Amor reist auf Französisch: Rarität von Joseph Bodin de Boismortier bei den Tagen Alter Musik in Herne

Das Ensemble der Aufführung von Joseph Bodin de Boismortiers "Wege der Liebe" in Herne: das Orfeo Orchestra, der Purcell Choir, Solisten und Dirigent György Vashegyi. Foto: WDR/Thomas Kost

Das Ensemble der Aufführung von Joseph Bodin de Boismortiers „Wege der Liebe“ in Herne: das Orfeo Orchestra, der Purcell Choir, Solisten und Dirigent György Vashegyi. Foto: WDR/Thomas Kost

Joseph Bodin de Boismortier hat sich kaum mit dem Musiktheater beschäftigt. Anders als sein Zeitgenosse, der geniale Harmoniker Jean-Philippe Rameau, hat er gerade einmal fünf einschlägige Werke hinterlassen; immerhin wurden drei davon am bedeutendsten musikalischen Institut der Zeit, der Pariser Académie royale, aufgeführt. Seinen Nachruhm hat sich der aus dem lothringischen Thionville stammende Komponist vor allem mit seinem Œuvre für Traversflöte gesichert.

Musik war im Uraufführungsjahr 1736 seines als „ballet“ bezeichneten Bühnenwerks „Les Voyages de l’Amour“ („Wege der Liebe“) eine durchaus kommerzielle Angelegenheit, die dem offenbar geschäftstüchtigen Boismortier zu erheblichem Wohlstand verhalf. Eingängig und abwechslungsreich musste ein solcher Vierakter (plus Prolog) sein, das Publikum bei Laune halten, mit Überraschungen und Effekten nicht geizen. Dafür ist die Reise des Liebesgottes Amor genau der richtige Stoff: Er, der andere glücklich macht, selbst aber unglücklich ist, reist auf Anraten des Frühlingsboten Zéphyre durch die Welt, um ein treues Herz für einen ewigen Bund zu finden. Allein, es kommt, wie es kommen muss: Stadt und Hof haben beständige Liebe nicht zu bieten. Nur auf dem Dorfe, unter den einfachen Schäfern, findet sich bei der schlichten Daphné die ehrliche Treue.

Stadt und Hof kennen keine treue Liebe

In launigen zweieinhalb Stunden reiht das Libretto des damals erst 21jährigen Charles-Antoine le Clerc de la Bruère die unterschiedlichen Emotionen aneinander, verbindet Hoffnung und Enttäuschung, Übermut und Wehmut, eitle Beschränkung und überhebliche Gefühlskälte, um den rücksichtslosen Aufstiegswillen der neuen städtisch-bürgerlichen Kreise und die intrigante Gesellschaft in diesem Fall sogar am Hof des römischen Augustus gemessen aber deutlich zu kritisieren. Die „Tage Alter Musik“ in Herne fanden mit diesem seit langem ungespielten Werk einen würdigen musikalischen Abschluss.

Dass sich der Abend vor allem im ersten Teil in die Länge zog, lag nicht an der quirlig abwechslungsreichen Musik von Joseph Bodin de Boismortier, auch nicht an der vorzüglichen Leistung des warmtönig, flexibel, stilgerecht, aber ohne trocken-harsche historische Informiertheit aufspielenden ungarischen Orfeo Orchestra. Die gefühlte Zähigkeit ergibt sich einfach aus dem Fehlen der Szene, die man sich dem Geschmack der Zeit entsprechend nicht bunt, üppig und originell genug vorstellen kann.

Für die Traversflöte schrieb Boismortier zahlreiche Werke und schuf sich damit Nachruhm als Komponist. Drei der damals hochmodernen Instrumente setzt er auch in seiner Oper ein. Foto: WDR/Thomas Kost.

Für die Traversflöte schrieb Boismortier zahlreiche Werke und schuf sich damit Nachruhm als Komponist. Drei der damals hochmodernen Instrumente setzt er auch in seiner Oper ein. Foto: WDR/Thomas Kost.

