Festspiel-Passagen: „La Donna del Lago“ in Pesaro zeigt, was bei Rossini zu entdecken ist

Das Teatro Rossini in Pesaro, Spielort des Festivals, bei dem sich alles um den berühmten Sohn der Stadt an der Adria dreht. Foto: Werner Häußner

Das Teatro Rossini in Pesaro, Spielort des Festivals, bei dem sich alles um den berühmten Sohn der Stadt an der Adria dreht. Foto: Werner Häußner

Als 1980 das Rossini Festival in Pesaro, der Heimatstadt des Komponisten, gegründet wurde, gehörte der einstige Superstar unter den Musikschöpfern noch zu den großen Unbekannten: Die Literatur war überholt und geprägt von Anekdotischem, zuverlässiges Notenmaterial gab es kaum, Aufführungen beschränkten sich auf den allgegenwärtigen „Barbier von Sevilla“ und dessen – damals noch nicht lange wiederentdeckte – buffoneske Flügelwerke „La Cenerentola“ und „Die Italienerin in Algier“.

In Deutschlands dichter Theaterszene waren zumal die ernsten seiner fast 40 Opern kein Thema. Wenn überhaupt, spielte man einstige Mega-Erfolge wie „Tancredi“, „Semiramide“ oder „Guillaume Tell“, weil man virtuose Gesangsspezialisten wie Marilyn Horne oder Montserrat Caballé präsentieren wollte.

Die Gründung des Festivals „Rossini in Wildbad“ und seine spätere inhaltliche Absicherung durch den seit 25 Jahren unermüdlich tätigen Jochen Schönleber setzte ein Zeichen: Die mühevolle wissenschaftliche Erschließung des Œuvres Rossinis, in Pesaro durch die Fondazione Rossini mit ihrer kritischen Edition der Werke und des Briefwechsels geleistet, findet in dem Kurbad in Württemberg einen lebendigen theatralen Widerhall: In manchmal abenteuerlich improvisierten szenischen Aufführungen eröffnete sich einem staunenden Publikum eine neue Welt eleganter, spritziger, einfallsreicher Musik, vorgetragen von Sängern, die im Lauf der Zeit das technische Rüstzeug für Rossinis Belcanto immer sicherer beherrschten. Die Impulse aus Pesaro kamen in Deutschland an, fanden aber kaum Widerhall. Erst in jüngerer Zeit erwachte die Aufmerksamkeit für das gesamte Werk Rossinis, wagen sich neben Mannheim („Tancredi“) oder Frankfurt („La gazza ladra“) selbst mittlere und kleinere Bühnen wie Gelsenkirchen und Nürnberg („Guillaume Tell“) Rostock („Ermione“) oder Würzburg (ebenfalls mit der „diebischen Elster“) an den weniger bekannten Rossini.

Doch dass ein so tiefgründiges Werk wie „Sigismondo“ – in diesem Jahr die zentrale Produktion in Bad Wildbad – ebenso unbeachtet bleibt wie die köstliche Satire „La pietra del paragone“ – 2017 in Pesaro auf dem Plan – ist kaum verständlich und keineswegs mit der Qualität der Werke zu rechtfertigen.

Immerhin: Die Zeiten, in denen Rossini als irgendwie genialer, aber wenig tiefgründiger Vielschreiber galt, der sich rechtzeitig vor dem Bannstrahl der musikalischen Entwicklung in seine Gourmet-Küche zurückgezogen hatte, sind vorbei. Beide Festivals haben entscheidend dazu beigetragen, den Firn vom Bild des „Schwans von Pesaro“ abzutragen und seine Persönlichkeit wie seine vielseitige Kunst in frischen Farben strahlen zu lassen.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Dass dennoch einiges zu tun bleibt, zeigt ein Besuch beim „Original“, dem Rossini Festival Pesaro. Wo am Strand Teutonen, aber auch Angelsachsen und Moskowiter grillen, flanieren durch die Einkaufsmeile – Via Rossini, wie sollte sie sonst heißen – die Rossinianer, vorbei an der prächtigen Gründerzeitpost an der Piazza del Popolo und am Geburtshaus Rossinis, heute ein Museum. Das Ziel ist das Teatro Rossini, ein hübsches, klassisches, 1818 erbautes Theater. Dort und in der „Arena adriatica“, einem umgebauten Sportpalast, finden die Vorstellungen an den zwölf Festival-Tagen statt.

