Sehnsüchte und Selbsttäuschungen: Mit Peter Eötvös‘ Oper „Tri Sestri“ nach Tschechow wächst das Theater Hagen über sich hinaus

„Drei Schwestern“: Dorothea Brandt (Irina), Maria Markina (Mascha), Lucie Ceralova (Olga). (Foto: Leszek Januszewski)

Bis in die siebziger Jahre hinein waren sie in Mode und in jedem gepflegten Haushalt anzutreffen: Runde Deckchen, gehäkelt oder bunt bedruckt, schmückten Tischchen, Vitrinen, Buffets. Die Familie Prosorow macht es sich in Friederike Blums Inszenierung der Oper „Tri Sestri“ von Peter Eötvös im Theater Hagen auf einem solchen Accessoire der Gemütlichkeit bequem.

Eine mehrdeutige Chiffre mitten in der kargen Raffinesse von Tassilo Tesches Bühne. Sie steht für den trügerischen Schein des Äußerlichen, für den vergeblich gesuchten Schutzraum vor den Stürmen der Welt und der eigenen Gefühle, für Sehnsüchte und Selbsttäuschungen. Andrej, der gescheiterte Bruder der „Drei Schwestern“, wird sich darin einhüllen wie in einen Schutzmantel.

Mit Peter Eötvös‘ erster abendfüllender, vor 25 Jahren in Lyon uraufgeführter und 1999 an der Rheinoper Düsseldorf in Deutschland erstmals gespielter Oper „Tri Sestri“ ist das Theater Hagen über sich selbst hinausgewachsen und hat einen Abend präsentiert, an dem einfach alles stimmt. Möglich wird dieser Kraftakt durch den Fonds Neues Musiktheater des Landes Nordrhein-Westfalen und die Kunststiftung NRW.

Geld macht aber noch keinen künstlerischen Erfolg aus: Der ist gleichermaßen zuzuschreiben der wohltuend unspektakulär erarbeiteten Inszenierung Friederike Blums, der Klang- und Rhythmuspräzision des Philharmonischen Orchesters Hagen und dem Ensemble Musikfabrik, Hagens GMD Joseph Trafton und seinem Co-Dirigenten Taepyeong Kwak und dem in allen Partien glänzenden Sängerensemble mit seinen Gästen. Eine runde Leistung auf einem Niveau, das auch ein mit Mitteln reicher gesegnetes Theater in einem solch ambitionierten Stück nicht ohne weiteres erreicht.

Auf Tassilo Tesches Bühne bleibt sichtbar, dass die Oper zwei Orchester fordert: Die 18 Mitglieder des Ensembles Musikfabrik spielen im Graben; das Hagener Theaterorchester ist auf der Bühne platziert und bildet eine (Klang)-Landschaft, die mit Spiegeln im Hintergrund vielfach gebrochen, aber auch ins Spiel mit einbezogen wird. Für die drei „Sequenzen“ der rund 100minütigen Oper wird das weiße Deckchen jeweils neu ausgelegt. Die szenische Geste unterstreicht, dass Eötvös und sein Librettist Claus H. Henneberg von der linearen Erzählweise Anton Tschechows abweichen und den fragmentierten Stoff des Schauspiels aus der Perspektive der Figuren Irina, Andrej und Mascha betrachten.

Auf dem Deckchen: „Tri Sestri“ in Hagen mit Vera Ivanovic (Natascha) in der Mitte. (Foto: Leszek Januszewski)

Keine Tragödie für Olga

Olga, die dritte Schwester, hat keine eigene Sequenz: Sie hat, so sagt der Komponist, „keine Tragödie“, sie macht pragmatisch ihre Sehnsucht an der Welt fest, die sie vorfindet. Lucie Ceralová gestaltet sie als strenge Person, die nicht versteht, wie ihre Schwester Mascha ihrer Zuneigung zu einem Mann nachgeben kann, der die Ordnung ihrer Ehe mit dem sanften, aber farblosen Kulygin (Dong-Won Seo) stört. Mascha (Maria Markina) und der Offizier Werschinin (Insu Hwang) lassen – beide sensibel singend – in ihrem Duett den einzigen Moment anklingen, in dem zwei Menschen tatsächlich zueinander finden könnten, aber das innige Verstehen wird abrupt beendet, als mit der Tee servierenden alten Amme Anfisa (Igor Storozhenko) die gesellschaftliche Konvention einbricht.

In dieser, aber auch in der starken Abschiedsszene zwischen Mascha und dem mit seiner Einheit abziehenden Offizier zeigt die Regie, wie nahe das Schicksal dieser beiden Menschen einer Tragödie kommt, ohne deren Unbedingtheit zu erreichen: Ihre Träume bleiben für das Handeln folgenlos, bedeuten Sehnsucht und Flucht, nicht aber Motiv oder gar Ansporn. Tragische Züge finden sich auch in der Gestalt des Bruders der drei Schwestern, Andrej: Er, der zu Beginn seiner Sequenz eine Sanduhr aufstellt, treibt in der verrinnenden Zeit dahin und erreicht nichts – weder die erstrebte Professur, noch die Liebe seiner überdrehten Frau Natascha (Vera Ivanovic), der Eötvös geradezu obszöne Sprünge und exaltierte Koloraturen geschrieben hat. Kenneth Mattice ist ein melancholisch gebrochener Andrej, weltverloren in seiner wehmütigen Verkrümmung in sich selbst.

