Poetische Reise durch romantische Gefühlsgefilde: Ein Abend mit Sofja Gülbadamova in Haus Martfeld in Schwelm

Haus Martfeld, ein auf eine kurkölnische Burg zurückgehendes Rittergut, heute im Besitz der Stadt Schwelm und soeben für eine gute Million saniert, begrüßt in seinem Saal vier Mal pro Saison eine kleine, feine, von Mäzenatentum getragene Kammermusikreihe, künstlerisch verantwortet von Liviu Neagu-Gruber, Geiger im Wuppertaler Sinfonieorchester.

Sofja Gülbadamova. Foto: Evgeni Evtyukhov

Sofja Gülbadamova. Foto: Evgeni Evtyukhov

Zur Eröffnung der Reihe hatte er eine Pianistin eingeladen, die nicht nur eine Reihe von Wettbewerben gewonnen hat (da gibt es ja einige), sondern die sich durch Interesse an entlegenem Repertoire und durch eine klug bedachte Programmgestaltung auszeichnet: Sofja Gülbadamova hat etwa ein Doppelalbum mit Klavierwerken Ernst von Dohnányis herausgebracht, mit dem Wuppertaler Sinfonieorchester dessen Zweites Klavierkonzert eingespielt und ist mit prachtvollen Kritiken vom Husumer Festival „Raritäten der Klaviermusik“ heimgekehrt.

Nach Schwelm brachte Sofja Gülbadamova ebenfalls ein erfrischend unkonventionelles Programm mit: Sie kombinierte Miniaturen aus Edvard Griegs „Stimmungen“ op. 73 und seinen „Lyrischen Stücken“ opp. 12, 43 und 71 mit solchen des tschechischen Komponisten (und Schwiegersohns von Antonín Dvořák) Josef Suk. Dessen 1895 entstandene „Nálady“ („Stimmungen“) sind in der Haltung ähnlich: Sie suchen nach einem ursprünglichen, lyrischen Tonfall, einer Einfachheit, die hinter ihrer fasslichen Melodik die Raffinesse anspruchsvoller Harmonik zu verbergen versteht.

Ausgebildet in Moskau und Paris

Die aus Moskau stammende Pianistin, die ihre Ausbildung an der berühmten Gnessin-Musikschule begann und in Paris vervollkommnete, nähert sich diesen Kostbarkeiten mit dem unbedingten Willen, die stilistische Vielfalt im Detail und die Atmosphäre der musikalischen Stimmungsbilder wirken zu lassen. Der Ibach-Stutzflügel des Saales ist ihr dabei ein schwieriger, bisweilen störrischer Partner. Während nämlich der Bass wie eine stählerne Gitarre klingt, gibt es im Zentrum einen warmen, aber nicht immer gleichmäßigen Klang und im Diskant kühle Porzellantöne.

Die Pianistin, so der Eindruck, macht jedoch aus der Not eine Tugend und verwandelt den heterogenen Klang des Flügels in ein Element ihrer Interpretation. Das zeugt von Flexibilität des Anschlags, spontaner Reaktionsschnelligkeit der Finger, aber auch von souveränem Überblick: Keines der Stücke droht klanglich auseinanderzufallen. Das darf ein Steinway-verwöhnter Pianist erst einmal nachmachen!

Der Abend wurde auf diese Weise zu einer poetischen, teils schwärmerischen, teil doppelbödigen Reise durch die Gefühlsgefilde der Romantik. In der Grieg-Etüde op. 73/5 war die „Hommage an Chopin“ deutlich zu vernehmen – im Falle Sofja Gülbadamovas mit sensiblem Nachlauschen feinster Nuancen im Mikrokosmos eines gestalteten Tempos. Die Nummer vier aus Opus 73, ein „Volkslied“, nimmt den Habitus an, den der Titel einfordert, kleidet die kunstvolle Schlichtheit aber in adäquat kunstvoll abschattiertes Spiel. Ähnlich der „Elfentanz“ op. 12/4, bei dem die Mendelssohn-Anklänge unüberhörbar sind, aber im gläsernen Ton das Unheimliche durchschimmert.

Die unheimlichen Seiten des Waldes

Suk und Grieg umkreisen als Zentrum des Konzerts Robert Schumanns „Waldszenen“ op. 82. Nicht unbedingt ein beliebtes Konzertstück, da zu „einfach“ – es sei denn, man hört nach, was etwa Svjatoslav Richter aus solcher pianistischer Simplizität zu formen versteht. Bei Sofja Gülbadamova öffnet sich nach dem bewusst harmlos gefassten „Eintritt“ in den Fantasie-Wald Schumanns das Spektrum zwischen Idylle und Bedrohung, zwischen Geborgenheit und unbehaustem Schweifen.