Das Festival stand diesmal im Zeichen des 20-jährigen Pesaro-Jubiläums von Juan Diego Flórez. 1996 begann der Tenor mit der kristallen schimmernden, technisch phänomenal abgesicherten Stimme seine Karriere an der Adria – und beim irischen Wexford Opera Festival in einer Oper eines anderen großen Unbekannten des 19. Jahrhunderts: „L’Etoile du Nord“ von Giacomo Meyerbeer.

Flórez war der Star in Rossinis „La Donna del Lago“, die in einer ambitionierten Regie von Damiano Michieletto in der Sportarena Premiere hatte. Für die Rossini-Rezeption ein gutes Zeichen: Der Tenor mag der prominenteste im Sängerteam sein, aber er agierte als Gleicher unter Gleichen. Auch der vorher schon in Wildbad bewunderte Amerikaner Michael Spyres – einer der seltenen „baritenori“, der scheinbar mühelos drei Oktaven durchmisst – wurde gefeiert.

Die beiden Sängerinnen Salome Jicia und Varduhi Abrahamyan standen ihnen in nichts nach: Die Damen sind ein Beispiel dafür, wie sich Pesaro in der Accademia Rossiniana unter Leitung des bald 90-jährigen Alberto Zedda seinen eigenen Sängernachwuchs heranzieht. In den Kursen bekommen junge Interpreten den letzten Schliff, um den schwindelerregenden technischen und stilistischen Anforderungen der Rollen gerecht zu werden.

Melancholische Erinnerung eines gealterten Ehepaares

„La Donna del Lago“ war mehr als ein Sängerfest. Als die Oper 1819 in Neapel uraufgeführt wurde, war sie auf der Höhe der literarischen Entwicklung der Zeit. Mit Sir Walter Scotts „The lady of the lake“ benutzten Rossini und sein Librettist Andrea Leone Tottola einen modernen romantischen Stoff eines in ganz Europa angesagten Unterhaltungsautors. Aus der Geschichte um eine wehmütig umflorte Liebe in politisch bewegten Zeiten (Scott bezieht sich auf Jakob V. von Schottland, Vater von Maria Stuart und dessen Kampf gegen schottische Clans und das von der katholischen Kirche abtrünnige England Heinrichs VIII.) macht Michieletto die melancholische Rückerinnerung eines gealterten Ehepaares.

Elena, Tochter des Clanchefs Duglas, soll eigentlich aus politischen Gründen Rodrigo heiraten, den Anführer eines anderen mächtigen Familienverbands. Heimlich liebt sie jedoch den jungen Malcom. Der König, der ihre Schönheit rühmen hörte, trifft sie inkognito an einem Gewässer. Zwischen dem Unbekannten und dem „Fräulein vom See“ entwickelt sich tiefe Sympathie. Als Duglas und Malcom, von königlichen Truppen überwältigt, gefangen gesetzt werden, will Elena mit einem Ring, den ihr der Unbekannte gab, ihre Befreiung erwirken und erkennt den König. Der verzichtet auf das Mädchen und führt die Liebenden zusammen.

Ein Opernabend der Extraklasse

Zu Beginn, es sei gestanden, wirkt Michielettos Exposition ein wenig manieriert: Ein altes Ehepaar sitzt in einem leeren Raum, auf einem Tisch ein Bild, davor schwarze Blumen. Die Frau trauert vor einem Konterfei – und wir ahnen, es steht für eine unerfüllte Liebe. Der alte Herr erregt sich, schüttet das Blumenwasser weg, wirft die Blüten auf den Boden, verlässt den Raum. Bald zeigt sich: Die stumme Handlung ist der Schlüssel zu Michielettos Konzept, „La Donna del Lago“ als ein Stück über ein gelebtes Leben zu inszenieren. Die ausgeklügelte Bühne Paolo Fantins öffnet einen zweiten Raum, ein verfallenes, herrschaftliches Haus: Die Decke ist eingebrochen, Wurzeln ragen in den Raum, die Scheiben der Fenster sind gesplittert. Man fühlt sich an verlassene Ruinen wie Moore Hall in Irland erinnert, vermooste Zeugnisse einer imaginierten einstigen „heilen“ Welt.

