Erzählstoff überall – Judith Kuckarts „Die Welt zwischen den Nachrichten“

Jede(r) möge es für sich bedenken: Welche – mehr oder weniger vagen – Berührungspunkte hatte mein Leben mit der Sphäre der Nachrichten? Und was folgt womöglich daraus? Judith Kuckart schneidet derlei Fragen in ihrem neuen, autobiographisch grundierten Roman „Die Welt zwischen den Nachrichten“ keineswegs umweglos an, sondern vielschichtig, hintergründig, zuweilen auch irrlichternd.

Staunenswert, welche Zeitlinien bis in die westfälische Provinzstadt Schwelm reichten, in der Judith Kuckart am (west)deutschen Einheits-Feiertag (17. Juni 1959) geboren wurde. Da war etwa die Schwelmer Apothekertochter Ina, die öfter auf die kleine Judith aufgepasst hat und sich Jahre später in Berlin (im Gefolge des Attentats auf den Studentenführer Rudi Dutschke) links radikalisiert hat. Noch etwas später war sie auf Plakaten der RAF-Terrorfahndung zu sehen und dürfte sich danach in der noch real existierenden DDR versteckt haben. Womit ihre Geschichte noch nicht zu Ende war. Der „Deutsche Herbst“ ist überhaupt prägend gewesen: Als Judith Kuckart in Köln studiert, wird ganz in der Nähe der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt und bald darauf ermordet. Aber was ändern solche Koinzidenzen am täglichen Sein?

„Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“

Etliche Befunde und Annahmen über die Lebenswelt „zwischen den Nachrichten“ müssen in einem Roman erzählend überprüft und geformt werden. „Schreibe ich“, so lautet mehrfach das lakonisch innehaltende Zwischenfazit nach gewissen Erzählpassagen. Also kein blankes „So (und nicht anders) war es“, sondern „So ist es aus meiner Sicht gewesen“ oder noch skeptischer: „So könnte es gewesen sein“. Eigentlich, darauf läuft ein Hauptstrang des Buches hinaus, sind sowohl öffentliche als auch vermeintlich private Geschehnisse just Erzählstoff, der aus Buchstaben, Worten, Sätzen usw. besteht und sich hier wieder einmal zum Roman weitet. „Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“, heißt es schon auf Seite 57. Und kurz vor Schluss, auf Seite 186: „Am Ende gilt doch nur das Erzählen. Wer erzählt, kann Engel über Toronto fliegen lassen oder Möwen über den Bahnhof Zoo.“

Jegliches Menschenleben enthält exemplarische, aber auch scheinbedeutsame Vorfälle in Hülle und Fülle. Bei Lebensneugierigen wie Judith Kuckart steigern und verdichten sich die Kreuz- und Querbezüge wahrscheinlich. Jedenfalls werden sie ungleich schlüssiger erzählend verknüpft. Allerdings gilt erzählerische Distanz, denn: „(…) man weiß immer erst im Nachhinein, dass das, was man gerade erlebt, ein Stoff zum Erzählen ist. Denn wer sagt schon, Achtung, jetzt erlebe ich gerade eine Geschichte…“ Außerdem heißt es auf Seite 161, wie in Gedichtzeilen gesetzt:

„Das Seltsame an der Wirklichkeit ist
sage ich wieder und wieder –
dass jedes Ereignis auch ganz anders hätte stattfinden können.“

Eindrücke von Pina Bausch bis Pierre Brice

Nur mal ganz kursorisch aufgegriffen: Mit 15 Jahren taucht die tanzbegeisterte und dito begabte Judith ein einziges Mal inkognito beim nahe Schwelm gelegenen Wuppertaler Tanztheater der legendären Pina Bausch auf. Als Regisseurin und Tänzerin frönt die Schwelmerin später weiterhin der Tanzleidenschaft. Ihr Roman gliedert sich denn auch in eine Reihe von Theater-Kantinengesprächen. Nach dem Abi arbeitet sie vorübergehend in einer Lokalredaktion der Schwelmer Nachbarschaft und interviewt sogleich den Kino-Winnetou Pierre Brice. (Das erinnert mich, mit Verlaub, an meine Volontärzeit, die ein paar Jahre früher zeitweise in dieselbe Gegend – nach Gevelsberg – führte).

Die Eltern und sonstigen Vorfahren der Autorin kommen im Verlauf des Romans ebenso in Betracht wie eine Cousine, die mit zehn Jahren stirbt, die besonderen Frauen Ellen R. und Eva K., die Freundin „Bee“, die spiegelbildlich von ihren Vätern so benannten Judith Martina (also die Erzählerin) und Martina Judith, wodurch weitere biographische Vexierbilder entstehen. Liebhaber scheinen hingegen eher Randerscheinungen zu bleiben, zumindest treten sie nicht ins literarische Rampenlicht. Hier geht es vor allem ums Frauenleben – bis hinab zu den schauderhaften Abgründen einer erlittenen Vergewaltigung.

