Die Sehnsucht nach Bleibe und die Furcht davor – Judith Hermanns Roman „Daheim“

„Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein“, rief Marcel Reich-Ranicki aus, als Judith Hermann 1998 mit ihrem Erzähl-Band „Sommerhaus, später“ ein fulminantes literarisches Debüt hinlegte. Der Literaturpapst sollte recht behalten.

Jedes ihrer Bücher stieß seitdem bei Publikum und Kritik auf große Resonanz. Interesse und Erwartungen waren jeweils riesig, weil die Autorin nicht gerade als Vielschreiberin bekannt ist und lange Pausen einlegt. Ihr neuer Roman „Daheim“ wurde bereits vor der Veröffentlichung für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Keine Bange: Judith Hermann ist nicht unter die Heimat-Dichterinnen gegangen, sie verteilt keine literarisch fein gehäkelten Spitzendeckchen und singt keine folkloristischen Lieder. Aber ihre Figuren haben sich schon immer nach einem Ort gesehnt, an dem sie sich wohlfühlen und zur Ruhe kommen können. Es sind seelisch Verletzte, von unerfüllbaren Wünschen Getriebene, sie sind heimatlos, traurig und melancholisch, rauchen und schweigen viel: Das Wichtigste steht oft in den Leerstellen zwischen den Wörtern.

Wo es kein richtiges Zuhause gibt

Die Figuren bleiben rätselhaft, auch für die Autorin, die sich ihnen annähert, ihnen aber Raum lässt zum Atmen und Flüchten. Ob sie sich ein Sommerhaus erträumen oder in einem Vorstadt-Reihenhaus versauern, ob sie im vergammelten „Lettipark“ ihre Kindheit vertrödeln oder auf einem Trip durch die USA ihren verlorenen Hoffnungen hinterher hecheln: Sie suchen immer nach dem einen Moment, der das ganze Leben verändert, nach dem richtigen Wort für das Unsagbare: „Wouldn´t it be nice / if we could live here / make this the kind of place / where we belong.“ Diese Zeile (aus einem Song der Beach Boys), die Judith Hermann ihrem Roman „Gespenster“ vorangestellt hat, könnte auch das Motto von „Daheim“ sein: Die Menschen wollen einen Platz finden, wo man hingehört und bleiben möchte. Doch kann es ihn überhaupt für eine Judith-Hermann-Figur geben?

Die (namenlose) Ich-Erzählerin ist eine Frau von Ende vierzig, sie raucht und schweigt, hat einen Ex-Ehemann, Otis, dem sie immer noch ihre Gedanken und Wünsche anvertraut, der aber nur mit sich selbst und dem Weltuntergang beschäftigt ist, in seiner Wohnung alles, was er findet, aufbewahrt, repariert und einsatzbereit hält für den Fall, dass die Gesellschaft kollabiert oder der Atomkrieg ausbricht. Ihre Tochter, Ann, hat mit 18 die Schule geschmissen, ist seitdem auf einem Erlebnis- und Erkenntnis-Trip rund um die Welt und meldet sich nur sporadisch. Wenn die Erzählerin sie fragt, wann und ob sie denn mal wieder „nach Hause“ kommt, ist das schon deshalb schräg, weil es weder für die Tochter noch die Mutter ein richtiges Zuhause gibt.

Aus der Stadt in ein Dorf am Meer

Die Erzählerin hat früher in einer (namenlosen) Großstadt gewohnt und lebt jetzt in einem (namenlosen) Dorf an einem (namenlosen) Meer, sie hat sich dort ein kleines Haus gemietet und arbeitet als Kellnerin bei ihrem älteren Bruder, Sascha, den es ebenfalls dorthin verschlagen hat. Er hat sich eine Kneipe gekauft und bewohnt ein möbliertes Haus, das einem Museum gleicht. Mit fast 60 Jahren hat er sich in ein 20-jähriges Mädchen verknallt, Nike, die den verknitterten Lover mit ihrer frechen Jugendlichkeit zur Weißglut treibt.