Schon der „Jäger auf der Lauer“ fasst die unheimlichen Seiten des Waldes musikalisch: Der Beginn mit den bogengebundenen Triolen, die mit einem kraftvollen Akkord-Akzent gestoppt werden; das erste Crescendo mit den einmal betonten, einmal weich zu spielenden triolischen Tonrepetitionen, der rasche Fluss von Achtelketten, den immer wieder ein knallendes Martellato wie ein Schuss verstört: Die Pianistin ist in ihrem Element, wenn sie solche Momente gestalten kann, und sie lässt sich Zeit, diese „mystischen Blumen des musikalischen Zauberwalds“ wunderschön sich entfalten zu lassen.

Die Serie der Konzerte in Haus Martfeld in Schwelm wird fortgesetzt am Sonntag, 17. November, 17.30 Uhr: mit dem Mezzosopran Catriona Morison, dem Martfeld Ensemble und einem Programm, in dessen Zentrum vier Lieder und ein Streichtrio der bedeutenden englischen Komponistin der Romantik Ethel Mary Smyth (1858-1944) stehen.

Info: Tel.: 02336 / 801-273 oder -255, https://www.schwelm.de/bildung-kultur/kultur/veranstaltungen/martfeld-klassik/




Gewagt, gewonnen: Die Essener Philharmoniker glänzen mit Josef Suks Trauersinfonie „Asrael“

Das Böhmische Streichquartett mit Josef Sue, 2. Violine (2.v.l.). Eine Zeichnung von Hugo Boettinger (1907).

Das Böhmische Streichquartett mit Josef Suk, 2. Violine (2.v.l.). Eine Zeichnung von Hugo Boettinger (1907).

Es gibt sie zuhauf, die Kleinmeister unter den Komponisten. Nicht einmal unbekannt und zu ihren Zeiten oft durchaus beliebt, konnten sie letztlich nicht heraustreten aus dem Schatten der Großen. Bei Josef Suk (1874-1935) aber ist das anders, komplizierter.

Der Tscheche ist ein Meister seines Fachs, doch umfassende Popularität war und ist seinem Werk bis heute nicht vergönnt. Mancher kennt ihn wohl als Schwiegersohn Antonín Dvořáks, Zeitgenossen schätzten Suk als hervorragenden Geiger – im Böhmischen Streichquartett spielte er die 2. Violine. Doch „Asrael“, Suks Sinfonie für großes Orchester, einer dieser Monolithen der Musikgeschichte, ist eine absolute Repertoire-Rarität. Es gibt einige CD-Einspielungen, das Werk im Konzert zu erleben, ist jedoch kaum einmal möglich.

Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, ist gern auf außergewöhnlichen Repertoire-Pfaden unterwegs. Foto: Hamza Saad

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, ist gern auf außergewöhnlichen Repertoire-Pfaden unterwegs. Foto: Hamza Saad

Doch Tomáš Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, unermüdlich darin, die slawische (tschechische, böhmische) Musik in Oper und Konzertbetrieb als „neue Farbe“ zu verankern, ist das Wagnis eingegangen, „Asrael“ ins Programm zu nehmen. Gekoppelt mit Dvořáks beliebtem Cellokonzert, wird dieser Abend zum Erlebnis. Das Publikum hat den gewaltigen sinfonischen Brocken Suks mit heftigem, wenn auch kurzem Beifall aufgenommen. Das ist für Werk und Interpreten ein mordsmäßiger Erfolg – das fünfsätzige Stück durchzieht eine überaus komplexe Polyphonie, klingt modern trotz seiner Verankerung in der sinfonischen Tradition des 19. Jahrhunderts, entpuppt sich zudem als gewaltige Trauermusik.

Die abgrundtiefe Schwärze dieser Sinfonie, das bis zur Hysterie reichende Wüten der Welt, Todesmotiv und Trauermarsch, Hymnus und wild dreinfahrende Rhythmen, schließlich ein erlösender Choral, von Vogelstimmen geprägt und im Pianissimo entschwindend – all dies ist auf einen brutalen Schicksalsschlag in Suks Leben zurückzuführen. Denn nicht nur starb 1904 sein Schwiegervater Dvořák, sondern einige Monate später auch Suks Frau Otylka. „Asrael“, benannt nach dem Todesengel sowohl der mohammedanischen als auch der jüdischen Mythologie, geriet zum Requiem, das sich der Komponist in betäubender Trauer abringen musste.