Heidegger und Genazino, nahezu geisterhaft

Judiths Vater Leo brachte es realiter vom Waschmaschinen-Vertreter bis zum CDU-Landtagsabgeordneten. In diesem Zusammenhang ist die kleine Judith einmal mit Franz Josef Strauß fotografiert worden. Als Kind mit ihren Eltern im Schwarzwald-Urlaub, sieht sie aus der Ferne schemen- und geisterhaft den steinalten Martin Heidegger, natürlich ohne Näheres über ihn zu wissen. Später haben u. a. der Schriftsteller Wilhelm Genazino und der Polyhistor Alexander Kluge ihre kurzen Auftritte, wobei Genazinos Part seltsam gespenstisch anmutet.

Und die große Historie, die Welt der Nachrichten? Seitdem die Autorin in Berlin lebt (wo sie anfangs Filmkritikerin beim „Tagesspiegel“ war), ergeben sich Geschichts-Ablagerungen wie von selbst, nicht zuletzt durch Erlebnisse des Zeitenwandels beim Transit in die DDR anno 1976, 1983, 1986 und dann nach der „Wende“. Damit können Schwelm oder Dortmund (wo die Autorin so manchen Kindheitssommer verbracht hat) denn doch nicht mithalten.

Schließlich finden sich solche Zitate, die man sich einfach zum Nachsinnen notieren sollte, um bald einmal darauf zurückzukommen: „Sie ist darauf gefasst, dass das Unglück so selbstverständlich ist wie der Tod und keine Sprache hat.“ – „Wir sitzen zu dritt in unserer Kindheit herum…“ – Oder jene (wiederum im lyrischen Zeilenfall aufscheinenden) aphoristischen Schlussworte:

Nicht wichtig
ist
was man aus uns gemacht hat
wichtig ist
was wir aus dem machen
was man
aus uns gemacht hat.

Judith Kuckart: „Die Welt zwischen den Nachrichten“. Roman. DuMont- Verlag, Köln. 190 Seiten, mit ca. 25 Schwarzweiß-Fotos. 24 Euro. 

 




Zwischen Seelentrost und Menschheitsdämmerung – sechs Bücher über beinahe alles

Hier ein Schwung neuerer Bücher, in aller Kürze vorgestellt. Es muss ja nicht immer ein „Riemen“ (sprich: eine ausufernde Rezension) sein. Auf geht’s:

Lebensgeschichten am Sorgentelefon

Mit dieser Idee lassen sich allerlei Themen und Charaktere recht elegant unter ein Roman-Dach bringen: Judith Kuckarts Roman „Café der Unsichtbaren“ (Dumont, 206 Seiten, 23 Euro) spielt in der Ausbildungsgruppe für ein Sorgentelefon. Da lernen wir beispielsweise eine Theologie-Studentin und eine Sammlerin von Gegenständen aus der DDR kennen, aber auch einen Mann vom Bau, eine Buchhalterin, einen Radioredakteur im Ruhestand – und eine 80-jährige, die als Ich-Erzählerin fungiert. Nicht ganz zu vergessen die Anruferinnen und Anrufer, die sich ans Sorgentelefon wenden. Mit anderen Worten: Der Roman versammelt etliche Biografien, Wirklichkeiten und Perspektiven, sorgsam arrangiert und entfaltet von der Autorin, die hierzulande schlichtweg zu den Besten gehört. Die Lektüre dürfte auch auf ungeahnte Zusammenhänge der eigenen Lebengeschichte verweisen, sofern Lesende es zu nutzen wissen. Nebenbei gesagt: Speziell in Dortmund erinnert man sich gern an die Zeit, in der Judith Kuckart hier die erste „Stadtbeschreiberin“ gewesen ist. Die Lektüre ihres Romans ist in dieser Hinsicht eine angenehme und bereichernde „Pflicht“.

Die Tiere schlagen zurück

Etwas dürr und eindimensional mutet hingegen die Idee an, die diesem Buch zugrunde liegt: Nadja Niemeyer „Gegenangriff. Ein Pamphlet“ (Diogenes, 172 Seiten, 18 Euro) verdient sich den gattungsbezeichnenden Untertitel redlich. Die Handlung ist in der Zukunft angesiedelt, sie setzt im Jahr 2034 ein. Die Dystopie (wie man derart finster wuchernde Phantasien zu nennen beliebt) geht davon aus, dass die Tierwelt der menschlichen Gattung endgültig überdrüssig geworden ist und den zerstörerischen Homo sapiens vom Erdball tilgen will. Der „Gegenangriff“ gelingt total, und die Tiere können danach endlich im naturgerechten Frieden leben. So einfach ist das also. Von Seite 47 bis 54 werden, Zeile für Zeile, lauter Spezies aufgezählt, die der Mensch ausgerottet hat. Auch sonst ähnelt der arg gedehnt wirkende Text zuweilen eher einem aktivistischen Manifest bzw. einer Chronik der Schrecklichkeiten. Geradezu genüsslich werden die finalen Leiden der Menschheit registriert, es rattert die Mechanik der Vernichtung. Ein zorniges Buch, in dem alles Elend der Welt aus einem Punkt kuriert wird. Die Autorin heißt in Wirklichkeit übrigens anders, sie hat ein Pseudonym gewählt, „um nicht an Debatten teilnehmen zu müssen“. Sagen Sie jetzt nichts.

