Wie Eberhard Kloke in Essens Philharmonie Miltons „Verlorenes Paradies“ in Szene setzt

Ein ausgewaideter Oldtimer als Verlustsymbol, dazu Mahlers Musik und Endzeitgedichte von Heiner Müller. Foto: Sven Lorenz

„Paradise lost“: Ein ausgewaideter Oldtimer als Verlustsymbol, dazu Mahlers Musik und Endzeitgedichte von Heiner Müller. Foto: Sven Lorenz

Ein Wiedersehen mit Eberhard Kloke im Ruhrgebiet. Der Denker und Dirigent, Projektentwickler und Regisseur, Komponist und Arrangeur gibt sich die Ehre in Essens Philharmonie. Mit einer nahezu monströsen Collage aus Text, Bild, Musik, Installation und Performance. Nun, es geht ja auch um etwas. Um den gefallenen Engel, die Ursünde und die Vertreibung aus dem Paradies. Um einen Disput mit dem Teufel über die Existenz Gottes. Um Idylle und Zerstörung, Romantik und Realität. Kurz: Bei Eberhard Kloke geht’s mal wieder ums Ganze.

„Paradise lost“ heißt sein Programm, konzipiert nach dem gleichnamigen Gedicht des Briten John Milton, der in epischer Breite schildert, wie der Mensch aus dem Garten Eden verjagt wurde. Wir wissen um die Konsequenzen. Und Kloke führt sie uns in seiner dreiteiligen Inszenierung vor Augen, meißelt sie uns bisweilen in die Ohren, ja lässt sie uns an einer Stelle sogar riechen. Liebe, Glaube, Hoffnung – alles dahin. Kein Trost, nirgends.

Es beginnt mit Peter Schröder. Als Rezitator vorgestellt, ist er weit mehr: wunderbarer Schauspieler, exzellenter Wortakrobat und hinreißender Dialogpartner seiner selbst. „Seltsame Dinge werden geschehen“, zitiert er eingangs Edgar Allan Poe, um dann mit Heiner Müller ein langes Leben im Wohlstand dem Paradiese vorzuziehen. Später wird Schröder uns in aller Textverständlichkeit und Plastizität Milton nahebringen. Oder aus Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ den Alptraum Iwans – das halluzinierte Gespräch mit dem Teufel – aufs Schönste rezitieren.

Musikalisch setzt Kloke auf Werke von Charles Ives, Berlioz, Edgar Varèse, Ivan Wyschnegradsky, Mahler und Berg. Kein Ohrenschmaus im klassisch-romantischen Kontext also, vielmehr hochkomplexe Bekenntnismusik. Mit Ives’ „Dich, Gott, loben wir“, einer großorchestralen, klanggeschichteten, polyrhythmischen und vom Chor unterstützten Anbetung scheint die Welt noch in Ordnung. Doch der Brite schuf das Werk im Angesicht des 1. Weltkriegs. In Klokes Konzeptkonzert ist es also ein Dokument eben jener Zerstörung, die die Vertreibung aus dem Paradies auslöste. Zwei Naturbilder werden projiziert, wie aus dem Albumblatt. Dann fangen sie Feuer, bleiben angekokelt zurück: allüberall Symbolik.

Das ist penibel inszeniert, nichts scheint dem Zufall überlassen. Kloke setzt auf die Kraft von Bild und Ton, von Sprache und Licht. Das wirkt so intellektuell wie berauschend, erkenntnisfördernd wie verstörend. Zwischenbeifall weist der Künstler soweit möglich zurück. Ein bisschen, so scheint’s, setzt sich dieser freigeistige Macher auch selbst in Szene.

