Bitterböser Schwank ist Stück des Jahres – Oliver Bukowski bekam für „Gäste“ den Dramatikerpreis / Stücke von Elfriede Jelinek und Theresia Walser

Von Bernd Berke

Mülheim. Lang haben sie diskutiert, die Juroren der Mülheimer Theatertage „stücke 99″. Zum Schluß, gegen 1 Uhr in der Nacht zum Sonntag, stand es beim Dramatiker-Wettbewerb auf Spitz und Knopf zwischen Elfriede Jelinek und Oliver Bukowski. Und dann entschieden die Übermüdeten plötzlich hopplahopp: Büchnerpreisträgerin Jelinek, in Mülheim noch nie erfolgreich, ging auch diesmal leer aus. Oliver Bukowskis Beitrag „Gäste“, bitterböse und bizarre Bauern-Tragikomödie aus deutscher Ost-Provinz, wurde zum Stück des Jahres erkoren.

Es war ein Resultat, mit dem sich ein Großteil des Publikums (dessen Kollektivstimme freilich an Peter Turrinis „Die Liebe in Madagaskar“ ging) gut abfinden konnte. Denn diabolisch geschickt maskiert der aus Cottbus stammende Bukowski (Jahrgang 1961) sein Drama vom „Heilsbringer“, der ein unterwerfungswilliges Dorf heimsucht, als Schwank herkömmlichen Zuschnitts, um nach und nach die Erwartungen desto gründlicher zu unterlaufen. Die vermeintliche Gaudi mündet mit erschreckender Konsequenz im Selbstmord einer Protagonistin. Unerbittlich genau ist Bukowskis Blick für menschliche Hinfälligkeit und Verzweiflung. Sein handfestes, ja zuweilen derbes Theater ergeht sich zudem in einer famos austarierten Kunstsprache, die gleichwohl nicht erkünstelt wird.

Wie ein schwebendes Klangereignis

Ganz und gar nicht handfest, sondern ein schwebendes Klangereignis von großer sprachschöpferischer Kraft ist Elfriede Jelineks „er nicht als er“, am Schlußtag des Wettbewerbs dargeboten vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Jelinek begibt sich auf eine Gratwanderung zwischen sprachlich-seelischer Anverwandlung und Selbstbehauptung: Mit ungeheurer Intensität befragt sie Leben und Werk des unbedingt lesenswerten Schweizer Dichters Robert Walser (1878-1956; „Räuber-Roman“, „Der Gehülfe“, „Geschwister Tanner“), der in einer Nervenheilanstalt endete.

In hohem Maße dem (Mit)Leiden zugeneigt, erkundet Jelinek auch die eigenen Gefährdungen. Letztmögliche Literatur, letzte sprachliche Aufgipfelung vor dem Verstummen? Eine Handlung gibt es praktisch nicht, der nur rund 15 Manuskriptseiten umfassende Text hat eher prosaische als dramatische Gestalt. Regisseur Jossi Wieler hat die harsche Herausforderung angenommen und vier sprechende sowie zwei stumme Rollen daraus destilliert. Die sprachlich bis ins Detail durchkomponierten, mit lyrischen Qualitäten gesättigten Wortfolgen („Durchseihen des Seienden“) sind keineswegs Lesestoff fürs stille Kämmerlein, sondern drängen wie eine Partitur zur tönenden Verwirklichung.

Lyrischer Jelinek-Text ist nichts für schwache Darsteller

Besser als das prominente Hamburger Ensemble (André Jung, Marien Diekhoff, Ilse Ritter, Lore Stefanek) wird man den hohen Schwierigkeitsgrad schwerlich meistern können. Wehe, wehe, wenn schwächer besetzte Bühnen sich an den empfindlichen Jelinek-Text wagen, der gewiß noch manches germanistische Seminar beschäftigen wird…

Vor Jelinek war Martin Walsers eminent begabte Tochter Theresia (Jahrgang 1967) mit ihrem ebenso illusionslosen wie poetischen Drama „King Kongs Töchter“ (Theater Neumarkt, Zürich / Regie: Volker Hesse) in den Wettbewerb gegangen. Denkbar weit entfernt vom gängigen Markt-Ideal fideler und allzeit konsumwilliger Senioren, stößt sie uns ins siechende Elend einer Alten-Verwahrstätte. Dort begehen, gleichsam schwarze Krähen in weißen Kitteln, drei Pflegerinnen eine Art Walpurgisnacht, einen gelegentlich makabren Totentanz zwischen hilflos sabbernder Geilheit und anrührender Erinnerungs-Melancholie ihrer Schutzbefohlenen.

Fast schon ein Karneval des bevorstehenden Ablebens: trostlose Komik, traurige Triebe, grelle Schminke, hoch die Schnabeltassen! Auch dieses physisch überaus präsente Stück hätte einen Preis verdient.




Shakespeare als Kind und als Karnevalist – Berliner Theatertreffen: Verdruss mit dem Klassiker, Glück mit Jelinek

Von Bernd Berke

Berlin. „Wow, sterben! Echt?“ So spricht sonst keine Julia von Shakespeare, so quatschen vielleicht Comic-Figuren oder „Szene“-Typen. Doch wenn eine Regisseurin wie Karin Beier sich das alte Liebesdrama in Frank Günthers Übersetzung vorknöpft, wächst Julia der Schnabel anders.