Musiktheorie auf Gipfel-Niveau

Schwere, kaum auszuschöpfende Kost für musikalische „Normalverbraucher“, wahrscheinlich wertvolle Anregung für Spezialisten: Ludwig Wittgenstein behandelt in den „Betrachtungen zur Musik“ (Bibliothek Suhrkamp, 254 Seiten, 25 Euro) musiktheoretische und kompositorische Fragen auf Gipfel-Niveau. Wohl denen, die da in allen Punkten folgen können! Jedenfalls sollte man sich in den Gefilden der E-Musik bestens auskennen, auch sollte das Partituren-Lesen leicht von der Hand gehen. Die aus dem Nachlass zusammengestellten und nach Themen-Alphabet geordneten Texte (Stichworte z. B.: Gesang, Grammophon, Harmonik, Instrumente, Komponisten, Melodie, Stille, Takt, Thema) sind in Satz und Typographie aufwendig aufbereitet, damit man Wittgensteins Arbeitsweise möglichst gut nachvollziehen kann. Ein Buch, das erstmals in solcher Fülle und Breite einen besonderen Werkaspekt des Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951) erschließt. Die Fachwelt wird’s gewiss zu schätzen wissen.

Ein „Ossi“ in Gelsenkirchen

Der mittlerweile bei manchen nicht mehr so wohlgelittene Richard David Precht (in Sachen Corona und Ukraine nicht so recht im Bilde) erzählte einst seine Kindheit bei linken Eltern unter dem Titel „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“. Beim 1968 in Schwerin geborenen Gregor Sander taucht der russische Revolutionär abermals imaginär in Nordrhein-Westfalen auf, noch dazu mitten im Revier: „Lenin auf Schalke“ (Penguin Verlag, 188 Seiten, 20 Euro) heißt Sanders Roman. Auch so ein „Gegenangriff“, nein, bedeutend einlässlicher: eine Gegen-Beobachtung. Sonst erkühnt sich meist der Westen, den Osten zu schildern und zu deuten. Hier versucht also ein „Ossi“, sich in Gelsenkirchen, also weit im deutschen Westen, zurechtzufinden, was natürlich nicht ohne Komik abgehen kann. Sogar die legendäre „Zonen-Gabi“ feiert Urständ. Gelsenkirchen liegt in allen Wohlstands-Statistiken weit hinten, auch Schalke 04 ist (zum Zeitpunkt der Romanhandlung) zweitklassig. Der Westen im Zustand des Scheiterns. Alles fast so wie im Osten. Aber auch nur fast. Und doch: Gibt es da nicht gewisse Verbindungslinien? Ein Ruhrgebietsroman aus einer etwas anderen Perspektive. Das war doch mal fällig.

So nah am gelebten Moment

Zeit für die „Wiederentdeckung“ einer modernen Klassikerin: Clarice Lispector (1920-1977) wird mit 30 gesammelten Erzählungen unter dem Titel „Ich und Jimmy“ (Manesse, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby, 416 Seiten, 24 Euro) nachdrücklich in Erinnerung gerufen. Die gebürtige Ukrainerin, Tochter russisch-jüdischer Eltern, flüchtete mit ihrer Familie vor sowjetischen Pogromen über mehrere Stationen nach Brasilien. Ihre Geschichten bewegen sich ungemein nah am gelebten oder auch versäumten Augenblick. Aspekte des Frauenlebens in allen Altersphasen bilden den Themenkreis. Phänomenal etwa, wie Clarice Lispector quälend Unausgesprochenes im Raum stehen und wirken lässt. Eine der allerstärksten Storys heißt „Kostbarkeit“ und folgt auf Schritt und Tritt den täglichen Wegen einer 15-Jährigen, die sich in jeder Sekunde mühsam behaupten muss. Es ist, als werde man beim Lesen tief ins Innere ihrer Angst geführt. Eine Art Gegenstück ist die peinliche familiäre Versammlung zum 89. Geburtstag einer Altvorderen, die all die Nachgeborenen abgründig verachtet. Andere Texte künden von unbändigem Lebensdurst. Ob er jemals gestillt werden kann?

Atemberaubende Balance

Wenn ein Buch von Yasmina Reza erscheint, ist dies eigentlich schon ein „Selbstläufer“. Auch ihr Roman „Serge“ (Hanser, aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, 208 Seiten, 22 Euro) hat es schnell zur Spitze der Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Es gibt nur ganz wenige Autorinnen, die die Erinnerungs-Reise einer jüdischen Familie nach Auschwitz in solch einer atemberaubenden, nie und nimmer abstürzenden Balance zwischen Tragik und Komik halten können. Besonders Yasmina Rezas Dialogführung ist immer wieder bewundernswert. Auch im Hinblick auf neueste Ungeheuerlichkeiten bei gewissen Weltkunstschauen erweist sich dieser Roman als höchst wirksames Antidot. Dabei übt die Autorin sogar deutliche Kritik an Gedenkritualen zum Holocaust. Aber auf das „Wie“ kommt es an. Denn wir reden über Literatur, nicht über Polit-Gehampel.