Schauspieler Peter Schröder in Aktion. Foto: Sven Lorenz

Schauspieler Peter Schröder in Aktion. Foto: Sven Lorenz

Vor seiner konzisen, zunächst absurd scheinenden, dann aber umso sinnfälligeren Performance namens „Über die Grenzen des All“ (das zweite der fünf Altenberg-Lieder Alban Bergs) darf allerdings getrost der Hut gezogen werden. Mulch bedeckt den Boden, gewissermaßen als stummer Zeuge ewigen Werdens und Vergehens, inmitten des kleinen Saals ein ausgewaideter Oldtimer. Schauspieler Peter Schröder, in der Kluft eines Automechanikers, sorgt sich offenbar um dieses Gefährt, berührt es mit sanfter Hand, umrundet es. Eine Art Götzenanbetung scheint dies, und dazu zitiert Schröder Endzeitgedichte Heiner Müllers. Währenddessen die exzellente Sopranistin Kim-Lillian Strebel in schillerndsten Farben frühe Mahler-Lieder interpretiert, Gesänge von Liebe, Tod und dem großem Weltenweh. Das achtköpfige E-MEX-Ensemble liefert dazu Klokes Instrumentalfassung, ergänzt durch elektronische Zuspielung, die dieser Performance die Aura des Imaginären verleiht. Ein Kammerspiel von Verlust, Verfall, Verzweiflung.

Die Videoinstallation „Parsifal reloaded“ hingegen, mit zerrupfter, fragmentierter Musik aus Wagners Erlösungsdrama, dazu Bilder vom Verfall in der Zivilisation, gehört zu jenen „L’Art pour L’Art“-Gebilden, die kaum mehr als ein Schulterzucken auslösen. Da widmen wir uns lieber der Mahlerschen Wunderhorn-Magie, wenn Kloke und Kim-Lillian Strebel noch einmal die frühen Lieder im großorchestrierten Arrangement ausdeuten.

Die Sopranistin , Dirigent Eberhard Kloke und die Essener Philharmoniker. Foto: Sven Lorenz

Die Sopranistin Kim-Lillian Strebel, Dirigent Eberhard Kloke und die Essener Philharmoniker. Foto: Sven Lorenz

Kein Trost, nirgends? Vielleicht liegt er eben in der Schönheit der Musik. Die Essener Philharmoniker jedenfalls glänzen nicht zuletzt mit Bergs Liedern, diesen meisterlich kolorierten Aphorismen, von der Mezzosopranistin Ezgi Kutlu feinherb gesungen. Exzellent musizieren im übrigen Bläser und Schlagzeug in Varèses „Déserts“ – pointierte Rhythmik trifft auf harsche, gleißende Klänge.

Am Ende darf gesagt werden: Dieses Konzeptkonzert ist im großen und  ganzen gelungen. Dank exzellenter Interpreten lässt sich das Publikum konzentiert ein auf dieses ungewöhnliche Format. Bemerkenswert auch, wie souverän sich das Orchester in der Neuen Musik bewegt. Damit setzt es ein Zeichen, das bereits in die neue Saison ragt. Es ist aber auch eine Verbeugung vor dem jetzt scheidenden Philharmonie-Intendanten Johannes Bultmann. Der sich der Moderne verpflichtet fühlt. Und wir halten es einmal mehr mit Nietzsche: „Ohne Musik ist das Leben ein Irrtum“.

Der Text ist zuerst in kürzerer Form im Westfälischen Anzeiger (Hamm) und in der WAZ (Essen) erschienen.




Lisztiana IV – Und wie hält er’s mit der Religion?

Franz Liszt, Fotografie um 1860.

Franz Liszt, Fotografie um 1860.

Die Musikwelt feiert heuer den 200. Geburtstag von Franz Liszt. Das Urteil über ihn scheint klar: der Frauenheld, der Tastenlöwe. Dass er 1865 die niederen Weihen erlangte, sich fortan Abbé nennen durfte – bestenfalls eine Laune. Oder eine Flucht in die Religion? Michael Stegemann, Professor für Historische Musikwissenschaft an der TU Dortmund, weiß zu differenzieren. Gerade hat er das Buch „Franz Liszt – Genie im Abseits“ veröffentlicht. Martin Schrahn sprach mit ihm über den tiefreligiösen, janusköpfigen Komponisten und über dessen kirchenmusikalisches Werk.

Es heißt, Liszt habe schon als Knabe den Wunsch geäußert, Priester zu werden. Ist das glaubwürdig, Herr Stegemann?

Michael Stegemann: Ich denke schon. Der Musikfeuilletonist Joseph d’Ortigue hat dies 1835 in der „Gazette musicale de Paris“ so dokumentiert und beruft sich auf Tagebücher von Liszts Vater.