Kenneth Mattice als Andrej. (Foto: Jörg Landsberg)

Lichtgestalt Irina

Irina dagegen, weiß gekleidet wie eine Lichtgestalt und durch den leuchtenden Sopran von Dorothea Brandt charakterisiert, versucht als erste, aus der im eröffnenden Terzett der Schwestern – mit seinen langgezogenen Phrasen und engen Intervallen ein musikalischer Spiegel lastender Langeweile –  angesprochenen Angst vor dem Verfließen der Zeit auszubrechen. Doch als sie sich endlich entschließt, dem pragmatischen Rat ihrer Schwester Olga zu folgen und den smarten Baron Tusenbach (Dmitri Vargin) zu heiraten, ist es zu spät: Der junge Soldat fällt im Duell mit seinem Konkurrenten um die Liebe Irinas, dem durch aggressive Pauken gekennzeichneten Soljony, mit der nötigen offensiven Power gesprochen und gesungen von Valentin Ruckebier aus dem Opernstudio der Deutschen Oper am Rhein. Der jungen Frau bleibt nur die Sehnsucht „nach Moskau“, der Stätte ihrer Kindheit – eher der Begriff eines unbestimmten Erinnerns an einen Zustand des Glücks als ein realer Ort.

In Hagen gelingen diese an sich handlungträgen Abläufe atemberaubend spannend und gleichzeitig in einer lähmend bleiernen Atmosphäre, die dem Stück Tschechows eingeschrieben und hier kongenial in die Oper übertragen ist. Wesentlichen Anteil daran haben die Musiker der beiden Orchester, darunter allein vier Schlagzeuger, die Eötvös‘ musikalisches Spektrum in allen Farben leuchten lassen, vom dumpfen Pianissimo-Pochen bis zu gellenden Bläser-Aufschrei, von der kammermusikalischen Finesse der einzelnen Figuren zugeordneten Instrumente bis zum harmonisch verdichteten Arioso. Eine herausragende Leistung des scheidenden Hagener GMD Joseph Trafton, der keine Wünsche bei rhythmischem Zugriff und klanglicher Balance offen lässt.

Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Sänger der Rollen, die nicht im Mittelpunkt stehen: Anton Kurzenoks burlesker Doktor, der in der Oper nicht die tragende Rolle des Tschebutykin in Tschechows Vorlage hat, Ilja Aksionov, Student an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf, als schönstimmiger Rodé und Robin Grünwald als Fedotik.

Vorstellungen von „Tri Sestri“ am 20., 29. April, 21. Mai, 14. Juni 2023, Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/drei-schwestern-1562/0/show/Play/

 




Facetten der Einsamkeit – von Haydn bis Marilyn Monroe: Gelungener Opern-Doppelabend am Theater Hagen

Auch am Theater Hagen erzwang die Corona-Pandemie eine umfassende Revision der Pläne zunächst für die erste Hälfte der Saison 2020/21.

Eine Ikone des 20. Jahrhunderts greift ein Opern-Doppelabend am Theater Hagen auf: Marilyn Monroe. (Foto: Klaus Lefebvre)

Die Spielzeit-Vorschau, ein hübsches rotes Kästchen, enthält für jedes Projekt aus den Sparten ein loses Blatt, das ausgetauscht werden kann, wenn Intendant Francis Hüsers und sein Team infolge der Corona-Schutzmaßnahmen umplanen müssen. Für die Zeit bis Dezember war das bereits der Fall: Die Schlachtschiffe des Repertoires stehen im Trockendock bereit, zu einem späteren Zeitpunkt gefahrlos auszulaufen. Der Ersatz, klein, kurz und flexibel, macht aber ebenfalls Freude. Krisen fördern zuweilen Kreativität: Wie wäre es sonst zu einem Doppelabend mit Joseph Haydns „L’Isola disabitata“ und Gavin Bryars 2013 uraufgeführter Kammeroper „Marilyn forever“ gekommen?

In beiden etwas mehr als einstündigen Werken geht es um Einsamkeit, um einen Prozess der Selbstfindung und um die Frage, wie authentisch ein Mensch sein Leben eigentlich führen kann. In Haydns „unbewohnter Insel“ sind es zwei Frauen, die sich einen Weg über ihre inneren Limits hinaus bahnen müssen; „Marilyn forever“ wirft die Zuschauer mitten hinein in die Spannung zwischen den inneren Empfindungen und der äußeren Selbstkonstruktion eines Menschen.

Was steckt hinter den Bildern, mit denen die Monroe berühmt wurde? Angela Davis versucht sich, in die Figur „Marilyn“ hineinzufühlen. (Foto: Klaus Lefebvre)

An der Kultfigur Marilyn Monroe, die sie sich als Waisenkind Norma Jeane Mortenson geschaffen hat, versucht Gavin Bryars Einakter zu ergründen, wo der Mensch, wo der Mythos „Marilyn Monroe“ zu entdecken ist, wie sich das Innen und Außen dieser Ikone des 20. Jahrhunderts zueinander verhalten: Die Frau, als warmherzig und selbstbewusst beschrieben, mit ihrer sorgfältig nach außen abgeschirmten Seele, verletzlich, liebesbedürftig, an sich zweifelnd. Die Fassade, glamourös, sexy, mit kalkulierter Ausstrahlung. Und die Wirkung, in Zeiten patriarchaler Herren, rebellierender Söhne, marginalisierter und missbrauchter Frauen, reduziert auf das Objekt: begehrt, vermarktet, konsumiert, vergöttert und gleichzeitig abgewertet.

Kantenlose Musik

Regisseur Holger Potocki versucht sich in etwa 80 Minuten durch dieses verschlungene Dickicht vorzukämpfen zur „echten“ Marilyn Monroe – etwas, was sie selbst wohl nicht geschafft hat. Das Libretto Marilyn Bowerings ist ihm dabei keine Hilfe: Zu ungefähr sind die Gefühlszustände, Gedanken, Träume von „Marilyn“, zu vage die Bezüge zu historisch feststellbaren Ereignissen, etwa die Ehe mit Arthur Miller, zu spekulativ die Andeutungen, etwa über das Verhältnis zu John F. Kennedy.