Die Zuhörer waren also zurückverwiesen auf die Farben, die sich Boismortier in seiner Instrumentierung einfallen ließ. Eine höchst angenehme Entschädigung freilich, denn das Orchester ist nicht nur umfangreich besetzt, sondern Boismortier setzt die Instrumente auch sehr gekonnt und gezielt ein: Das Solo-Fagott (Dóra Király) hat fulminante Auftritte, die drei Flöten kommen zu wohlklingendem Recht, eine Viola da gamba, drei Celli und zwei Kontrabässe sorgen für ein sattes und federnd agiles Bassfundament. Und Kapolcs Kovács zaubert mit seiner Musette de cour, einer im 18. Jahrhundert modischen Sackpfeife, einen lärmend-exotischen Beitrag ins Klangbild, damit die Schäfer-Idylle auch den entsprechend ländlichen Ausdruck gewinnen möge.

György Vashegyi leitet die Ensembles – der Purcell Choir tritt immer wieder klangvoll hinzu – mit unspektakulärer Umsicht und versierter Übersicht. Vashegyi macht auch deutlich, wie Boismortier den Rhythmus als Bedeutungsträger einsetzt – eine Kunst, die ein Jahrhundert später Compositeurs wie Daniel François Esprit Auber zu unterhaltsamer Perfektion gebracht haben.

Vom „Singen mit den Augen“

Im Ensemble der Solisten sind die Sitten und Unsitten der Art zu erleben, wie man heute „historisch informiert“ zu singen pflegt. Nett gebildet, intonatorisch lupenrein, beweglich, aber flach, zuweilen spitz in der Tongebung und kaum zu vokalen Farben fähig, präsentieren sich Sängerinnen wie Adriána Kalafszky mit niedlichem, kopfbetontem, nicht selten aber anämischem Klang. Judith van Wanroij gelingt es bis auf das Duett im Finale, den klein und eng gezwungen wirkenden Ton, der in der Szene lange Mode war, zu meiden. Sie singt mit begrenztem, aber klar fokussiertem und abgerundetem Sopran, der seinen Klang ohne Druck in den Raum projiziert. Auch Eszter Balogh kann, da ihre Stimme natürlich und unforciert wirkt, ausgezeichnet artikulieren.

Bei Katia Velletaz trifft das Bonmot eines alten italienischen Gesangslehrers zu, der einmal bemerkte, man „singe mit den Augen“. Wie sie strahlt und leidet, Schalk und Hoffnung ausdrückt, überspielt gekonnt, wo ihr Töne trocken oder zu vibratoreich entschlüpfen. Der einzige männlich Sänger, Lóránt Najbauer, darf seinen klar umrissenen Bariton in virtuose Schlachten mit einem unglaublich fingerfertigen Kontrabass schicken und sich im zweiten Akt als Wahrsager in einer erregten Gewitterszene bewähren.

Brillanz und dunkelsamtiges Timbre

In der Partie von "L'Amour": Chantal Santon-Jeffery. Foto: WDR/Thomas Kost.

In der Partie von „L’Amour“: Chantal Santon-Jeffery. Foto: WDR/Thomas Kost.

Den Titelhelden hat in der Uraufführung ein Haute-Contre gesungen, ein Tenor mit hoher Tessitura und der Fähigkeit, dank technisch raffinierter Mischung von Brust- und Kopfstimme bis zum zweigestrichenen „d“ zu kommen, ohne dass es – im Idealfall – eng oder quäkend geklungen hat. Heute versucht man, diese Technik mit wechselndem Erfolg wiederzuentdecken; Boismortier selbst hat wohl (auch) eine Besetzung mit einem dunkel timbrierten Sopran mit guter Tiefe vorgesehen, wie es in Herne der Fall war: Chantal Santon-Jeffery brilliert mit ihren Registern und einem dunkelsamtigem Timbre. Sie gestaltet die Worte sorgsam und setzt auf farbiges Ausdeuten des Textes mit stimmlichen Mitteln.