Der magische Realismus Fantins und des Kostümbildners Klaus Bruns schafft einen Ort der Erinnerung, der Fantasie, der verschütteten und wiedererwachenden Gefühle; Alessandro Carlettis Licht setzt mit unwirklichem Blau Zäsuren und bricht vermeintlich Reales. Schilfumstandene Teiche lassen den Raum traumhaft-absurd und symbolisch geladen erscheinen. Gegenwart und Erinnerung verschwimmen ineinander: Michieletto setzt für Elena und Malcom – das alte Paar – Doubles ein, mit denen die Interaktion der Zeitebenen erfahrbar wird.

Rossinis Geburtshaus in Pesaro. Foto: Werner Häußner

Rossinis Geburtshaus in Pesaro. Foto: Werner Häußner

Der europaweit gefragte italienische Regisseur schafft in dieser brillanten Konzeption, ein wesentliches Element des Versromans schlüssig zu übersetzen: Denn Scott schreibt nicht so sehr eine poetische Elegie über Erfüllung und Verzicht in der Liebe, sondern reflektiert – wehmütig und verklärend – die schmerzlichen Risse und Brüche in Schottlands Geschichte. Michieletto verfällt nicht dem historisierenden Fehlschluss, Rossinis Oper zu „Braveheart“ zu machen. Er übersetzt Scotts nostalgisches Geschichtsbild in das innere Schicksal von dessen Figuren, einfühlsam gedeutet von Rossinis Musik.

Es ist ein Opernabend der Extraklasse, an dem die ausgezeichneten Sänger, aber auch Dirigent Michele Mariotti sowie Chor und Orchester des Teatro Communale di Bologna entscheidend Anteil haben. Selten hört man Rossinis Musik so beweglich und transparent, aber auch so achtsam auf ihre damals modernen romantischen Ausdruckswerte befragt wie an diesem Abend.

Noch drei andere Bühnenwerke präsentierte das Festival an der Adria in diesem Jahr: „Il Turco in Italia“ ist eine der bekannteren hintersinnigen Komödien Rossinis; „Ciro in Babilonia“ die erste aufgeführte ernste Oper des zur Zeit der Uraufführung 1812 Zwanzigjährigen. Dazu kam „Il Viaggio a Reims“ als Produktion mit jungen Sängerinnen und Sängern. Im nächsten Jahr sollen zwischen 10. und 22. August „Le Siège de Corinthe“ und die erwähnte Satire „La Pietra del Paragone“ aufgeführt werden, dazu kommt die Wiederaufnahme von „Torvaldo e Dorliska“.

Außerdem organisiert die Fondazione Rossini vom 9. bis 11. Juni 2017 einen Kongress, bei dem die junge Generation der Musikologen zu Wort kommen und neue Methoden und Zugänge zu Rossinis Werk und seiner Rezeption vorgestellt werden sollen. Das Festival verkündet in diesem Jahr ein bisher nie erreichtes Rekordhoch bei den Einnahmen (1,16 Millionen Euro) und den Besuchern (17.250, davon 71 Prozent aus dem Ausland) – und das bei stetigen Kürzungen der Mittel und der ständigen Unsicherheit durch die chaotische Kulturpolitik des italienischen Staates.

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Ausblick:

Es bleibt dabei: Der „Barbier von Sevilla“ dominiert auch in der Spielzeit 2016/17 die deutschen Spielpläne in Sachen Rossini. Aufgeführt wird er unter anderem in Bremen (Premiere am 22. Oktober), in Essen (ab 16. September) und in Mönchengladbach im Theater Rheydt (ab 24. September). Herrlich absurd die Spielplangestaltung in Berlin: Dort zeigen alle drei Opernhäuser als einzige Rossini-Oper den „Barbier“ – die Komische Oper trägt zu diesem Einerlei auch noch eine Premiere bei (9, Oktober, Regie Kirill Serebrennikow).