Kaum Unterstützung auch aus der Musik: Denn der inzwischen 77jährige englische Komponist Gavin Bryars schrieb 2013 eine nachromantisch kantenlose Musik mit Elementen aus minimal music und Jazz, mit verfliegenden Scheinzitaten populärer Musik der Fünfziger, weich, schmeichelnd, mit der dunklen Registerpalette der Instrumente und moderater Dynamik spielend. Alles „well made“, angenehm zu hören, aber nicht charakteristisch, schon gar nicht irgendetwas provozierend. Und neu im Übrigen auch nicht – aber das muss ja nicht unbedingt sein. Joseph Trafton und die elf Musiker des Philharmonischen Orchesters Hagen lassen den schmiegsamen Wohllaut fein abgestimmt verströmen.

Angela Davis als Marilyn. Foto: Klaus Lefebvre

Potocki bleibt also in den Rätseln hängen, und er weiß das: Um dem Wohlfühlfluss der Szenen zu entkommen, teilt er gemeinsam mit Bernhard Niechotz die Bühne in zwei Räume und spaltet die Figur der Marilyn auf: Angela Davis gibt nicht die Ikone Monroe, sondern versucht als – zeitweise sehr intensive – Darstellerin sich in einem Studio für einen Film auf die Rolle „Marilyn Monroe“ vorzubereiten und dafür die Facetten der Figur zu verinnerlichen. In der anderen Hälfte der Bühne, einem Kinosaal, setzt sich Kenneth Mattice als Filmregisseur mit Bildern und Vorstellungen der Monroe auseinander. Er fällt in die Rollen der „Men“ aus dem Leben Monroes, grübelt zwischen Kinostühlen, experimentiert mit Bildern auf der Leinwand. Potocki nutzt die distanzierende Wirkung von Film, Projektion und Spiegeln, um die Entfremdung der Personen von sich selbst auf die Spitze zu treiben, sich dem Geheimnis der authentischen Existenz der Titelfigur anzunähern und es gleichzeitig zu wahren.

Das reicht bis zu den unklaren Umständen ihres frühen Todes: Kenneth Mattice, der sich selbst spielerisch vorbehaltlos verausgabt, dringt in den „Raum“ Marilyns ein und ist – kurz bevor das Licht erlischt – der Funke des Todes für die zitternde Frau. Dass danach das berühmte blaue Kleid und eine weißblonde Perücke auf dem Bühnenboden liegen wie aufgebahrt, ist konsequent: Den äußeren Schein können wir begraben, den Mythos entschlüsseln wir nur bruchstückhaft, die Wahrheit bleibt verborgen. Welchen Anspruch Bryars allzu unverbindliche Oper verwirklicht, darüber mag die Nachwelt entscheiden. Kritiker lagen allzu oft daneben – dennoch sei es gewagt, sich nicht wie die Oper ins Ungefähre zurückzuziehen: Die Nachwelt wird eher den Mythos Monroe als dieses Werk am Leben halten.

Eine Burg aus Polstern

Nicht am Leben blieb auch Joseph Haydns „L’Isola disabitata“, einer seiner gar nicht so wenigen, aber leider kaum bekannten Opern. Uraufgeführt 1779 auf Schloss Eszterháza (heute Fertöd in Ungarn), konnte sie sich trotz mehrerer CD-Aufnahmen nicht im Repertoire durchsetzen. Das Libretto Pietro Metastasios – er schätzt es selbst sehr hoch ein – wirkt in der Inszenierung Magdalena Fuchsbergers geradezu modern: Die „unbewohnte Insel“ wird zu einem Ort von Introversion und Aufbruch, von Selbstverkapselung und Selbstentfaltung.

Maria Markina als Costanza in Joseph Haydns „L’Isola disabitata“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Fuchsberger transferiert das Thema der verlassenen Frau auf dem menschenleeren Eiland in die siebziger Jahre, als die Frauen um Gleichberechtigung kämpfen und der Sex sich aus den Fesseln der überkommenen Moral befreit. Wieder ist die Bühne zweigeteilt: In Monika Bieglers Wohnlandschaft steht links ein graues Sofa, Zuflucht der Frau mit dem bezeichnenden Namen Costanza: Unermüdlich die Männer hassend wartet sie auf den ihren, der seit 13 Jahren verschollen ist. Die einsame Standhafte baut dort eine Burg aus Polstern aus, in deren Gruft sie sich verkriecht.

Auf der anderen Seite Esstisch und Vitrine, Ort der tastenden, misslingenden Versuche, so etwas wie Gemeinschaft oder gar Zuneigung herzustellen. Maria Markinas Gesten und Bewegungen sprechen von ihrem Leid, ihren inneren Zwängen, ihrer Selbstisolierung, ihrem Lebensüberdruss; musikalisch gelingen ihr die Momente der Innerlichkeit besser als die schmerzvolle Empörung in Rezitativen, die mit hartem Ton und druckvoller Emission aus ihr herausbrechen. Ob dieser Frau am Ende gelingt, frei zu werden, als der Mann nach Jahren endlich aus der Sklaverei fliehen und zu ihr zurückkehren kann, bleibt offen: Die Regie dreht die Rollen um, als Gernando, der Mann, auftaucht, als sei nichts geschehen, und die Frau, Costanza, die Chiffren der Entfremdung übernimmt. Der Wein zu viert am Tisch lässt immerhin eine Hoffnung offen.

Ein Kind wird erwachsen

Erstaunlich modern und spannend wirkt, wie sie die jüngere Schwester Costanzas im Lauf des Stücks entwickelt. Haydn hat – zumindest in der Lesart Fuchsbergers – eine überraschend tiefgründige Coming-of-Age-Geschichte in faszinierend sensible Musik gefasst. Silvia, der Name des Mädchens, deutet auf die ungebrochene Natürlichkeit ihres Wesens hin. „Welch‘ glückliche Unschuld“, findet auch Costanza, und Metastasio beschreibt Silvias Liebe zu einem kleinen Reh – eine bezaubernde Chiffre für das kindlich-ungebrochene Einssein mit der Natur, während die Musik Haydns bereits die Trauer über den Verlust dieses „paradiesischen“ Zustands erklingen lässt.