Vor allem im ersten Teil des Abends setzt sie aber auf Druck: Der Ton wirkt dann unfrei und unter Spannung gesetzt statt locker fließend und rund, was sich im lyrischen Legato deutlich bemerkbar macht. Im Endeffekt überwindet der Charme ihres Singens die limitierte Technik und die allegorische Figur des Amor wird zu einem liebeslustigen Operngeschöpf aus Fleisch und Blut. Schlussendlich triumphieren die „zärtlichsten Begierden“ und der Liebesgott Hymen hebt zum Fluge an.

Das Publikum feiert eine Aufführung, mit der die „Tage Alter Musik“ wieder einmal Profil und Entdeckerfreude bewiesen haben.

Die Aufführung ist noch einen Monat im WDR Konzertplayer nachhörbar: https://konzertplayer.wdr3.de/klassische-musik/konzert/tage-alter-musik-in-herne-les-voyages-de-lamour/

 

 




Verstehen und Verwirren: Die Tage Alter Musik in Herne erschließen musikalische Kommunikation

Das Ensemble La Reverdie. (c) Fabio Fuser

Das Ensemble La Reverdie. © Fabio Fuser

Was sagt uns Musik? Sind die Töne tatsächlich, wie E.T.A. Hoffmann behauptet, das Reich des Ahnungsvollen, Unsagbaren? Ist Musik ein präzises Zeichensystem, eine quasi mathematische Sprache? Hat sie eine Botschaft, die sich wie eine Verlautbarung wiedergeben lässt? Oder entzieht ihr Kunstcharakter sie nicht von vorneherein jeder Festlegung?

Was das „Wesen“ der Musik sei, darüber lässt sich nicht nur trefflich streiten. Dieser Frage nähern sich auch alle Epochen auf jeweils andere Weise.

Für ein so hochkomplexes Thema haben die diesjährigen „Tage Alter Musik“ in Herne einen wunderbar erschließenden Zugang gefunden: Vom 14. bis 17. November dreht sich das konzentrierte, feine Festival um musikalische Kommunikation zwischen „Verstehen“ und „Verwirren“, also um bewusste Klarheit, absichtsvolle Verunklarung, offene Stellen in einem scheinbar ausreichend definierten System von erklärbaren Zeichen.

Die blass scheinende Theorie treibt dabei ihre Blüten am grünen Baum musikalischer Praxis: Ensembles aus ganz Europa – darunter eine Reihe von Festival-Debütanten – richten den Blick in zehn durchweg originellen Programmen auf Musik vom Spätmittelalter bis in die Zeit Claude Debussys. WDR 3 Kulturradio wird in vier Live-Übertragungen und einer Reihe von späteren Ausstrahlungen über die Region hinaus ein internationales Publikum ansprechen.

The Tallis Scholars kommen nach Herne. Das angesehene englische Ensemble tritt am 15. November in der Kreuzkirche auf. © Nick Rutter

The Tallis Scholars kommen nach Herne. Das angesehene englische Ensemble tritt am 15. November in der Kreuzkirche auf. © Nick Rutter

Vokalmusik steht im Zentrum der vier Tage: Zu Beginn erklingen am Donnerstag, 14. November, 20 Uhr, in der Kreuzkirche in Herne Gesänge des blinden Florentiner Komponisten Francesco Landini. Die Mittelalter-Formation „La Reverdie“ stellt Ballate und Madrigale vor, von denen mehr als 150 erhalten sind. Landini war ein universal gebildeter Intellektueller an der Schwelle zur Renaissance, der dank einer zeitgenössischen Biografie auch als Person greifbar ist. Seine Musik spricht von einer reichen inneren Gefühlswelt.