Die Erzählerin möchte in dem Kaff Wurzeln schlagen. Behilflich ist Nachbarin Mimi, eine Künstlerin, die nach mehreren gescheiterten Ehen in ihr Dorf zurückgekommen ist, ihre Leinwände ins Watt legt, von der Flut überrollen lässt und schaut, welche Spuren das Meer hinterlassen hat, wenn die Ebbe die Leinwände wieder freigibt. Mimi hat einen Bruder, Arild, ein Bauer, der Schweine züchtet. Er war nie woanders, würde niemals weggehen und weckt das Interesse der Erzählerin. Die beiden können gut miteinander schweigen, zwischen ihnen funkt es, auch erotisch.

Vielleicht könnte jetzt alles gut werden, wäre da nicht die Marder-Falle, die bei der Erzählerin verschüttete Ängste freilegt. Dass nicht der im Hause rumorende Marder, sondern andere Tiere in die Falle gehen, Katzen und Vögel, macht die Sache nicht leichter. Die Falle erinnert die Erzählerin an das Eingesperrt-Sein in einer Kiste.

Vom Magier in eine Kiste eingesperrt

Mit der Rückblende auf ein traumatisches Erlebnis beginnt denn auch der Roman: Als junge Frau arbeitete sie in einer Zigarrenfabrik, wohnte an einer Ausfallstraße, ging abends oft hinüber zur Tankstelle, um sich ein Eis zu kaufen. Einmal wird sie von einem älteren Mann angesprochen, einem Zauberer, der eine schöne Frau sucht, die den Mut hat, sich in eine Kiste zu legen, zum Schein zersägen zu lassen und mit ihm auf eine Schiffsreise nach Singapur zu gehen. Die Erzählerin ist von der Idee fasziniert, besucht den Zauberer in seinem abgelegenen Haus, klettert in die Kiste und übt mit ihm den Zaubertrick: Noch heute, viele Jahre später, graust es ihr, wenn sie an die Enge und den muffigen Geruch in der Kiste denkt.

Nach Singapur ist sie nicht gereist, dafür hat sie Otis kennengelernt und Ann bekommen und lebt jetzt in einem knarzenden Haus am Meer. Die Befreiung von Abhängigkeit und Fremdbestimmung ist seitdem zu ihrem Lebens-Antrieb geworden. Außerdem fühlt sie sich zeitlebens ausgesperrt und ausgestoßen.

Vielleicht alles nur geträumt

Ausgelöst durch die Marder-Falle erinnert sie sich, dass sie mit ihrem Bruder oft stundenlang im dunklen Treppenhaus ausharren und warten musste, bis die Mutter nach Hause kam und die Tür aufschloss, oder die Mutter, die allein sein wollte, die Kinder endlich in die Wohnung ließ: „Daheim“ ist bisher ein Ort der Angst und des Grauens gewesen. Vielleicht beruht alles aber auch nur auf Erfindung und Einbindung: Denn sowohl Ex-Ehemann Otis wie auch Bruder Sascha haben ganz andere Erinnerungen, und einmal räumt auch die Erzählerin ein: „Möglicherweise träume ich und habe alles geträumt, ich habe Ann geträumt und Otis, ich träume das Wasser, meine Kindheit, mich.“

Judith Hermann hat diesen leisen, poetischen, unverwechselbaren Sound, der das Schwere leicht und das Leichte schwer macht. Die Sprache schillert vor Schönheit, die Menschen dürfen sich ein wenig öffnen, aber doch ihre kleinen Geheimnisse bewahren.„Daheim“ spricht davon, wie das Alte vergeht, aber das Neue noch nicht greifbar ist, wie wir uns nach Heimat sehnen, aber uns doch davor auch fürchten. Die kämpferische Künstlerin Mimi erzählt die Legende der „Nixe“, die von Fischern einst aus dem Wasser gezogen, vergewaltig und wieder ins Meer geworfen wurde. Die Rache der „Nixe“ war grausam: sie entfachte eine gigantische Sturmflut, die alles überrollte. Die Welt der alten Männer, sagt uns Judith Hermann, ist längst zerstört, aber eine neue Welt, in der wir alle „Daheim“ sein können, lässt noch auf sich warten.

Judith Hermann: „Daheim“. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 191 Seiten, 21 Euro.




Der Zufall bestimmt das Drama der Existenz – Judith Hermanns Erzählband „Lettipark“

Ein trister Herbstmorgen auf dem Land. Bei den Großstadtflüchtlingen werden die Kohlen für den Winter angeliefert und auf die Wiese des ehemaligen Bauernhofes gekippt. Da kommt der vierjährige Vincent auf seinem Fahrrad vorbei. Vincents Vater hat sich davon gemacht, seine Mutter ist an gebrochenem Herzen gestorben.