Wie Heimat zu erfahren und zu schildern sei: Judith Kuckarts Dortmunder Hörfilm „Hörde mon Amour“

Blick auf die Siedlung Am Sommerberg/Am Winterberg in Dortmund-Hörde. (Screenshot aus dem besprochenen Film / © Judith Kuckart)

Dortmund vergibt bekanntlich (und endlich) ein Literaturstipendium. Das temporäre Amt, das andernorts meist Stadtschreiber(in) heißt, nennt sich hier Stadtbeschreiber*in. Die literarisch etablierte Judith Kuckart hat den Anfang gemacht. Ihr Dortmunder Aufenthalt begann im August und dauert bis Ende Januar 2021. Leider wurde auch ihre Tätigkeit von Corona eingeschränkt. Anders als vorgesehen, hat sie keine theatrale Umsetzung ihrer Ortserkundungen verwirklichen können, sondern einen rund einstündigen „Hörfilm“ produziert. Es ist ein „Heimatfilm“ ganz eigener Art.

Die 1959 in Schwelm geborene Judith Kuckart hat als Kind – aus traurigen familiären Gründen – „vier oder fünf Sommer“ im Dortmunder Ortsteil Hörde verbracht und kennt also noch das Alltagsleben in der früheren Stahlwerksgegend. In jenen Jahren war sie etwa 9 bis 14 Jahre alt. „Hörde war eine Schule fürs Leben“, sagt sie. Und Hörde sei für immer Teil ihrer „inneren Landschaft“. Ein „Downtown“ Dortmund, also eine zentrale Innenstadt, habe es für sie damals nicht gegeben. Folglich trägt der Film den Vorort liebevoll im Titel: „Hörde mon Amour“.

Westfälische Witterung

2017, als der Kongress der Autorenvereinigung PEN in Dortmund stattfand, hatte die heute in Berlin lebende Judith Kuckart Gelegenheit, erneut westfälische Witterung aufzunehmen. Zwar hat sie für die Stipendienzeit in der Nordstadt am Dortmunder Borsigplatz gewohnt, sich aber auf den Spuren ihrer Kindheitserinnerungen weit überwiegend wieder „auf den Hügeln von Hörde“ umgetan. Das 1340 gegründete (und 1928 nach Dortmund eingemeindete) Hörde hat schon immer ein gewisses Eigenleben geführt und lange Zeit mit Dortmund auf Kriegsfuß gestanden. Auch daraus bezieht der ebenso eindringliche wie wohltuend ruhige Film untergründige Spannungsmomente.

Die Autorin und Dortmunder Stadtbeschreiberin Judith Kuckart – hier in Berlin, März 2019. (Foto: Burkhard Peter)

Äußerst langsam und behutsam tastet die Kamera (Martin Rottenkolber) Einzelheiten ab, die Erinnerung in sich bergen (könnten): die Siedlung „Am Sommerberg“/„Am Winterberg“ im vogelperspektivischen Überblick; sodann geht’s Fassade für Fassade an verwitterten Häusern entlang. Auch sieht man eine typische Wohnung daselbst mit allen Einzelheiten, die nicht gerade auf Wohlstand hindeuten und wirken, als seien sie rücklings aus der Zeit gerutscht. Hinzu kommt ein verfallenes, inzwischen auch verwunschenes früheres Schwimmbad („Schallacker“), dessen Areal zur Stätte des Urban Gardening mutiert ist. Lauter wehmütige Ansichten von zumeist menschenleeren Orten. Kein Wunder, wenn dabei Kopfkino entsteht, zumal als Bezugspunkt ein kartographierter, aber nicht existierender Phantom-Ort bei New York aufgerufen wird, der zur Kultstätte für Jugendliche von weither geraten ist. Auch Hörde ist nicht zuletzt ein imaginäres Gelände.

„Schäbiges Paradies“

Nicht in den Bildern, wohl aber in den Texten dieses „Hörfilms“ scheint auf, wie sehr hier einst das pralle, wenn auch oft etwas ärmliche Leben sich begeben hat. Im besagten Schwimmbad, so heißt es, sei gleichsam alles Lebendige geschehen, es seien auf den Liegedecken in diesem „schäbigen Paradies“ auch Kinder gezeugt worden. Mittlerweile gibt es einen machtvollen und scharfen Kontrast, ein ganz anderes Hörde, das gleichfalls, wenn auch eher schaudernd, ins Auge gefasst wird: die Gegend rings um den künstlich erstellten Phoenixsee mit ziemlich seelenlosen Neubauten zu exorbitanten Preisen. Dies sind keine Kindheitsräume mehr, aber vielleicht Orte für unstete „Wandermenschen“, die allüberall ihresgleichen finden.