„Glückliche Unschuld“: Silvia (Penny Sofroniadou) mit ihrem geliebten Reh. (Foto: Klaus Lefebvre)

Mit der Ankunft von Gernando und dessen Freund Enrico beginnt der Prozess: Silvia nimmt den Mozart’schen Cherubino vorweg, wenn sie nach der ersten Begegnung mit dem freundlich-virilen Enrico (Insu Hwang mit markantem Bariton) von einem unbekannten „affetto“ in der Brust singt, einer Hoffnung, von der sie nicht weiß, was sie bedeutet. Ihre Schwärmerei hat auch komische Züge, verdichtet sich aber immer mehr zur Erkenntnis der „tyrannischen“ Liebe, die ihr keine Ruhe mehr lässt. Und während Anton Kuzenok die melancholische Suche Gernandos nach seiner geliebten Costanza in einen fein geführten, die Töne frei bildenden Tenor kleidet, erzählt die Musik, wie Silvia das „heftige Feuer“ der Liebe und damit ihr sexuelles Begehren entdeckt, und Penny Sofroniadou schildert ihre Not zum sprechenden Orchester Haydns mit einem leuchtenden, leichten und lockeren Sopran. Aus der engagierten kleinen Truppe im Graben lockt Joseph Trafton alle Herrlichkeiten von Haydns Erfindungskunst hervor und bestätigt ein weiteres Mal, dass man den Esterházy’schen Kapellmeister nicht unterschätzen sollte.

Bisher geplante weitere Aufführungen am 13. und 14. November 2020. Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/die-einsame-insel-lisola-disabitata-marilyn-forever-1339/0/show/Play/




Die Sprache zeitgemäßen Musiktheaters: Hagen überzeugt mit Paul Hindemiths „Cardillac“

Thomas Berau in Paul Hindemiths "Cardillac" in Hagen in den Wolf Gutjahrs Bühne. Foto: Klaus Lefebvre

Thomas Berau als Paul Hindemiths „Cardillac“ in Wolf Gutjahrs Bühne. (Foto: Klaus Lefebvre)

Paul Hindemith hat in „Cardillac“ ein düsteres Kriminalstück aus den „Serapionsbrüdern“ E.T.A. Hoffmanns in bewusster Distanz zum romantischen Schauer und zum nachwagnerisch eklektischen Drama großer Gefühle in neubarock inspirierte musikalische Sachlichkeit gekleidet. Jochen Biganzoli setzt am Theater Hagen noch eins drauf und inszeniert die Oper von 1926 radikal abgekehrt vom Handlungsdrama als Statement zur Problematik von Kunst und Gesellschaft, von Künstler und Werk.

Mit diesem mutigen Saisonauftakt hat das in den letzten Wochen mit Anerkennung geradezu überschüttete Theater in Hagen zwar keinen Publikumserfolg gelandet – der Saal war in der Premiere erschütternd schütter besetzt –, sich aber in der Opernlandschaft Nordrhein-Westfalens (und darüber hinaus) erneut prominent positioniert.

Ähnlich wie in „Tristan und Isolde“ zum Abschluss der letzten Spielzeit schafft es das Team Biganzoli (Regie), Wolf Gutjahr (Bühne) und Katharina Weissenborn (Kostüme), eine Meta-Ebene aufzuschließen, auf der die Handlung weit weniger relevant ist als das Statement. Es geht weniger um das Erzählen einer Geschichte als um einen in sinnlichen Bildern zu fassenden Diskurs – und vielleicht auch um ein Psycho-Drama mit katastrophalem Ausgang.

Der Mensch, der nicht loslassen kann

Der Goldschmied Cardillac, der einzigartig kostbare Geschmeide schafft, aber alle ihre Käufer ermordet, damit er den Schmuck wieder zu sich holen kann, ist mehr als eine romantisch-dämonische Figur. Hindemith hat zwar aus der Hoffmann-Vorlage ein Künstlerdrama geschaffen, aber die Oper meint mehr: Der Mensch, der nicht loslassen kann, der die Identität von Schaffen und Geschaffenem nicht auflösen kann, der in einer radikalen Selbstbezogenheit die Außenwelt ausschließlich aus seiner Perspektive wahrnimmt. Während Gott als Schöpfer seine Schöpfung in die Freiheit entlässt – so jedenfalls die christliche Konzeption – ist Cardillac ein Gott imitierender Schöpfer, ein Künstler, der „eingewachsen dem Werk“ ist, „wie Gott, als er die Welt erschuf“.

Ein hermetischer Blick also, den Wolf Gutjahr in seiner Bühne widerspiegelt: Ein geschlossener Kasten, in von Szene zu Szene unterschiedlichen Farben ausgeleuchtet, darauf projiziert markante Sätze aus Kunstmanifesten, vom italienischen Futurismus (1909) über Walter Gropius‘ „Bauhaus-Manifest (1918) bis Wolf Vostell (1968).

Tod des verzerrten „Schöpfergottes“

Den Personen haben Hindemith und sein Librettist Ferdinand Lion keine Namen gegeben; sie sind Typen, aus der Sicht des Goldschmieds rein funktional definiert. „Die Tochter“ enthüllt Cardillacs völlig Abwesenheit von Empathie; am „Offizier“ wird deutlich, wie er selbst die Macht ignoriert: Sie ist angesichts des Kunst-Werkes unwesentlich, die Konsequenz einer Konfrontation mit ihr ist dem Goldschmied gleichgültig. Erst am Ende, angesichts der Masse, die den Mörder sucht, scheint in Cardillacs Bewusstsein etwas aufzuschimmern, das ihn die Diskrepanz von Innen und Außen ahnen lässt. Das ist zugleich sein Tod: Seine bisherige Existenz als verzerrter Schöpfergott ist unwiderruflich zu Ende. Die Projektionsflächen der Bühne fallen in sich zusammen. Es bleibt die vorher schon gestellte Frage, was „Kunst mit Wahrheit zu tun hat“. Und Hindemith setzt den reinsten Akkord des Werkes ans Ende.