Der „andere“ Rossini lässt sich zum Beispiel bei den Bregenzer Festspielen erleben, wo Lotte de Beer die biblische Oper „Mosé in Egitto“ inszeniert (Premiere am 20. Juli 2017). Oder in Mannheim, wo am 9. Oktober Cordula Däupers asketische Inszenierung von „Tancredi“ wiederaufgenommen wird. Am 12. Februar 2017 hat an der Bayerischen Staatsoper München „Semiramide“ Premiere (Regie: David Alden, Musikalische Leitung: Michele Mariotti). Um „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ zu erleben, muss man zwischen 17. und 28. März 2017 das Theater an der Wien in Österreichs Hauptstadt besuchen.

 

 

 




Die Schule des „guten Singens“: Juan Diego Flórez in der Philharmonie Essen

Die Philharmonie Essen. Foto: Werner Häußner

Die Philharmonie Essen. Foto: Werner Häußner

Einen Sänger wie Juan Diego Flórez auftreten zu lassen, mutet eigentlich als pure Verschwendung an. Schon Theodor W. Adorno hat angemerkt, heute werde nur noch das Material als solches gefeiert. Und Adornos „heute“ liegt über 50 Jahre zurück. Seither hat sich die Lage auf dem Sängermarkt weiter verdüstert.

Stimmen, die früher sogar in der italienischen Provinz von der Bühne gezischt worden wären, feiern bejubelte Triumphe: technisch unfertig, stilistisch traditionslos, präsentieren sie verquollene Töne mit Kraft und Lautstärke, mit erschreckenden Defiziten in Atem und Artikulation. Egal: Laut ist schön und schön ist laut – das gilt zumindest für das italienische Fach. Was soll da noch ein Belcantist mit einer perfekt gebildeten Stimme wie Flórez?

Und dennoch: Auch wenn die Fetischisten, die einen Sänger schon feiern, wenn er sich irgendwie durch die Partie geschummelt hat, alle Kriterien des guten Singens als bloße Geschmacksurteile diffamieren: Der Gesang, der den klassischen Schulen des Belcanto folgt, fasziniert die Menschen noch immer. Vor allem, wenn sie ein unverbildetes Gehör mitbringen und sich von den hochgepuschten Namen der Klassik-PR nicht blenden lassen. Das atemlose Lauschen, die Stille im Saal, die gebannte Stimmung sprechen für sich. Das Gefühl, die Zeit stehe still, während die Töne fließen, die Entspannung beim Zuhören: das sind Reaktionen auf Sänger wie Flórez. Der Psychologe möge erforschen, woran das liegt. Die Beobachtung sagt: Der perfekt gebildete Gesang teilt sich dem Zuhörer mit – auch wenn er über die technischen Voraussetzungen keine Kenntnis besitzt.

So gesehen, war das Konzert des Peruaners in der Philharmonie Essen dann doch keine Verschwendung. In seiner Stimme teilt sich die Faszination des „schönen Singens“ mit. Selbst wenn er Salon-Petitessen bringt wie Francesco Paolo Tostis hübsche, naive Canzonen. Bei Flórez gibt es keinen falschen Schmelz, kein sentimentales Schmachten, sondern strenge, disziplinierte Tongebung. Aber dafür ein technisch abgesichertes, völlig entspanntes Piano („Ideale“), ein grandioses Diminuendo („Vorrei morire“), und einen leuchtenden hymnischen Ton („L’alba separa dalla luce l’ombra“).

Ähnlich behandelt Flórez die Arien aus drei im spanischen Sprachraum bekannten Zarzuelas von Pablo Luna („La pícara molinera“), Reveriano Soutullo („El ultimo romántico“) und José Serrano („El trust de los tenorios“): Montserrat Caballé hat solche melodischen Kostbarkeiten schalkhaft zu Charakterstückchen geformt; Juan Diego Flórez gibt ihnen eine fein sentimentale Stimmung, ohne sie an den Schmalz zu verraten. Die Stimme bleibt dabei ausgeglichen geführt – bis in die strahlende Höhe hinein. In solchen Momenten erinnert er an den unübertroffenen König der klassischen „leichten“ Muse, den irischen Tenor John McCormack (1884-1945).