"Der Todesengel". Gemälde von Evelyn de Morgan ()

„Der Todesengel“. Gemälde von Evelyn de Morgan (1881).

Über eine Stunde währt dieses gewaltige Lamento, nur von wenigen lichten Momenten aufgehellt. Doch so kompakt die emotionale Seite des Stückes wirkt, so übersichtlich ist die formale Gliederung. Suks Bekenntnismusik kreist nicht um sich selbst, hat also gewissermaßen Hand und Fuß. Mag auch die eine oder andere Steigerung das Plakative streifen, ist der Sinfonie doch ein ganz eigener Ton zu bescheinigen. Mit Mahler, wie oft geschrieben, hat das wenig zu tun, Dvořáks Sprache wiederum spiegelt sich lediglich in einigen Zitaten (aus dem Requiem, aus „Rusalka“). Und doch: „Asrael“ ist trotz aller Originalität kein Schlüsselwerk der Musikgeschichte.

Aber wie dem auch sei: Der Einsatz der Essener Philharmoniker für das Stück, die emotionale Hingabe des Orchesters, die Durchhörbarkeit des polyphonen Geflechts und das packend dramatische Spiel sind aller Ehren wert. Da ist nichts dem Zufall überlassen, eins greift ins andere, plötzliche dynamische oder rhythmische Wechsel sind sauber ausgearbeitet. Suks Sinfonie hat offensichtlich das Orchester zur Glanzleistung motiviert.

Zu berichten ist jedoch auch über einen glanzvoll musizierenden jungen Cellisten namens Narek Nakhnazaryan, der 2011 den Tschaikowski-Wettbewerb gewann und damit den Grundstein für seine Karriere legte. Hierzulande eher wenig bekannt, aber auf internationalem Konzertparkett schon sehr gefragt, überzeugt der armenische Künstler mit technischer Reife und blitzsauberer Intonation. Dvořáks Cellokonzert geht er zunächst ziemlich robust an – da scheint der Stil seines Mentors Rostropowitsch aufzublitzen.

Der Cellist Narek Hakhnazaryan. Foto: Marco Borggreve

Der Cellist Narek Hakhnazaryan. Foto: Marco Borggreve

Nakhnazaryan pflegt aber auch die expressive Lyrik und die zarten Nuancen. Der Ton seines Cellos mag nicht riesengroß sein, entwickelt jedoch beeindruckenden Ausdruck. Die dramatische Fallhöhe des Stücks loten Orchester und Solist gekonnt aus. Wie ein Draufgänger wirkt der Cellist, der sich gleichwohl Grenzen setzt. Überschwang ist nicht alles, auf die Feinheiten kommt es an. Davon hat Nakhnazaryan eine Menge zu bieten – wie entrückt scheint er dann in die Musik einzutauchen.

Eine große Kadenz, zum Beweis seiner außergewöhnlichen Virtuosität, bleibt ihm mit diesem Werk indes verwehrt. Doch die Zugabe, das Lamentatio des zeitgenössischen italienischen Komponisten Giovanni Sollima, eröffnet dem Solisten alle Möglichkeiten. Doppelgriffe formen eine Trauermelodie, von Vokalisen des Cellisten unterstützt, sie geht über in furiose Raserei und mündet in eine Art Tangorhythmus.

Danach großer Jubel. Es ist der Beifall eines Publikums, das den Weg Tomáš Netopils in Richtung des slawischen Repertoires beherzt mitgeht. Die Philharmonie in Essen war jedenfalls bei diesem 3. Sinfoniekonzert prall gefüllt. Dass Netopil, der vor drei Jahren in die großen Fußstapfen eines Stefan Soltesz trat, inzwischen einen Vertrag hat, der bis 2023 reicht, ist das richtige Signal. Und, mit Verlaub: Die Essener Philharmoniker sind als Konzertorchester noch besser geworden.

 

 




Ausflug nach Prag: Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker, halb geglückt

„Prag, goldene Stadt“ hieß das Motto des achten Sinfoniekonzerts der Essener Philharmoniker, und Tomáš Netopil nutzte die dramaturgische Steilvorlage kreativ. Die beiden der tschechischen Hauptstadt gewidmeten Werke zu Beginn und am Ende sind für deutsche Konzertbesucher ziemlich unerforschtes Terrain.

Karel Husa, der 92jährige in Prag geborene amerikanische Komponist, hatte 1968 unter dem Eindruck des sowjetischen Einmarschs seiner Heimatstadt ein tönendes Denkmal gesetzt. Dem Werk für ein Blasmusik-Orchester gab Husa eine sinfonische Fassung, die er nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1990 selbst in Prag aufführte.