Die allerdings verschollen sind.

Ja. Doch Liszt selbst hat diese Äußerung auch später noch bestätigt, gegenüber seiner Biographin Lina Ramann.

Was trieb ihn zu diesem Wunsch?

Er suchte Geborgenheit. Schutz im Schoß der Mutter Kirche, wenn Sie so wollen. Denn der Wunderknabe am Klavier, vom Vater durch die Salons gehetzt, war von seiner Mutter getrennt. Wir müssen dies aber auch vor dem Hintergrund sehen, dass Liszt in ein tief katholisches Haus hineingeboren wurde. Ganz bewusst wurde er auf den Namen Franciscus getauft.

Als der Vater plötzlich starb, 1827 in Boulogne-sur-Mer, hätte Franz seinem Leben die erwünschte Richtung geben können.

Theoretisch schon. Doch er musste sich um die Mutter kümmern, die ihm nach Paris nachgereist war. Auffällig aber ist, dass er noch vor dem Tod des Vaters ein Tagebuch begann – das nichts anderes war als eine Sammlung moralisch-religiöser Zitate und Maxime. Er las außerdem „Paradise Lost“, das epische Gedicht des Engländers John Milton.

Dann traf der Komponist in den 1830er Jahren den Abbé Félicité de Lamennais…

Und der Abbé und seine vom sogenannten Saint-Simonismus geprägten Schriften hatten enorme Bedeutung für die spirituelle und künstlerische Entwicklung des Komponisten. Saint-Simon vertrat die Meinung, Kunst und Religion sollten gleichermaßen den Menschen dienen. Er sprach quasi aus dem Geist der Juli-Revolution von 1830.

Und der Abbé?

War verantwortlich dafür, dass Liszt sich dem ernsthaften Komponieren zuwandte. Der Künstler habe die christliche Aufgabe, dem Menschen zu einem besseren Leben zu verhelfen, schrieb Lamennais. Der Komponist selbst wollte fortan zwei Maximen folgen: „Génie oblige“ und „Caritas!“. Das Genie ist verpflichtet, sich für die Kunst einzusetzen wie auch für die Menschen, die Hilfe brauchen.

Alles schön und gut. Aber gleichzeitig begann er die Affäre mit Marie d’Agoult, einer verheirateten Frau. Selbst nach deren Scheidung lebten sie quasi in wilder Ehe, hatten drei Kinder miteinander. Spricht das nicht gegen seine tief verwurzelte Religiosität?

Der Liszt-Forscher Michael Stegemann. Foto: Klavier-Festival Ruhr

In diesem Fall schließt das eine das andere nicht aus. Aus Briefen geht hervor, dass beide durchaus ein gemeinsames Bild von Religiosität hatten. Doch dazu gehörte eben auch Lebensfreude. Liszt hatte allerdings wohl nie die Absicht, Marie zu heiraten, das Verhältnis also zu legalisieren.

Doch später bei Caroline von Sayn-Wittgenstein waren die Hochzeitspläne keine Spielerei?

Nein, sie haben wirklich ernsthaft und über Jahre darauf hingewirkt. Und sie hätten es sich einfach machen können, nach Carolines Scheidung von ihrem Mann, dem Fürsten Nikolai von Sayn-Wittgenstein, Spross eines alten, aber verarmten litauischen Adelsgeschlechts, zum Protestantismus zu konvertieren. Doch sie wollten den Dispens des Papstes, also katholisch heiraten.

Was in letzter Sekunde vereitelt wurde. Warum?

Weil die Familie des Fürsten Hohenlohe – dem Mann von Carolines Tochter aus erster Ehe, Marie – ein übles Intrigenspiel anzettelte. Es ging um Geld und Besitz, Marie hätte nichts geerbt. Und das Sayn-Wittgensteinsche Vermögen in Form von Landbesitz, das Caroline von ihrem Vater geerbt hatte, war unermesslich groß.

Sie hat sich nach dieser Niederlage von der Kirche abgewandt, veröffentlichte sogar eine mehrbändige Abrechnung mit dem Vatikan. Wieso aber hat sich Liszt arrangiert?