Die "Dame" (Veronika Haller) und der "Kavalier" (Thomas Paul). Foto: Klaus Lefebvre

Die „Dame“ (Veronika Haller) und der „Kavalier“ (Thomas Paul). (Foto: Klaus Lefebvre)

Biganzoli entwickelt diesen abstrakt wirkenden Diskurs in sinnlichen, aber konsequent distanzierten Bildern und Tableaus. Die Kostüme Katharina Weissenborns unterstützen das Konzept, weil sie konkret gegenwärtig wirken, andererseits aber auch den Zug zum Zeitgenössischen überstilisiert auflösen: Die Dame etwa erscheint in schillerndem Gold und wird begleitet von einer kindlichen und einer greisenhaften Doppelgängerin; der Kavalier steckt in einem silbernen Overall.

Alles wirkt zeichenhaft

In der Führung der Personen vermeidet Biganzoli Naturalismus wie Psychologie. Alles wirkt zeichenhaft, reduziert auf Grundkonstellationen. Das Bauhaus lässt grüßen – und in der Tat hatte Paul Hindemith mit dieser bedeutenden Kunstbewegung der Zwischenkriegszeit, an die 2019 mit ganzjährigen Centenarfeiern und der Eröffnung des neuen Bauhausmuseums in Dessau erinnert wird, einiges zu tun: Die Komposition der – in Hagen gespielten – Erstfassung von „Cardillac“ fällt ins Jahr 1926, in dem auch das Dessauer Bauhaus-Gebäude fertiggestellt wurde; Hindemith arbeitete u .a. mit dem Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer, dem Leiter der „Bühnenwerkstatt“ zusammen, und sein Liederzyklus „Marienleben“ erklang erstmals bei der ersten Bauhaus-Ausstellung 1923 in Weimar.

Joseph Trafton und das in weiten Teilen präzise agierende Philharmonische Orchester Hagen nehmen die Idee Ferruccio Busonis zur Leitschnur der musikalischen Wiedergabe – jene Forderung nämlich, dass Musik nicht beschreibend sein solle, dass sie (in welcher Form auch immer sie auftrete) „ausschließlich Musik und nichts anderes“ bleibe. Wachsamkeit, schnelle Reaktion und musikalische Sicherheit zeigen, dass Trafton seine Musiker sicher durch die Strudel Hindemith’scher freitonaler Wagnisse geleitet. Ein Genuss zu verfolgen, wie sich das Hagener Orchester unter Trafton stetig weiterentwickelt.

Figuren mit deutlichen Konturen

Das Sängerensemble und der Chor Wolfgang Müller-Salows halten auf gleichem Niveau mit, sichern dem Werk eine gleichbleibend anspruchsvolle Wiedergabe. Veronika Haller als Dame und Angela Davis als Tochter lassen in intensivem Spiel und in stimmlicher Präsenz keine Wünsche offen. Milen Bozhkov und Thomas Paul als Offizier und Kavalier gewinnen nicht zuletzt durch präzise Artikulation und expressive Färbung der Töne ihren Figuren deutliche Konturen ab. Auch Ivo Stánchev (Goldhändler) und Kenneth Mattice (Führer der Prévoté) füllen ihre Partien anstandslos aus.

Für Thomas Berau, Gast vom Nationaltheater Mannheim, ist Cardillac eine Rolle, in der er alle Facetten seines versierten Baritons aufleuchten lassen kann. Er gibt diesem schöpferischen Dämon die Züge eines Regisseurs, lässt ihn den Chor dirigieren und zum Mikro greifen. Wenn am Ende der Offizier Cardillac zum „Helden“ erhebt und als „Opfer eines heiligen Wahns“ entschuldigt, wenn dieser vorher noch seine Morde als belanglos erklärt („Nichts gilt hinwehendes Leben“), wird die ganze Ambivalenz dieser Figur deutlich, die Jochen Biganzoli ins Bild setzt, wenn Cardillac halb wie ein Opfer, halb wie ein christusförmiger Erlöser am Kreuz über den Köpfen des Chores schwebt: der faszinierende Verbrecher, der durch sein Genie aller Moralität enthobene Künstler, der protofaschistisch verehrte große Mann – und dahinter erhebt sich die Frage: „Wozu Kunst“?

Hagen hat mit dieser Produktion wieder ein Zeichen gesetzt: Das ist die Sprache und das ist das Repertoire eines anspruchsvollen, zeitgemäßen Musiktheaters.

Vorstellungen am 10. November (15 Uhr), 13. November, 10., 16. und 26. Januar 2020. Karten Tel.: (02331) 207 3218. Info: www.theaterhagen.de




Mörderischer Goldschmied, getarnter Zar: Theater Hagen stellt Programm für die Spielzeit 2019/20 vor

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

192 Seiten, vollgepackt mit Programm: Ironisch signalisiert das Theater Hagen mit dem Reclam-Heft-Format seiner Spielzeit-Übersicht 2019/20 wieder Sparsamkeit. Inhaltlich allerdings fächert es den ganzen Reichtum auf, den das in den letzten Jahren arg gebeutelte Haus mit dem Team um Intendant Francis Hüsers aus seinem 18-Millionen-Etat zaubert. Eine bunte Vielfalt tut sich auf, die gleichwohl einige durchgehende Linien sichtbar werden lässt, die sich in den nächsten Jahren in den Spielplänen abzeichnen sollen.