Judith Kuckart erinnert sich hingegen lieber an die Jahre um 1968, als die Frauen in der Hörder Siedlung ganztags im Morgenmantel umher gingen, die bescheidenen Haushalte führten und Kinder versorgten, während die Männer bei Hoesch malochten oder in der Kneipe zechten. Eine 1979 aus Jamaika zugewanderte Frau bedauert den späteren Wandel gleich zu Beginn des Films: Früher sei ihr der Lichtschein des Hochofenabstichs stets wie eine wärmende, tröstende Sonne erschienen, später sei hier und in anderen Stadtteilen jedoch „alles den Bach runtergegangen“. Um in Hörde herzlich und herzhaft heimisch zu werden, muss man wahrlich nicht dort geboren sein.

Wo wir uns sicher bewegen können

Fixsterne in Kuckarts Hörder Kindheitssommern waren mehrere Tanten, die dort gelebt haben. Eine von ihnen ist mit 24 Jahren gestorben, ihr kurz vorher geborenes Baby hielt sie bis zuletzt fest umklammert. „Oma Schüren“ (in Dortmund heißen Großeltern familiär häufig nach dem Stadtteil) ist gegen Ende einer Kinovorführung in der – bis heute als letztes Vorort-Lichtspielhaus existierenden – „Postkutsche“ in Aplerbeck gestorben. Heute kann niemand mehr sagen, welchen Film die Großmutter zuletzt gesehen hat.

Man ahnt, dass der Ton zum Film sich keineswegs in „Dönekes“ erschöpft, sondern wesentlich tiefer lotet, manchmal ganz unversehens. Nach und nach stellt sich mit zunehmender, freilich allemal sanfter Dringlichkeit die Frage, was eigentlich „Heimat“ sei und wie von ihr zu erzählen wäre. „Heimat ist der Raum, in dem wir uns immer sicher bewegen können“, heißt es an einer Stelle. Ob es zugleich ein konkreter Ort ist, steht allerdings dahin. Überhaupt ergeben sich viele Fragen: Ist die Heimat ein Ort oder ein Gefühl? Kann man sesshaft werden in der Sehnsucht nach Heimat? Kann man eine Heimat gründen oder entwerfen? Kann Sexualität eine Heimat sein? Und so fort. Hier lagert Stoff fürs eine oder andere weitere Buch im Sinne des „autofiktionalen“ Erzählens, der Selberlebensbeschreibung, angereichert mit fiktionalen Elementen, wie sie seit einiger Zeit wieder vermehrt Teile der Literatur prägt (und nicht die schlechtesten).

Um das Erzählte noch genauer zu verankern, versichert sich Judith Kuckart der Kenntnisse einiger langjährig ortsansässiger „Heimatexpert(inn)en“. Jede(r) von ihnen trägt ureigene Bruchstücke zum Mosaik der Heimatlichkeit bei. Und nein: Das berühmte Diktum von Ernst Bloch („…so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“) kommt an keiner Stelle vor.

„Hörde Mon Amour“. – „Hörfilm“ von Judith Kuckart, 2020. Zu sehen auf dem YouTube-Kanal des Dortmunder Literaturhauses: 

https://www.youtube.com/watch?v=v9iAHql-NJI

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Im Mai 2021 soll Anna Herzig übernehmen

P.S.: Als nächste Dortmunder Stadtbeschreiberin wird – vermutlich ab Mai 2021 – Anna Herzig aus Salzburg in der Stadt sein. Sie hat keine Dortmunder Kindheitserfahrungen, will aber hier an ihrem Roman „Die Auktion“ weiterarbeiten, der in einem Intercity zwischen Wien und Dortmund spielt…




Verheißungsvolle Lesung: Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart stellte sich online nochmals vor

Auf dem iPad-Bildschirm: Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart (links) und Moderatorin Frederike Juliane Jacobs. (Screenshot der via YouTube gezeigten Lesung)

Eigentlich ist – unter allen Künsten – die Literatur noch am wenigsten von der gegenwärtigen Krise betroffen. Zwar hat natürlich auch der Buchhandel gelitten, doch lassen sich nach wie vor alle Bücher bestellen und im stillen Kämmerlein lesen. Und doch fehlt etwas. Das wurde auch heute Abend deutlich, als Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart im Dortmunder Literaturhaus gezwungenermaßen eine Online-Lesung via YouTube absolvierte.

Frau Kuckart kann ihren Dortmunder Stipendiats-Aufenthalt bekanntlich nicht im Mai antreten, sondern erst im August. Insofern war es jetzt ein vager Vorgeschmack, als sie kurze Passagen aus ihrem Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ las und knappe Auskünfte zum Schreibprozess gab. Vielen Sätzen suchte sie durch dezente und doch dringliche Gestik Nachdruck zu verleihen, doch es fehlten spürbar die Adressaten, es fehlte ein unmittelbar reagierendes Live-Publikum.