Gefühle nach außen kehren und nachvollziehbar machen: Davon lebt die Oper. Zum Abschluss der „Tage Alter Musik“ findet eine respektable Trouvaille den Weg auf die Bühne des Kulturzentrums Herne: Joseph Bodin de Boismortier schrieb 1736 eine Oper über die Wege der Liebe („Les Voyages de l’Amour“), eine unterhaltsame Bühnenstudie über die Kraft dieses Urtriebs menschlicher Existenz. In Zusammenarbeit mit dem Centre de Musique Baroque de Versailles erlebt dieses Juwel des Musiktheaters am Sonntag, 17. November, 19 Uhr, nach 283 Jahren seine erste Wiederaufführung. Zuvor um 16 Uhr gibt es in der Kreuzkirche repräsentative geistliche Musik: Das Requiem Es-Dur schrieb der Stuttgarter Hofkapellmeister Niccolò Jomelli 1756 aus Anlass des Todes von Maria Augusta, der Mutter Herzog Carl Eugens von Württemberg. Das Werk verbreitete sich damals in ganz Europa.

Die Oper ist es auch, die den „Tagen Alter Musik“ einen Ausflug in die Moderne ermöglicht: Am Freitag, 15. November, 20 Uhr, ist im Kulturzentrum Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ in einer ungewöhnlichen Form zu erleben: Der auch von Debussy gepflegten Gewohnheit, Werke – oder Teile davon – in Aufführungen in Salons zu präsentieren, folgt eine Bearbeitung der Oper für Singstimmen und zwei Klaviere des Neue-Musik-Repräsentanten Marius Constant. Gespielt von Jan Michiels und Inge Spinette an zwei Blüthner-Flügeln führt die Fassung zurück zu den intimen Konzerten, in denen Debussy seinen Freunden seine neuen Kompositionen vorstellte.

Kaum mehr bekannte Bläsermusik spielt das Schwanthaler Trompetenconsort. (c) Reinhard Winkler

Kaum mehr bekannte Bläsermusik spielt das Schwanthaler Trompetenconsort. © Reinhard Winkler

All diese Musik folgt bestimmten Vorgaben oder reagiert auf Anlässe. Am deutlichsten ihrem Zweck verhaftet ist die Musik, die am 17. November, 11 Uhr, im Kulturzentrum vorgestellt wird: Das österreichische Schwanthaler Trompetenconsort spielt vergessene Musik von nicht immer zweifelsfreiem Kunstcharakter: Kriegssignale und virtuos-repräsentative Fanfaren kombinieren die Spezialisten für diverse Blasinstrumente mit unterhaltsam konzertanter Musik, wie sie etwa von Militärkapellen bei Platzkonzerten, im Tanzsaal oder bei offiziellen Feiern gespielt wurde. Komponisten wie der Würzburger Militärmusiker und Arrangeur Joseph Küffner waren zu ihrer Zeit sehr populär, sind aber heute völlig unbekannt.

Am anderen Pol musikalischen Schaffens angesiedelt ist die Musik, die das Ensemble Vintage Köln am Samstag, 16. November, 20 Uhr, im Kulturzentrum vorstellt: Von der „Kunst der Fuge“ Johann Sebastian Bachs über Kontrapunkt-Studien etwa von Henry Purcell oder William Byrd bis hin zu aktuellen Kompositionen des Bratschers des Ensembles, Sebastian Gottschick, bringt es die Kombinationskunst zum Klingen, in der die Musik unbeeinflusst von Wort oder Gefühl, Anlass oder Zweck ganz bei sich bleibt. – Ergänzt wird das Programm von der Ausstellung im Foyer des Kulturzentrums, die sich Blas- und Saiteninstrumenten widmet und einen Überblick über den technischen und künstlerischen Stand des Nachbaus historischer Musikinstrumente geben will.

Infos auf den Webseiten der Stadt Herne und des Westdeutschen Rundfunks. Dort gibt es auch Hinweise zum Kartenvorverkauf bei ProTicket Vorverkaufsstellen, online oder telefonisch unter (0231) 917 22 90.