Ein bisschen Ironie muss sein: Das "Datenheft" des Theaters Hagen für die Spielzeit 2019/20.

Ein bisschen Ironie muss sein: Das „Datenheft“ des Theaters Hagen für die Spielzeit 2019/20.

Im Musiktheater schreitet Hüsers vom Schwerpunkt der Romantik in der laufenden Spielzeit weiter in Richtung des Beginns der Moderne: Die Spielzeit eröffnet am 21. September 2019 Paul Hindemiths „Cardillac“, basierend auf dem romantischen Stoff des „Fräuleins von Scuderi“ E.T.A. Hoffmanns, komponiert aber in bewusster Abkehr von romantischer Einfühlung, in einem betont objektivierenden, „neusachlichen“ Stil. Der Stil der Oper, auch als „Bauhausbarock“ bezeichnet, passt zum 100-Jahre-Jubiläum des Bauhauses, das auch in Hagen gefeiert wird.

Den zweiten Schritt in die Moderne signalisiert Richard Strauss‘ „Salome“ ab 4. April 2020, inszeniert von Magdalena Fuchsberger, die in dieser Spielzeit mit Verdis „Simon Boccanegra“ als ambitioniertes Kopftheater für kontroverse Kritiken sorgte. Die Hindemith-Oper ist Jochen Biganzoli anvertraut, der momentan mit seiner Inszenierung von „Tristan und Isolde“ dem Theater Hagen überregionale Aufmerksamkeit sichert.

Mit dem Beginn der Moderne könnte man auch Franz Lehárs „Der Graf von Luxemburg“ verbinden – eine Operette, die wie die „Lustige Witwe“ ironisch mit der Auflösung scheinbar althergebrachter gesellschaftlicher Strukturen und Werte spielt. Roland Hüve inszeniert den Erfolg von 1909, der am 26. Oktober Premiere hat. Als Kontrapunkt zur Operette „Pariser Leben“ in dieser Spielzeit und als Abschluss des Offenbach-Jahres kommt „Hoffmanns Erzählungen“ auf die Hagener Bühne. Susanne Knapp inszeniert die Reminiszenz an die Romantik, die in der Zerrissenheit ihres Helden auch in die Moderne vorausweist; Premiere ist am 30. November. Auch das Ende der Spielzeit im Sommer 2020 hat mit der Moderne zu tun: In Jerry Bocks „Anatevka“ geht auch eine alte Welt unter, die viel mit nostalgischen Träumen zu tun hat, und muss der neuzeitlichen Brutalität organisierter Pogrome weichen.

Auf dem Foto (v.l.n.r.): Antje Haury (Orchesterdirektorin), Dr. Thomas Brauers (Geschäftsführer), Marguerite Donlon (Ballettdirektorin), Margarita Kaufmann (Kulturdezernentin), Sven Söhnchen (Aufsichtsratsvorsitzender), Anja Schöne (Leiterin Lutz Hagen), Francis Hüsers (Intendant). Foto: Theater Hagen.

Auf dem Foto (v.l.n.r.): Antje Haury (Orchesterdirektorin), Dr. Thomas Brauers (Geschäftsführer), Marguerite Donlon (Ballettdirektorin), Margarita Kaufmann (Kulturdezernentin), Sven Söhnchen (Aufsichtsratsvorsitzender), Anja Schöne (Leiterin Lutz Hagen), Francis Hüsers (Intendant). Foto: Theater Hagen.

Eine andere Linie, die in dieser Spielzeit mit Henry Purcells „Dido und Aeneas“ (Premiere am 18. Mai) bedient wird, führt Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ am 29. Februar 2020 weiter. Kerstin Steeb übernimmt die Aufgabe, in ihrer Inszenierung die Inhalte freizulegen, die eine Oper an der Schwelle der Aufklärung mit unserer Zeit verbindet. Um einen aufgeklärten Herrscher geht es auch in „Zar und Zimmermann“, mit dem am 1. Februar 2020 endlich wieder einmal eine Oper Albert Lortzings in der Rhein-Ruhr-Region zu sehen ist. Denn Zar Peter der Große schleicht sich inkognito in eine niederländische Hafenstadt ein und mischt die kleinbürgerliche Gesellschaft ordentlich auf – alles natürlich versteckt unter harmlosem Gedöns, um die damalige Zensur nicht aufmerksam zu machen.

Neue Ballettdirektorin choreografiert zwei Abende

Marguerite Donlon, neue Ballettdirektorin am Theater Hagen. Foto: Werner Häußner

Marguerite Donlon, neue Ballettdirektorin am Theater Hagen. Foto: Werner Häußner

Mit Marguerite Donlon tritt in Hagen eine neue Ballettdirektorin ihre Aufgabe an und stellt sich am 5. Oktober mit einem Abend um eine starke Frau vor: „Casa Azul“ nennt die gebürtige Irin Donlon ihren Einstand den sie der mexikanischen Malerin mit deutschen Wurzeln Frida Kahlo widmet – einer Künstlerin, die lange als „exotische Blume am Knopfloch des großen Meisters Diego Rivera“ galt und erst in den Siebziger Jahren im Zuge der Frauenbewegung in ihrer wirklichen Bedeutung erfasst wurde.

Eine weitere Choreografie, die Donlon bereits 2009 in ihrer Zeit als Ballettdirektorin in Saarbrücken entwickelt hatte, bildet den Abschluss der Hagener Ballettabend-Trias: „Schwanensee – Aufgetaucht“ in einer Kombination der Musik Tschaikowskys mit elektronischen Sounds von Sam Auinger und Claas Willeke (Premiere am 9. Mai 2020). Dazwischen, am 13. Februar, zeigen die Tänzer*innen (das Heft ist konsequent mit Sternchen durchgegendert) der Compagnie in kurzen Szenen einer „kreativen Werkstatt“ ihr choreografisches Können. „Substanz“ heißt dieser Abend.

