet dieser „postmoderne“ Zugriff zwischen Rock und Pop, Horror- und Gruftie-Ästhetik, Pornofilm und Variété, Comic und Hollywood-Kitsch. Sogar ein Bingo-Spielchen gehört zum Repertoire. Gewiss: Die winzige Bühne erlaubt keinen Panorama-Stil,. keine weitläufigen Aktionen, sie nötigt zum theatralischen „Tunnelblick“, zum (womöglich frechen) Konzentrat.

Offenbar haben alle Darsteller „Hier!“ gerufen, als es an die Besetzung der Hauptrollen ging. Lepper hat ihnen die Gunst erwiesen. Er lässt den Macbeth gleich von drei Schauspielern (Mike Hoffmann, Frank Wickermann, Jeffrey Zach) geben und verteilt die blutrünstige, ihren Gemahl zu etlichen Morden aufstachelnde Lady Macbeth auf zwei Damen (Stella-Maria Adorf, Sabine Wegmann).

Erst Athlet, dann Hänfling, dann Berserker

Aus dieser Mehrfach-Besetzung erwächst eher ein sich abnutzender Effekt als wahrer dramaturgischer Ertrag: Macbeth taucht zunächst als aggressiver Athlet auf, sodann als flatternd nervöser Hänfling, schließlich als wahnwitziger Berserker. Man könnte derlei Wandel auch spielen, doch hier herrscht Körper-Wechsel. Jede Identität ist eben dahin. Nun ja, so mag es denn zeitgemäß sein.

Mit seinen Armen imitiert Macbeth immer wieder angriffslustigen Flügelschlag, und er stoßt die Drohrufe eines Erpels aus. Ein Inbild der Gewalt-Anmaßung. Lady Macbeth, in ein blutrotes Kleidchen gehüllt und immerzu einen roten Ball in den Händen, tollt mit ihm zuweilen wie ein unartiges Kind umher. Dann wieder treiben sie’s gar ruppig. So sucht man den tierischen Kick, so geilt man sich auf zur nächsten Untat.

Und immer wieder hauen sie einander mit aus Zeitungen gekniffelten Papier-Pritschen, als würde Kasperle aufs böse Krokodil eindreschen. Da kann auch der edle König Duncan nur noch den lächerlichen Popanz im Schottenrock mimen.

Huldigungen nach Art eines Disney-Films

Und nicht etwa der gütige Malcolm wird am Ende neuer Regent, sondern Macduff nimmt, nachdem er Macbeth erstochen hat, die Huldigungen entgegen – bonbonbunt beleuchtet wie in einem Disney-Streifen. Merke: Mord ist Macht, und Macht ist Mord. Und die Show geht weiter.

Im Grunde aber sind all diese Gestalten nur bleiche Wiedergänger. Auf einem Bildschirm huschen zudem ihre flüchtigen Schatten einher. Vom Piano tröpfeln derweil melancholische Akkorde.

Etwas haltlos schien bisweilen die Inszenierung in ihrem Jux, aber auch in ihrem ernsten Drang. Doch selbst das Geschrei, in dem manche Textstelle markig hervortrat, manch andere jedoch unterging, scheint letztlich geisterhaft zu verwehen. Genau da horcht man plötzlich auf.




Die Ichsucht als bizarrer Horrortrip – Ibsens Drama „Peer Gynt“ in Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Mit Selbstfindung und Selbstverwirklichung ist das eine ziemlich zwiespältige Sache. Mag sein, daß man tief „drinnen“ seelische Quellen findet, man wird aber wohl auch in Abgründe blicken. Besonders davon handelt „Peer Gynt“, Henrik Ibsens großes Drama einer durch die halbe Welt irrlichternden lchsucht.

Mit diesem Stück, in pathetischen Zeiten volltönend „Faust des Nordens“ genannt, setzt ein Theater manches aufs Spiel. Eine mittelgroße Bühne wie in Oberhausen muß da schon alle verfügbaren Kräfte in die Waagschale werfen.