Die andere Reminiszenz an die Perle an der Moldau stammt von Josef Suk. Den Spätromantiker (1874-1935) kennen Musikliebhaber trotz seines reichen Schaffens kaum. Seine sinfonische Dichtung „Praga“ von 1904 beschwört die Atmosphäre zwischen Vyšehrad und Hradschin mit üppigen Klangfarben und prachtvoller Instrumentation.

Beiden Werken ist gemeinsam, was sie auch mit einem Teil von Bedřich Smetanas „Mein Vaterland“ verbindet: Sie verwenden als grundlegendes Motiv das historische Lied der Hussiten „Ktož sú boží bojovníci“. 600 Jahre alt ist diese Gotteskrieger-Hymne, doch bis heute steht sie für das tschechische Nationalbewusstsein. Bei Karel Husa taucht die unverwechselbare rhythmische Figur aus dem Hussiten-Choral wie von ferne in der Pauke auf, durchzieht in wechselnden Instrumenten die vier Sätze und bestätigt sich machtvoll im Finale.

Die Musik erzählt eine Geschichte

Husa legt den Keim seiner klanglich exquisiten Kombinationen zu Beginn in einem schüchternen Flötensolo, der Klarinette, einer langsam anschwellenden Klangfläche und einer Trompetenfanfare, die einen Wendepunkt markiert: Die Dynamik entwickelt sich zurück, bis nurmehr ein schwebender Laut der gestopften Trompete und ein dünner Pianissimo-Faden verklingen. Die Musik, auch wenn sie heftig aufschäumt, scheint auf der Stelle zu treten, findet keinen Ausweg zu einer Entwicklung, scheint nur weiterzukommen, wenn sie sich in feine Einzelstimmen verzweigt.

Die Hatz aus abgerissenen Tönen und Motiven im „Interlude“ genannten dritten Satz, der festtönige Widerstand der Hörner, das Auffahren des rhythmischen Hussiten-Motivs und ein dagegen gesetzter Wirbel zweier militärischer kleiner Trommeln, schließlich ein vielstimmiges, geräuschhaftes Miteinander der Streicher und der Triumph des Chorals: Man ist geneigt, sich von der Musik eine Geschichte erzählen zu lassen, die viel mit dem politischen Leidensweg der Tschechen zu tun hat.

Ähnlich manifestiert sich das bestimmende Motiv des Hussiten-Chorals in der spätromantisch üppigen sinfonischen Dichtung „Praga“ von Josef Suk: Mit triumphalem Fortissimo beendet das Motiv ein Stück voll kraftvoller Klangfarben. Da zeigen die Philharmoniker noch einmal, was in diesem Orchester steckt: In einer fast unhörbaren Eröffnung von Harfe und Kontrabässen, in wuchtigem Cello-Marsch, in edlen Klarinetten- und Trompeten-Soli. Suk scheut das Pathos nicht, aber auch nicht die düsteren Farben: Auch das unheimliche Prag der Alchemisten und der finsteren Fanatiker, des Golem und der kafkaesken Gespenster tritt uns vor das musikalisch interpretierende Gehör.

In zwei von Mozarts in Prag komponierten Werken gelingt es dagegen nicht, einen überzeugenden Kontrast zur Moderne aufzubauen. Die Programmidee war glänzend, die Ausführung enttäuschend: Die „Prager“ Symphonie (KV 504) beginnt eigentlich mit einem ausdrucksintensiven Adagio, das aber bei Netopil ohne Atmosphäre und inneres Leben abläuft. Es fehlt der Blick auf die expressiven Bläserstellen, auf den Spannungsaufbau der Phrasen, auf die lebendige Rhetorik, auch auf die dräuenden Anklänge an die Welt des „Don Giovanni“.

Und zu allem Überfluss liefert die Pianistin Lauma Skride mit dem C-Dur-Konzert (KV 503) das wohl langweiligste Klavierkonzert seit langem ab: Sie spurtet flüssig durch das Werk der Passagen, der galanten Melodiebildungen, meidet im Rondo jede Spur eines variierenden Zugriffs oder eines Blicks auf expressive Trübungen oder Übergänge. Mozart’sche Rhetorik, Charakterisierungskunst oder der Charme der „Klangrede“ scheinen sie nicht zu interessieren. Von Netopil am Pult kommt kein Impuls; die Pianistin richtet auch keinen Blick nach links, um den Dirigenten oder die Orchestermusiker in ihr Spiel einzubinden. Mozart, ein Freund starker Worte, hätte das glatte, uninspirierte Spiel wohl so kommentiert: „Heruntergehudelt“.