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Doch der kleine Junge lässt sich nicht unterkriegen, er strahlt vor Lebensfreude und will jetzt unbedingt helfen, die Briketts in den Schuppen zu verfrachten, „und wir nahmen die Kohlen aus seinen kleinen schmutzigen Händen entgegen wie Hostien.“ Mit diesen Worten, die zum Weinen schön sind und ganz knapp am Kitsch vorbei segeln, endet „Kohlen“, die erste von 17 Erzählungen, die Judith Hermann unter dem Titel „Lettipark“ versammelt hat: literarische Miniaturen, traumwandlerische Spaziergänge durch schnappschussartig erfasste Lebensumstände von Menschen, die nur schemenhaft am Horizont erscheinen und gleich wieder aus dem Sichtfeld verschwinden.

Hier weist uns Judith Hermann auf einen melancholischen Blick hin, dort auf eine zarte Berührung, eine peinliche Wiederbegegnung, eine schmerzliche Erkenntnis. Ein Ehepaar kann nicht miteinander, aber auch nicht ohne einender leben. Eine junge Frau hat zwei wunderbare Kinder, aber keinen Partner, keinen Job und keine Zukunft. Zwei Frauen, als Studentinnen unzertrennlich, haben sich, als sie sich nach Jahren wieder treffen, nichts mehr zu sagen.

Und der Lettipark? Eine öde, trostlose Brache am Stadtrand: Elena und Rose, die sich zufällig in einem Supermarkt begegnen, haben dort ihre Jugend vertrödelt, sich in hübsche Jungs verliebt und in die weite Welt hinausgeträumt. Lange her. Nur noch ein fernes Echo von etwas längst Vergessenem: Was wollten wir, und was ist aus uns geworden?

Mit den filigranen Erzählungen ihres literarischen Debütbandes, „Sommerhaus, später“, hatte die 1970 in Berlin geborene Judith Hermann die Ambivalenz ihrer zwischen nervösem Aufbruch und melancholischer Fortschrittsverweigerung eingeklemmten Generation poetisch gefasst. Ihre an der US-amerikanischen Short Story und vor allem an der larmoyanten Präzision eines Raymond Carver geschulte Erzählkunst hatte etwas erschreckend Geniales und zugleich gefährlich Frühreifes.

Alles, was dann kam, die Erzählbände „Nichts als Gespenster“ und „Alice“ sowie der Roman „Aller Liebe Anfang“, hatte etwas leicht Verkrampftes. Sie erinnerten an Versuche einer Sängerin, den Ton eines Songs zu treffen, der ihr entglitten war. Doch jetzt, mit „Lettipark“, knüpft Judith Hermann an die prosaische Qualität früherer Tage an und beweist sich als ein Solitär in der deutschsprachigen Literaturlandschaft.

Wohl niemand sonst kann hierzulande mit wenigen Worten ein ganzes Universum aus Gefühlen und Gedanken zeichnen, den Leser in eine Geschichte verwickeln, die wir uns selbst erklären und zu Ende erzählen müssen. Judith Hermann deutet nur an, spart das Wichtigste oft aus, lässt Raum für Fantasie.

Wie in Hemingways „Eisberg-Theorie“, wonach das Meiste unter der (Wasser-)Oberfläche versteckt und unerzählt bleibt, gönnt uns auch Judith Hermann nur einen kurzen Moment, um die verfahrenen Situationen zu erfassen und die oft sprachlosen Menschen kennenzulernen: den Mann, der Fotos von Operationen am offenen Hirn schießt; die Frau, die von einem Tag am Badesee und dem Verlust einer großen Liebe berichtet; den Jungen, der, wie in einem archaischen Ritual, ein Foto verbrennt, das ihm eben noch lebenswichtig war.

In einem einzigen Moment kann sich alles ändern. Der Zufall bestimmt das Drama unserer Existenz. Was geschieht eigentlich, wenn wir jemandem begegnen? Und wie können wir mit Worten das Unergründliche benennen? Judith Hermann erzählt davon, ganz nebenbei und nahe am Verstummen.

Judith Hermann: „Lettipark“. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt. 189 Seiten, 18,99 Euro.