Zu Beginn des etwa vierstündigen Abends sehen wir Peer Gynt als jugendlichen Aufschneider, der vor seiner Mutter Aase mit neuen Un-Taten prahlt. Dieser Kindskopf erzählt von sich wie von einer Comic-Figur. Doch unbekümmert ist er nicht. Der beachtliche Frank Wickermann läßt bereits spüren, daß es diesen Peer Gynt nicht in der dumpfen norwegischen Enge halten wird, daß er ausbrechen wird ins Unbedingte. Von einem Klettergerüst aus schreit er es in die Welt hinaus: Nichts Geringeres als „Kaiser“ will er werden – und sein Ich schrankenlos ausleben. Auch Ulrike Schloemer als Mutter Aase zeigt einen Widerstreit der Empfindungen: den Stolz der verarmten Witwe ob der unbändigen Kraft ihres Sohnes, aber auch eine gewisse Empörung ob seiner Verfehlungen. Sie könnt‘ ihn verwemsen und herzt ihn doch.

Kugelrunder König der Trolle auf Bierkästen

Aases Mutterliebe trägt eben allemal den Sieg davon. Sie ist ebenso übers Irdische erhaben wie die Liebe der anfangs blutjungen Solveig (großartig, gläsern ätherisch: Sabine Wegmann), die lebenslang darauf harrt, daß Peer Gynt geläutert zu ihr zurückkehrt. Er wird es erst in der Stunde seines Todes tun, wenn der böse Taumel, der Horrortrip der Ich-Anmaßung vorüber ist.

Regisseur Johannes Lepper führt in der äußerst sparsam „möblierten“ Szenerie eine wimmelnde Fülle eingängiger Ideen und Bilder (Bühne: Martin Kukulies) ins Feld, um des ausufernden Stückes Herr zu werden. Peer Gynts Herkunftsprovinz erleben wir als deprimierendes Absurdistan, in dem Tattergreise, Säufer und Schläger ihr Unwesen treiben. Man versteht nur zu gut, daß einer dies alles hinter und unter sich lassen will.

Die einprägsamste Szene spielt im Zwischenreich der Trolle, die Peer Gynt für sich vereinnahmen wollen. Der auf gestapelten Bierkästen hereinrollende Trollkönig (Hartmut Stanke) ähnelt einem kugelrund aufgeblasenen Erich Honecker selig, sein kleiner Hofstaat einem quäkigen, dümmlich schlagerseligen Karaoke-Trüppchen. So könnte die Vorhölle aussehen.

Leider auch Blecheimer und Hüpfbälle

Auch später, wenn Peer Gynt (nun dargestellt von Andrea Bettini, der seiner Figur Überdruß und wissenden Zynismus verleiht) als Tatmensch, Seefahrer, Wüsten-Wanderer, Kriegsgewinnler, Sklavenhändler, Kolonialist und beinahe schon ein Faschist der Ichsucht in die Welt aufbricht, genügen sinnfällige Andeutungen. Die Szenen in Irrenhaus zu Kairo werden durch eine Live-Kamera verfremdet, was tatsächlich ästhetischen Mehrwert erbringt.

Freilich gibt’s auch jene theaterüblichen Blecheimer, in die Verzweifelte ihre Köpfe tauchen oder aus denen allerlei Ekliges rinnt. Und daß die drei Sennerinnen, die Peer Gynt unterwegs begattet, im grotesken NS-Mädel-Look von Männern gespielt werden, die auf Hüpfbällen die Bühne entern, erschließt sich kaum als Akt der Sinnschöpfung.

Obschon gelegentlich etwas zu sehr ins Bizarre vernarrt und nicht mit dem langen Atem für die volle Strecke begabt, beweist diese Inszenierung doch auch Sinn für leise Momente. Man merkt es in den Sterbeszenen, bei denen das Publikum schier den Atem anhält – um sich am Schluß in „Bravos“ Luft zu verschaffen.

Termine: 13., 16., 17. und 24. Januar. Karten: 0208/8 57 80.