Runder, ausgeglichener Ton über den gesamten Stimmumfang

In der Oper nähert sich Flórez mittlerweile dem legendären Alfredo Kraus. Dieser 1999 verstorbene Belcantist stand in einer Zeit des oft kruden, mit Lautstärke protzenden Verismo-Gesangs für stilistische Finesse und technischen Schliff. Die wehmutsvolle Legato-Linie in „O del mio amato ben“, der wohl berühmtesten der Arien „im alten Stil“ des Wahl-Sizilianers Stefano Donaudy, dürfte Flórez derzeit niemand nachmachen. Ebenso wenig wie die elegante, bruchlose Phrasierung auf einem Atem.

Mit solchen Vorzügen kann Flórez auch in zwei Arien aus Händels „Semele“ aufwarten: Oft wird heute übersehen, dass die Gesangsschulen des 18. Jahrhunderts das Legato, die Rundung und des Ausgleich des Tons über den gesamten Stimmumfang hinweg fordern. Flórez bringt alles das mit – aber ihm fehlt in diesem Fall das stilistische Rüstzeug: Die Arien sind zu verschlafen im Tempo, zu wenig akzentuiert artikuliert. Daran hat auch der Pianist Vincenzo Scalera, ein hochberühmter Begleiter führender italienischer Sänger, seinen Anteil: Er spielt Händel, wie man „arie antiche“ vor fünfzig Jahren begleitete: zäh, mit dickem Ton und üppigem Pedal.

Leider blieb Scalera auch im Feld des romantischen Belcanto den Klavierparts einiges schuldig. Technisch sind die Triolen, Sextolen, Dreiklangbrechungen, Arpeggi und Legato-Melodien nicht anspruchsvoll, gestalterisch umso mehr. Jeder Ton braucht seine Schattierung, seine Farbe. Scalera spielt das mitunter, als korrepetiere er bei einer Bühnenprobe.

Auf dem Weg zu Donizetti und Meyerbeer

Und Juan Diego Flórez zeigt, wohin sein Weg gehen wird: zu Donizetti, zu einigen ausgewählten Verdi-Partien, vielleicht auch zu Meyerbeer. Die Romanze des Raoul aus „Les Huguenots“ gelingt ihm mit makelloses Bögen, perfekt in die Linie eingebundenen Höhen, einer kühlen Tongebung voller Finesse im Detail. Dabei ist der Klang der Stimme so unforciert tragfähig, dass man sich Flórez im Meyerbeer-Jubiläumsjahr 2014 gerne in einer Rolle dieses nach wie vor unterrepräsentierten Giganten des 19. Jahrhunderts vorstellt.

Keine Frage, dass Flórez mit der sehnsuchtsvollen Farbe in seiner Mittellage für Come un spirto angelico“ aus Donizettis „Roberto Devereux“ ein ansprechender Interpret ist. Die Tessitura liegt ihm und hilft seinem Tenor, sich tragend im Raum zu entfalten. Flórez kleidet diese Abschiedsarie in einen elegischen Ton, hält sich in den Färbungen nobel zurück und beschwört einen Stil des Singens, wie er vor der kraftvollen Expressivität eines Enrico Caruso á la mode gewesen ist.

Sein feines Vibrato ist nicht aufgedrückt, wie etwa bei neo-italienischen und osteuropäischen Sängern heute üblich, sondern wächst gleichsam natürlich mit einem gesund und substanzvoll gebildeten Ton. Das hilft ihm auch in Verdis „Je veux encore entendre ta voix“ aus der selten gespielten Oper „Jérusalem“ – einer Bearbeitung des frühen Werks „I Lombardi alla prima crociata“. Allerdings zeigt diese Arie auch Flórez‘ derzeitige Grenzen: Das Rezitativ ist zu neutral geformt; es „spricht“ nicht, verleugnet in seiner streng gefassten vokalen Disziplin, dass Verdis Oper schon einer anderen Zeit angehört als die elegischen Helden Donizetti.

Dennoch: Flórez‘ Autorität als souveräner Gestalter erfährt dadurch keinen Abbruch; eine Kompetenz, die er in den Zugaben eindrucksvoll und zum Jubel des Publikums bestätigt: Rossinis augenzwinkernder Bolero „Mi lagneró tacendo“, Flotows „M‘ appari“, die italienische Version der Arie „Ach so fromm“ aus „Martha“, und „La donna é mobile“ als „Rausschmeißer“ – in einer Formung, die Klassen über der Bemühung liegt, mit der Vittorio Grigolo auf demselben Podium vor kurzem sein Publikum unterhielt.