Rock-Shows und sinfonische Neugier

Im Schauspiel setzt das Haus neben einer eigenen Produktion – Shakespeares „Sommernachtstraum“ in der Regie von Francis Hüsers – auf Gastspiele. Im Programm finden sich auch die bewährten Kabrett-Abende sowie als Wiederaufnahme die erfolgreiche Rock-Show „Take a Walk on the Wild Side“, fortgesetzt durch die Neuproduktion „Wenn die Nacht am tiefsten (… ist der Tag am nächsten)“ am 14. März 2020, eine Bühnen-Party, in der nach den amerikanischen Titeln nun deutscher Rock und Punk zu seinem Recht kommt – von den Toten Hosen bis Nena.

Alexander Krichel spielt Clara Schumanns Klavierkonzert. Foto: Uwe Arens, Sony Classical

Alexander Krichel spielt Clara Schumanns Klavierkonzert. Foto: Uwe Arens, Sony Classical

Der Blick ins orangefarbene Heft zeigt auch, dass GMD Joseph Trafton mit dem Orchester Hagen ein Programm auflegt, das so gar nichts von verstaubter Abonnenten-Bedienung an sich hat, sondern pfiffig und vielseitig Neugier weckt: Ob eine von Bauhaus-Künstler Wassily Kandinskys Bühnenentwürfen inspirierte Video-Show von Arthur Spirk zu Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“, ein russisches Programm mit dem von Steven Isserlis gespielten Cellokonzert Nr. 2 von Dmitri Kabalewsky oder Robert Schumanns „Das Paradies und die Peri“, ergänzt von „Blue Cathedral“, einem von bisher über 400 Orchestern gespielten Klangpoem der Amerikanerin Jennifer Higdon aus dem Jahr 2000. Orchesterdirektorin Antje Haury bestätigt die Beobachtung: Im sinfonischen Repertoire stehen diesmal viel mehr Werke von Frauen als sonst üblich: Neben dem Klavierkonzert der Jahres-Jubilarin Clara Schumann, gespielt am 19. Mai 2020 von Alexander Krichel, enthalten die Programme Werke von Lili Boulanger, Fanny Hensel-Mendelssohn und Kaija Saariaho.

Das abwechslungsreiche Programm des Kinder- und Jugendtheaters im Lutz, zwei große Vermittlungsprojekte gemeinsam mit dem Orchester, die Gründung einer neuen Jugendtanzgruppe und einer Orchesterakademie zeigen: Das Theater Hagen geht gut aufgestellt in die neue Spielzeit und wirkt mit seinen großen, ambitionierten Produktionen, aber auch mit seinen kleinen ehrgeizigen Projekten hinein in die Stadtgesellschaft.

Info: www.theaterhagen.de




Die Kunst kämpft am Limit: Theater Hagen stellt trotz harter Kürzungen einen ehrgeizigen Spielplan für 2018/19 vor

Hier wird, so kommt es einem vor, mit einem Mut gekämpft, der sich bewusst ist, dass er nichts mehr verlieren kann. Die verordneten Kürzungen treffen das Theater Hagen in der kommenden Spielzeit in vollem Umfang und müssen bis 2022 realisiert sein. 1,5 Millionen sind für einen Etat von rund 14,25 Millionen Euro eine gravierende Summe. Und dennoch kündigt Intendant Francis Hüsers für 2018/19 die gleiche Zahl von Vorstellungen und sogar mehr Produktionen an.

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Wie soll das funktionieren angesichts des notwendigen Abbaus von künstlerischem Personal, etwa in Orchester und Ballett? Hüsers, Intendant seit der Spielzeit 2017/18, will die Ressourcen des „sehr gut aufgestellten Theaters“ ausschöpfen, will Doppelfunktionen des Personals „noch exzessiver“ nutzen. Das Publikum soll nicht merken, was Geschäftsführer Michael Fuchs bei der Vorstellung der kommenden Spielzeit sehr realistisch beschrieb: „Das Hemd ist dünner geworden, die Risiken steigen“. Sagen wir es deutlicher: Das Hemd ist nur noch ein Spinnfädchen, und ob die Risiken einer solchen Null-Reserve-Politik noch zu bewältigen sind, wird das kühne Führungsteam des Theaters Hagen ab Herbst zu beweisen haben.

Selbstausbeutung

Was das alles für die Menschen am Haus bedeutet, muss ungeschminkt ausgesprochen werden. Es ist ja nicht so, dass der künstlerisch erfolgreiche frühere Intendant Norbert Hilchenbach hätte aus dem Vollen schöpfen können. Ein Chronist könnte die Sparwellen aufzählen, die bereits über das Theater hinweggerollt sind. Jetzt geht es wohl nur noch um Selbstausbeutung am Limit. Und die Künstlerinnen und Künstler an diesem Haus verdienen allein dafür Anerkennung, dass sie sich – um der Kunst oder der eigenen Existenz willen – diesen Zumutungen unterwerfen.

Dennoch wäre simple Politikerschelte wohlfeil – und man könnte ihr leicht entgegenhalten, dass Hagen froh sein darf, überhaupt noch ein Theater mit eigenem Ensemble halten zu können. Die Ursachen dieser Krise liegen tief in einer seit langem defizitären Kulturpolitik. Hoffnungen ruhen auf der Landesregierung: Theoretisch könnte sie mit den Baukosten von 300 Metern Autobahn die Finanzierung des Hagener Theaters mit einem Schlag sanieren und den Abbau von hoch kreativen Arbeitsplätzen in dieser nicht gerade von Kultur strotzenden Stadt rückgängig machen.