Und so blieb die moderierende Literaturwissenschaftlerin Frederike Juliane Jacob, die das Buch höchlich pries, der einzige Widerpart des gar kurzen Abends. Angekündigt für die Zeit von 19.30 bis 21 Uhr, endeten Lesung und Gespräch bereits vor 20.15 Uhr. Dabei befand die Moderatorin in ihrem Fazit, sie hätte „noch 25 oder mehr Fragen“ und man könne im Grunde endlos weiter reden. Hätte sie sich und uns doch wenigstens noch etwas Zeit und Muße gegönnt…

Ich gebe freimütig zu, den in Rede stehenden Roman noch nicht gelesen zu haben. Allerdings haben mich die wenigen Auszüge tatsächlich neugierig gemacht. Der ausgesprochen unprätentiöse und präzise Erzählstil, der gleichwohl nirgendwo in bloße Lakonie abgleitet und auch Durchblicke ins Metaphysische gestattet, übt wirklich einen sanften Sog aus.

Man möchte mehr und mehr über die Protagonistin wissen, jene namenlose Neurobiologin, die es im Alter von 18, 36 und 54 Jahren jeweils mit 36-jährigen Männern zu tun bekommt. Nicht nur geht es um die sehr verschiedenen Lebensalter der Liebe, sondern auch ums das Gewebe aus Erinnerung und Vergessen, aus dem noch jede Identität entsteht.

Die Autorin legt übrigens Wert darauf, dass ihre Hauptperson vom Rande des Ruhrgebiets stammt und somit eine regionalspezifische Variante von Humor mitbringt, der sie auch in misslichen Situationen vor dem Untergang bewahrt. Es ist denn auch ermutigend zu sehen, wie durchaus ambitionierte und ernsthafte Literatur zwar auch Abgründiges ins Auge fasst, jedoch nicht alles Schwarz in Schwarz zeichnet.

Judith Kuckart hat sich vor der Niederschrift gleichsam selbst nicht über den Weg getraut. Als Schriftstellerin neige sie nun mal zum „Erinnerungs-Fetischismus“. Dabei könne man den Phänomenen doch auch wissenschaftlich auf die Spur kommen. So war es gerade recht, dass die Uni Heidelberg einige Schriftsteller einlud, sich auf solche Pfade zu begeben. Neben anderen folgten auch Daniel Kehlmann, Tim Parks und Wiktor Jerofejew dem Angebot. Judith Kuckart entschied sich vor zwei Jahren just für ein neurobiologisches Praktikum und war auch bei gehirnchirurgischen Operationen anwesend, bei denen bösartiges Gewebe höchst behutsam und millimetergenau „ausgelöffelt“ werden musste.

Es war also eine sehr bewusste Entscheidung, aus der Perspektive einer Neurobiologin zu erzählen. Derlei Erfahrungen geben zudem einen ganz anderen Blick aufs Sein und Schwinden von Identität frei. Doch die Wissenschaftler, so Kuckart, stellten ihrerseits sogar in Kantinengesprächen Fragen, die weit über ihr Metier hinausreichen und grundsätzlich ans Existenzielle rühren. Mithin ist auch der Roman längst nicht nur ein Präsisions-Werk, sondern eines, das stellenweise ins Unerklärliche und womöglich Geisterhafte ausgreift. Wunderbar rätselvoll etwa die Schilderung einer Bahnfahrt, in deren Verlauf aus einer Tasche, einem Rucksack und einem Jutelbeutel – Milch rinnt. Welch ein Bild, das einen subkutan weiter beschäftigt.

Nach diesem Eindruck jedenfalls kann man die Entscheidung der Jury, die Wahl-Berlinerin Judith Kuckart auf Zeit nach Dortmund zu holen (wo sie teilweise aufgewachsen ist), nur nochmals gutheißen. Und man ist umso gespannter, was ihre Beobachtungen und Recherchen in der Stadt wohl ergeben werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Corona-Krise das mögliche Themenspektrum nicht allzu sehr überlagert. Obwohl: Auch aus einer solchen Konstellation würde Judith Kuckart gewiss ihre ersprießlichen Lehren ziehen.




Kultur geht notgedrungen weiter ins Netz: Viele Programme online / Ständige Updates: Weitere Projekte (und Absagen)

Das waren noch andere Zeiten: Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Opernhauses – vor Beginn einer Vorstellung. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal wieder ein paar Nachrichten aus dem derzeit stark eingeschränkten (Dortmunder) Kulturleben, kompakt zusammengestellt auf Basis von Pressemitteilungen der jeweiligen Einrichtungen.

Die Mitteilungen werden – im unteren Teil dieses Beitrags – von Tag zu Tag gelegentlich ergänzt und/oder aktualisiert, auch gibt es dort Neuigkeiten aus anderen Revierstädten, vor allem über weitere Absagen, aber auch zu Online-Aktivitäten.

Theater Dortmund: Keine Vorstellungen bis 28. Juni

Das Theater Dortmund bietet auf seinen sämtliche Bühnen (Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater) bis einschließlich 28. Juni 2020 keine Vorstellungen an. Wie es danach weitergehen wird, weiß noch niemand.

Die Regelung schließt die Konzerte der Dortmunder Philharmoniker im Konzerthaus Dortmund ein. Der Betrieb im Theater läuft jedoch bis zur Sommerpause weiter. Neue mobile Vorstellungsformate sollen ab Mai 2020 bis zum Ende der Spielzeit 2019/20 aufgenommen werden.