Es stand zu befürchten, daß das Berliner Theatertreffen nach seinem Senkrechtstart (die WR berichtete) ins Trudeln geraten würde. Tatsächlich legte die Düsseldorfer Version von „Romeo und Julia“ keine sonderliche Ehre ein. Der Beifall des kundig-kritischen Berliner Publikums im Schillertheater (als Staatsbühne bekanntlich weggespart) war Pflichtübung, mit Buhrufen für die Regie versetzt.

Karin Beier, die schon in der freien Szene mit Shakespeare umsprang und dann von Volker Canaris ans Düsseldorfer Schauspielhaus geholt wurde, setzt das berühmte Paar (Matthias Leja, Caroline Ebner) in eine Szenerie aus industriellen Fertigteilen. Sieht aus wie unter ’ner Autobahnbrücke. Hier können sich die jungen Leute mal richtig austoben – mit Disco-Tanz und Kung-Fu-Kampf.

Eine ganze Spielzeugkiste wird ausgekippt

Einmal hüpft sogar ein lustiger Aufziehfrosch daher. Eine Mixtur aus schöner neuer Fitness-Welt und Spielplatz. Beiers bunte Bühne spielt „Pelle, Petz und Pingo“. Doch solch allzu grelle Farbigkeit wird auf Dauer grau.

Platz für Liebe gibt’s hier natürlich nicht, nur für einen Zoo von wirren Gefühlen. In der gemeinhin als Balkonszene bekannten Sequenz schweben Romeo und Julia auf zwei Schaukeln und plappern wie Papageien. So etwas färbt ab. Auch ernstere Sätze klingen später kindsköpfig.

Leider sonnenklar, was Karin Beier uns beibiegen wollte: daß heutige Jugendliche die alten dramatischen Gefühle nicht mehr aufbringen können. Doch muß sie dazu ihre ganze Spielzeugkiste vor uns auskippen?

Sonderbar, wie sich die Handlung schließlich ins Hoffnungslose wendet. Vielleicht erklärt sich der schroffe Wandel so: Kind lacht. Kind weint. Und wird auch wieder lachen. Aber warum hat man diese Talentprobe gleich zum Berliner Theatertreffen eingeladen? Man hätte Karin Beiers weitere Entwicklung abwarten sollen.

Weißer Mercedes, schnurlose Telefone

Mit ihrer Auswahl von Shakespeare-Umsetzungen hatte die Jury der Theatertage eh keine glückliche Hand. Das zeigte auch Michael Jurgons‘ Schweriner „Othello“-Inszenierung, vorgeführt im Haus des Berliner Ensembles. Das Stück erstickt unter karnevalistischen Einfällen. Vordergründige Modernismen der kaum noch erträglichen Art kommen hinzu. Der eifersüchtige Othello (Dirk Glodde), im Übermaß geschminkt wie ein „Sarotti-Mohr“ und meist äffisch in seinem Gehabe, fährt schon mal im weißen Mercedes vor, und es wird eifrig mit schnurlosen Telefonen hantiert. Man führt DDR-Uniformen spazieren, ein Transvestit sächselt wie einst der verhaßte Staatschef Walter Ulbricht. Wenn ein Regisseur dermaßen Shakespeare nicht für voll nimmt, fällt es auf ihn selbst zurück. Überzeugend freilich der Intrigant Jago (Thorsten Merten), sympathisch-hemdsärmelig und kumpelhaft. Diesem Keri kann man es kaum übel nehmen, wenn er die Militaristen des Stücks gegeneinander hetzt.

Die Sprachmaschine wirft Deutsches aus

Mit einem ungeheuer schwierigen Text von Elfriede Jelinek plagte sich anderntags im Ballhaus Rixdorf zu Berlin-Neukölln ein sechsköpfiges Frauenensemble des Deutschen Schauspielhauses Hamburg (Regie: Jossi Wider): Jelineks „Wolken. Heim.“ versucht sich an sprachlicher Tiefen-Analyse prekären „Deutschtums“, anhand einer Textcollage von Hölderlin bis zum RAF-Bekennerschreiben. Die Zusammenstellung macht nationale Macken dingfest, sperrt sich aber gegen theatralische Umsetzung.

Desto staunenswerter. was die Hamburger daraus gewinnen. Die im Original nicht dialogisch aufgeteilte Textmasse wird zur Partitur für sechs Frauenstimmen, zur bösen Sprach-Maschine, die mit bedrohlichem Singsang immerzu erschreckend Deutsches auswirft. In Anna Viebrocks Bühnenbild zwischen Führer-Bunker, Kaserne und teutonischer Gemütlichkeit verleihen Darstellerinen wie Ilse Ritter und Marlen Diekhoff dem Stoff große Dringlichkeit. Die anwesende Autorin bekam rauschenden Applaus. Da war es wieder: das Glück des Gelingens im Theater.