Das Leitungsteam des Theaters Hagen stellt das Spielzeitheft 2018/19 vor. Das kleine Format und die gelbe Farbe erinnern nicht ohne Hintersinn an ein bekanntes Produkt, mit dem große Literatur für kleines Geld möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden soll. Foto: Theater Hagen

Das Leitungsteam des Theaters Hagen stellt das Spielzeitheft 2018/19 vor. Das kleine Format und die gelbe Farbe erinnern nicht ohne Hintersinn an ein bekanntes Produkt, mit dem große Literatur für kleines Geld möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden soll. (Foto: Theater Hagen)

Doch zurück zur Kunst. Hüsers kündigt einen Spielplan mit Schwerpunkt auf „romantischer“ Oper an – was man eben so landläufig darunter versteht. Darunter fallen sicherlich Antonín Dvořáks „Rusalka“ (ab 1. Dezember 2018) und Richard Wagners „Tristan und Isolde“, ab 7. April 2019 fünf Mal sonntags auf dem Spielplan, mit GMD Joseph Trafton am Pult und Jochen Biganzoli als Regisseur.

Besonderes Profil zeigt Hüsers damit nicht, aber es ist ihm zugute zu halten, dass er bei der Top-Riege der Komponisten nicht zu den populärsten Titeln greift: Von Giuseppe Verdi etwa setzt er „Simon Boccanegra“ an (ab 29. September, Regie Magdalena Fuchsberger), von Gioachino Rossini „Il Turco in Italia“ (ab 2. Februar 2019), für den er Christian von Götz als Regisseur gewonnen hat. Cole Porters „Kiss me, Kate“, „Pariser Leben“ zum Offenbach-Jahr, Richard O`Briens „The Rocky Horror Show“ und Duncan Sheiks „Spring Awakening“ nach Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ in Zusammenarbeit mit der Hochschule Osnabrück markieren einen Schwerpunkt auf dem unterhaltenden Musiktheater – was Sinn und sicher auch Spaß macht und in der Region eine eigene Farbe setzt. Der beliebte „Zauberer von Oz“ als weihnachtliches Fantasiestück dürfte bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen Beifall finden.

Spannendes Projekt mit dem Osthaus Museum

Ein spannendes Projekt realisiert das Theater gemeinsam mit dem Osthaus Museum. Zu Ostern 2019 kombiniert es auf der Bühne Claudio Monteverdis berührendes dramatisches Madrigal „Combattimento di Tancredi e Clorinda“ mit einer Präsentation von Skulpturen aus dem Museum und will mit dieser Verbindung der Künste die existenziellen Motive von Liebe, Tod und Auferstehung umkreisen.

Ab 18. Mai 2019 arbeiten Ballett und Oper zusammen in einem Doppelabend mit Henry Purcells „Dido und Aeneas“ und Georg Friedrich Händels „Wassermusik“. Alfonso Palencia übernimmt die Inszenierungs-Choreografie und wird mit Sängern und Tänzern einen dialogischen Abend erarbeiten, der mit Mut zum Risiko die Schranken zwischen den Sparten einzureißen verspricht. Das Ballett eröffnet Alfonso Palencia zu Beginn der Spielzeit am 15. September mit der Wiederaufnahme eines Klassikers: „Cinderella“ mit der Musik Sergej Prokofjews (Premiere war am 14. April).

„Trotz aller Unkenrufe – es gibt das Schauspiel in Hagen und es wird es weiter geben“, verkündete Hüsers bei der Pressekonferenz. Im Programm stehen Shakespeares „Wie es euch gefällt“ mit der bremer shakespeare company und eine Adaption des Romans „Menschen im Hotel“ von Vicki Baum vom Rheinischen Landestheater Neuss, aber auch ein Solo-Abend mit Marilyn Bennett, der einer Figur aus James Joyces „Ulysses“, Molly Bloom, gewidmet ist. Als Eigenproduktion kündigt Hagen Friedrich Schillers „Die Räuber“ ab 12. Januar 2019 an – und zwar mit Kristine Larissa Funkhauser aus dem Sängerensemble als Amalia.

In den Sinfoniekonzerten ist Ungewöhnliches zu entdecken

Generalmusikdirektor in Hagen ist Joseph Trafton. Foto: Fritz J. Schwarzenberger

Generalmusikdirektor in Hagen ist Joseph Trafton. (Foto: Fritz J. Schwarzenberger)

Ein Blick ins Programm der zehn Sinfoniekonzerte lohnt sich: Beim ersten Konzert der Saison am 11. September dirigiert Joseph Trafton Gustav Mahlers Erste und das Mandolinenkonzert von Avner Dorman, der 2017 mit der Oper „Wahnfried“ in Karlsruhe einen grandiosen Erfolg feiern konnte. Im dritten Konzert am 13. November spielt ein „rising star“ der Klavierszene, Adam Laloum, das B-Dur-Konzert von Johannes Brahms; zuvor erklingen John Adams‘ „The Chairman Dances“ – ein Echo auf die künstlerisch so ergiebige Reihe amerikanischer Opern der letzten Jahre am Hagener Theater. Am 28. Mai 2019 kombiniert Trafton Adams‘ „Harmonielehre“ mit Richard Strauss „Ein Heldenleben“.

Auch in den anderen Konzerten ist Ungewöhnliches zu entdecken, ob Sinfonien von Luigi Boccherini, die Uraufführung eines Konzerts für Horn und Trompete von Wolf Kerschek am 9. Oktober, verbunden mit Dvořáks Sechster Symphonie, Werke von Ralph Vaughan Williams oder am 18. Juni 2019 ein Abend mit HK Gruber und dem Pianisten Frank Dupree mit amerikanischer Musik von Gershwin und Weill bis Duke Ellington. Und wer sich für regionale (Musik-)Geschichte interessiert, dem sei das Gedenkkonzert an den ersten Großangriff auf Hagen 1943 am 1. November 2018 ans Herz gelegt. Darin erklingt die „Trauermusik“ des damaligen Hagener GMD Hans Herwig.

Info: www.theaterhagen.de