Dazu Tobias Ehinger, der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund: „So sehr wir diesen Schritt bedauern, steht die Gesundheit unseres Publikums sowie unserer Kolleginnen und Kollegen im Mittelpunkt. Jedoch dürfen wir auch in der jetzigen Zeit, unser Leben nicht nur auf Funktionalität begrenzen. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich die hohe Bedeutung von Kultur. Kultur ist nicht hübsches Beiwerk oder Luxus, sondern elementar für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wir fordern die Entscheidungsträger in Bund und Land auf, Maßnahmen und Konzepte zur schrittweisen Öffnung unserer Theater und Konzertsäle zu beschließen und die Gesellschaft nicht durch ein zu kurz gegriffenes Verständnis der Systemrelevanz zu trennen.“

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Unterdessen werden Spielpläne für die nächste Saison online per Video-Präsentation angekündigt:

Philharmoniker, Oper und Ballet

So wird sich – wie die Theater-Pressestelle mitteilt – in der Spielzeit 2020/21 bei den Konzerten der Dortmunder Philharmoniker alles um das Verhältnis zwischen Mann und Frau drehen.

Das Motto der Spielzeit lautet „Im Rausch der Gefühle“. Ergänzend heißt es, die berühmtesten Paare der Weltliteratur, wie Romeo und Julia, Othello und Desdemona, Orpheus und Eurydike sowie Tristan und Isolde, hätten die Komponisten zu großartigen Orchesterwerken inspiriert.

Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar sei, könne es ggf. noch zu „Anpassungen“ kommen.

Textversion des Spielplans unter: www.tdo.li/tdo2021

Generalmusikdirektor Gabriel Feltz erläutert den Spielplan 2020/21, hier ist der Link, der auch zur Präsentation des Opern-Spielplans (durch Opernchef Heribert Germeshausen) und des Balletts (durch Ballettchef Xin Peng Wang) führt: https://www.theaterdo.de/medien/videos/spielzeit-2021/

Kinder- und Jugendtheater

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) Dortmund startet mit neun Neuproduktionen und neun Wiederaufnahmen in die neue Spielzeit 2020/21. Als Motto hat sich KJT-Direktor Andreas Gruhn mit seinem Team den „Freien Fall“ gesetzt. In einer Welt, in der politische Systeme ins Wanken geraten und die Natur zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät, scheint sich die Abwärtsspirale immer schneller zu drehen. Aus dem Unglück des Fallens können aber auch ungeahnte Möglichkeiten wachsen.

Auch beim KJT heißt es: „Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar ist, kann es ggf. zu Anpassungen kommen.“

Printversion des Spielplans unter www.tdo.li/tdo2021
Video mit Andreas Gruhn unter www.theaterdo.de/publikationen/videos

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Auch das Konzerthaus Dortmund präsentiert das Programm der nächsten Saison auf digitalem Weg:

In einem Video erläutert Intendant Raphael von Hoensbroech, welche hörenswerten Künstler und Konzerte ab September in der Spielzeit 2020/21 zu erwarten sind. Hoensbroech lädt daher zu einem virtuellen kleinen Ausflug ins Konzerthaus.

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Dortmunds neues Literaturstipendium um drei Monate verschoben:

Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“, Judith Kuckart, wird aufgrund der Corona-Krise erst ab August 2020 für sechs Monate nach Dortmund kommen. Ursprünglich hatte sie ihr Stipendium im Mai antreten wollen. Ihre für den 15. Mai geplante Auftaktlesung im Literaturhaus soll trotzdem stattfinden – allerdings ohne Live-Publikum: Das Literaturhaus am Neuen Graben zeigt die Lesung aus dem aktuellen Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ online am 15. Mai 2020 ab 19.30 Uhr (weitere Infos unter www.literaturhaus-dortmund.de).

Neues Konzertformat „Musik auf Rädern“

Am Dienstag, 5. Mai 2020, startet das Theater Dortmund das der Corona-Pandemie angepasste Konzertformat „Musik auf Rädern“. An verschiedenen Standorten in Dortmund werden die Oper Dortmund und die Dortmunder Philharmoniker jeweils um 16 Uhr kleine Live-Konzerte von ca. 20 Minuten Dauer geben. Die Abstandsregelungen werden dabei eingehalten. Mit dem Programm kommt das Theater Dortmund vor allem zu den Menschen, die aufgrund ihrer Identifizierung als „Risikogruppe“ besonders in ihrem Bewegungsfreiraum eingeschränkt sind. Der erste Auftritt findet mit der Sopranistin Irina Simmes vor dem Seniorenwohnsitz „Kreuzviertel“ 44139 Dortmund-Kreuzviertel, Kreuzstraße 68 / Ecke Lindemannstraße statt.

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Eröffnungsfest im Naturmuseum fällt aus

Die für den 7. Juni geplante große Wiedereröffnung des Naturmuseums nach Jahren des Umbaus fällt aus. Die neue Dauerausstellung soll voraussichtlich im September eröffnen.

