Ganz nah an den Wurzeln der Gewalt – Michael Hanekes phänomenaler Film „Code: Unbekannt“

Von Bernd Berke

Anne bügelt ihre Wäsche und sieht dabei fern. Die Kamera erfasst sie die ganze Zeit über frontal, wir sehen jede ihrer Regungen. In der Nachbarwohnung beginnt ein Kind zu wimmern. Die junge Frau stellt das TV-Gerät aus, hält inne und horcht. Ein Fall von Misshandlung nebenan?

Ihre Empfindungen schwanken. Doch nach ein paar Minuten wendet sie sich langsam wieder ihrem vorherigen Tun zu. Nun aber wirkt die vordem alltägliche Handlung nachhaltig verätzt. Später werden wir erfahren, dass die Nachbarstochter tot ist.

Regisseur Michael Haneke ist ein gnadenlos genauer Beobachter. Durchweg konfrontiert er uns in seinem phänomenalen Werk „Code: Unbekannt“ mit Episoden, in denen Gewalt gestaltlos droht oder sich entlädt. Die Figuren könnten wegsehen oder eingreifen. Ein wahrhaft dringliches Themenfeld.

Zwischen Ratlosigkeit und Zorn

Die prägnanten Sequenzen enden abrupt, mit scharfen Rissen und Sekunden der Dunkelheit, in denen Ratlosigkeit und Zorn nisten. Die Suchbewegung des Films richtet sich auf jenen „Code“, das System von Steuerzeichen, das hinter all diesen Vorfällen stehen könnte. Oder gibt es keine Regeln?

Sofort wird man in den Strudel gezogen. Jene Anne (beängstigend gut: Juliette Binoche) aus der Bügel-Szene, die wir später auch als Schauspielerin in einem Horrordrama erleben werden, redet dem Jugendlichen Jean zu. Der ist aus ländlicher Provinz geflohen und hat seinen Vater (Josef Bierbichler) zurückgelassen, der all sein Vieh töten wird. Weil er ohne Hof-Erben keine Zukunft sieht.

Dieser Jean also findet bei Anne, die mit seinem älteren Bruder Georges liiert ist, für ein paar Tage Unterschlupf. Nun zieht er los durch die Pariser Straßen – und entsorgt eine Brötchentüte, indem er sie achtlos einer Bettlerin in die bittend geöffneten Hände wirft. Entwürdigend! Der junge Farbige Amadou regt sich dermaßen darüber auf, dass er den Rücksichtslosen zwingen will, sich zu entschuldigen. Geschrei. Rangelei. Polizei wird geholt. Alle müssen mit zur Wache. Es ist der Anstoß für alles Folgende.

Nächste Szene: Starr blickt die Kamera auf eine Flugzeugtür. In lähmender Echtzeit sehen wir Passagiere einsteigen. Es ist eine gezielte Einlullung ins Banale. Schließlich taucht die Bettlerin von vorhin auf. Die Erkenntnis trifft einen nun blitzartig: Die Frau wird abgeschoben; eine schreiend ungerechte Konsequenz des Vorfalls mit der Tüte.

Aufgerüttelt oder abgestumpft?

Der Film fährt den Weiterungen nach, gleichsam mit weit aufgerissenen Augen missliche Verhältnisse betrachtend: in der Familie des jungen Farbigen, in der dumpfen Enge des Bauernhofs. im bitterarmen Rumänien (Herkunft der Bettlerin). Mit dem Kriegs-Fotografen Georges, der weltweit unterwegs ist und sich fragt, ob seine Bilder aufrütteln oder abstumpfen, nach welchen Code sie also wirken, kommt auch militärische Gewalt Betracht.

Und die Liebe? Im Hader mit seiner Freundin Anne gesteht der Fotograf, dass er noch nie jemanden glücklich gemacht hat. Haneke verlegt den Dialog in einen Supermarkt: Während die beiden konsumieren, erhitzt sich ihr Streit. Seelische Drangsal, mit Chips und Cola vermengt. Gegen Schluss wird Anne in der vollen U-Bahn von einem jugendlichen Araber angemacht, verhöhnt, bespuckt. Nur ein älterer Herr greift ein. In Annes Heulkrampf verdichtet sich das Menetekel dieses Films. Als sie durch städtische Kältezonen nach Hause wankt, wirkt sie so heimatlos wie die Bettlerin. Ungeschützt wie alle.

Ein Film, der keinen Trost birgt – und lange nachwirkt.




Gretchen, mir graut vor dir! – „Faust Wurzel aus 1 + 2″ von Christoph Marthaler bei den Ruhrfestspielen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Ein ranghoher Hamburger Politiker hat mal den Satz geprägt, er wolle „seine“ Klassiker auf der Bühne gefälligst wiedererkennen. Ha! Da wäre er bei Christoph Marthaler an den Falschen geraten. Der nämlich hat Goethes „Faust“ gründlich durch den Wolf gedreht. Die tollkühne Tat des Schauspielhauses Hamburg war bei den Ruhrfestspielen zu sehen.

Von Goethes Text kommen in „Faust Wurzel aus 1 + 2″, der verwegenen Variante des Schweizer Theatermachers, bestenfalls noch drei Prozent vor. Dafür sehen wir gleich scharenweise „Mephistos“ (für gewisse Kernbereiche der Figur sollen Siggi Schwientek und Ulrich Tukur stehen) sowie ein ganzes „Gretchen“-Quartett durch die fabrikhafte Szenerie stolpern. Rücklings auf dem Klappbett, haucht Fausts vierfaches Liebchen immer wieder im Chor seinen Vornamen: „Heinrich“. Gretchen, mir graut vor dir!

Marthaler, von Haus aus Musiker, traktiert die Vorlage wie eine unverbindliche Notenansammlung, der man beliebige Valeurs einhauchen kann, oder wie eine abstrakte mathematische Aufgabe, bei der bestimmte Formeln munter multipliziert werden, während komplette Ketten unter den Tisch fallen.

Gelegentlich ist’s wie ein Schülerscherz mit haßgeliebtem Bildungsgut: Von Fausts berühmten Monolog („Habe nun, ach…“) bleiben auf diese Weise nur die Vokale übrig, die wie dadaistische Bröckchen hervorgewürgt werden. Rein darstellerisch betrachtet ist das meisterlich, doch die kunstfertige Mühsal hat was arg Vergebliches.

Marthalers „Faust“ (Josef Bierbichler) schwankt – am Ende eines völlig desillusionierten Jahrhunderts – durch Alpträume. Gewiß hat er Kafka und Beckett gelesen, bestimmt weiß er von allen Katastrophen unserer Zeit. Und so erlebt er sein uraltes Drama als qualvoll leerlaufende Maschinerie aus Vervielfältigungen und Wiederholungen, als rohen Slapstick der Verzweiflung. Nach und nach splittert und zerbröckelt all das. Man vernimmt dann gleichsam nur noch das Röcheln, Stöhnen, Keuchen, Zischen und Blubbern aus der Ursuppe des Textes. Das trieb etliche Zuschauer vor der Zeit nach Haus…

Zudem steht Goethes Werk mal wieder unter strengem Verdacht unguten Deutschtums. Teutonischer Sang klingt bedrohlich gemütlich, „faustisch“ ist in dieser Lesart wohl eine Vorstufe von „faschistisch“. Fragt sich nur, ob aufgepfropfte Provokatiönchen als Bannfluch taugen.