Die Kirche war für ihn noch immer ein Schutzraum. Zeitweise lebte er in Rom sogar in einem Kloster. Bei aller Berühmtheit war er doch lieber für sich. Denn Liszt sah sich selbst als Gescheiterten. Sein Werk erfuhr Missachtung, die Beziehung zu Caroline verblasste nach und nach. Schon 1858 war er in Pest in den Franziskanerorden eingetreten.

Lassen Sie uns zur Kirchenmusik des Komponisten kommen. Warum taten sich die Zeitgenossen auch damit schwer?

Zunächst einmal: Liszts Werke auf diesem Gebiet zählen zum Wichtigsten des 19. Jahrhunderts. Seine Reform, die er auch theoretisch untermauert hatte, lief in Richtung einer musikalischen Ökumene. „Via Crucis“ etwa, eine Darstellung der Kreuzwegstationen Jesu, verknüpft gregorianische mit lutherischen Chorälen. Dieses späte Opus ist übrigens bestes Beispiel für den spröden, aber ungemein faszinierenden Altersstil Liszts. Es blieb, mit seinen Klängen, die weit in die Harmonik des 20. Jahrhunderts weisen,  unverstanden. „Via Crucis“ wurde überhaupt erst 1929 uraufgeführt.

Immerhin konnte er mit der „Legende von der Heiligen Elisabeth“ Erfolge feiern. Woran lag das?

Das Werk war eher volkstümlich religiös und protestantisch geprägt, orientiert an der deutschen Oratorientradition, etwa mit Blick auf Mendelssohns „Elias“.

Liszt, der Unverstandene, der Gescheiterte. Es heißt, er habe Selbstmordgedanken geäußert. Wie viel Wahrheit ist daran?

Wir müssen diese Äußerungen sehr ernst nehmen. Er schreibt dies etwa in einem Brief an Olga von Meyendorff, die er 1863 in Weimar kennengelernt hatte. Auch seine Biographin Lina Ramann bestätigte seine Lebensunlust. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass Liszt seit 1842 regelmäßig trank, schließlich zum Alkoholiker wurde. Ich wage zu behaupten, dass er im klinischen Sinne depressiv war.

Er genoss das Weltliche und flüchtete sich letzthin in die Religion?

Nein, diese Ebenen existieren gewissermaßen übereinander.  Das oft vorgetragene Bild, Liszt habe erst mit seiner Weihe zum Abbé zur Religion gefunden, ist falsch.

Auch das Komponieren von Kirchenmusik hat ja nicht mit dem Weihejahr begonnen.

Genau. Sein „Psaume instrumental“ (De Profundis) für Klavier und Orchester entstand schon 1834. Der 1833 begonnene, 20 Jahre später veröffentlichte Klavier-Zyklus  „Harmonies poétiques et religieuses“ ist tief religiös geprägt. Darauf folgten die großen kirchenmusikalischen Werke: die Graner Messe, Missa solemnis, das Oratorium „Christus“.

Blicken wir auf das Jubiläum. Warum wird des Meisters Kirchenmusik so gut wie gar nicht aufgeführt?

Insgesamt ist zunächst festzuhalten, dass überhaupt nur der geringste Teil von Liszts 800 Werken in Konzerten zu hören ist. Außerdem gilt: Kirchenmusik ist nicht cool. Der Hype des Virtuosen hingegen ist nahezu ungebrochen. Das Publikum jubelt, wenn sich junge Tastenzauberer etwa in die Ungarischen Rhapsodien stürzen.

Ist das der einzige Grund?

Nein, ein Problem ist natürlich auch, dass das kirchenmusikalische Werk wenig erschlossen ist. Es gibt keine kritische Notenausgabe. Und letzthin: Das gängige Liszt-Bild, das eines Superstars, ist doch bequem. Es gibt wenig Interesse, es zu korrigieren.

Kann das Jubiläumsjahr mit all seinen Publikationen und Sonderkonzerten nicht Abhilfe schaffen?

Vielleicht punktuell. Doch ich fürchte, dass nach dem Liszt-Jahr alles schnell vergessen sein wird.

 

(Das Gespräch wurde in ähnlicher Form in der „Tagespost“, Würzburg, veröffentlicht)