„Robin Hood“-Schau bis 20. September

Das derzeit noch geschlossene Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße verlängert seine ursprünglich bis Mitte April geplante Familienausstellung „Robin Hood“ bis zum 20. September.

„Studio 54″ vorerst nicht in Dortmund

Das „Dortmunder U“ kann die ab 14. August geplante Ausstellung „Studio 54″ (Übernahme aus dem Brooklyn Museum) über den legendären New Yorker Nachtclub in diesem Jahr nicht mehr zeigen.

Diesmal kein Micro!Festival

Das Micro!Festival, das sonst immer am letzten Wochenende der Sommerferien stattfand, fällt in diesem Jahr komplett aus.

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Blicke in die anderen Städte des Ruhrgebiets:

2020 keine Ruhrtriennale

Die Ruhrtriennale wird 2020 nicht stattfinden. Der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH hat diesen Beschluss einstimmig gefasst. Das Festival hätte vom 14. August bis zum 20. September stattfinden sollen. Rund 700 Künstlerinnen und Künstler aus 40 Ländern wären an den 33 Produktionen und Projekten beteiligt gewesen. Sowohl die Intendantin Stefanie Carp als auch Ko-Intendant Christoph Marthaler haben Unverständnis über diese Entscheidung geäußert.

ExtraSchicht fällt ebenfalls aus

Auch die ExtraSchicht muss wegen Corona ausfallen. Die Nacht der Industriekultur hätte am 27. Juni zum 20. Mal die Metropole Ruhr bespielen sollen.
Die Ruhr Tourismus GmbH (RTG) hatte bis zum letzten Moment an Alternativkonzepten gearbeitet. Die Durchführung einer Veranstaltung Ende Juni mit über 250.000 Besuchern sei aber derzeit nicht verantwortbar, so die RTG. Eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt in diesem Jahr sei wegen des großen organisatorischen Aufwandes nicht möglich. Das Geld für bereits erworbene Tickets wird zurückerstattet. Mehr Infos unter www.extraschicht.de.

„Mord am Hellweg“ auf Herbst 2021 verschoben

Die zehnte Ausgabe des Krimi-Festivals „Mord am Hellweg“ (Zentrale in Unna) wird um ein Jahr verschoben. Die für diesen Herbst geplante Jubiläumsausgabe wird auf die Zeit vom 18. September bis 13. November 2021 verlegt. Weitere Infos unter www.mordamhellweg.de

Moers Festival diesmal rein digital

Auch das renommierte Moers Festival (29. Mai bis 1. Juni) geht diesmal als digitales Festival über die Bühne. Die Konzerte werden als Livestream auf der Website, bei Facebook und bei Arte concert gezeigt. WDR 3 wird wie gewohnt übertragen.
Infos: www.moers-festival.de

Wittener Tage für Neue Kammermusik nur im Radio

Die Wittener Tage für Neue Kammermusik (24. bis 26. April 2020) haben sich ebenfalls umgestellt: In diesem Jahr kamen die Konzerte ausschließlich übers Radio. WDR 3 richtete das Festival als exklusives Hörfunk-Ereignis aus.
Infos unter www.wdr3.de und www.kulturforum-witten.de

Klangkunst in Marl als virtuelle Führung

Das Skulpturenmuseum Glaskasten Marl zeigt seine Klangkunst-Ausstellung diesmal per Video: „sound + space“ von Johannes S. Sistermanns und Pierre-Laurent Cassère ist online zu sehen. Im Mittelpunkt der virtuellen Führung steht ein Gespräch des Museumsdirektors Georg Elben mit dem Klangkünstler Sistermanns. Das Video ist auf der städtischen Internetseite unter www.marl.de und demnächst mit weiteren Informationen auch unter www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de zu sehen.

Impulse Theater-Festival fällt aus

Das Theater-Festival „Impulse“, das vom 4. bis 14. Juni hätte stattfinden sollen, ist abgesagt worden – besonders schmerzlich, weil zum 30-jährigen Bestehen des Festivals einige besondere Programme geplant waren. Bestimmte Teile sollen als digitale Formate im ursprünglich geplanten Festival-Zeitraum online gezeigt werden. Details dazu demnächst unter: www.impulsefestival.de

Theater Oberhausen: „Die Pest“ als Miniserie im Netz

Das Oberhausener Theater zeigt eine Bühnenbearbeitung nach Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ als Miniserie in fünf Episoden. Gezeigt wird die Serie im Internet ab Samstag, 2. Mai, dann weiter wöchentlich, jeweils ab 19.30 Uhr. Weitere Infos: www.die-pest.de

3Sat zeigt Bochumer „Hamlet“ – jetzt via Mediathek

Im Rahmen seiner Reihe „Starke Stücke“ zeigt der TV-Sender 3Sat am Samstag, 2. Mai., um 20.15 Uhr eine Aufzeichnung von Johan Simons‘ Bochumer „Hamlet“-Inszenierung. Bis zum 30. Juli 2020 bleibt die Inszenierung in der Mediathek von 3Sat greifbar.

Auch hierhin würden Theaterfans im Revier gern wieder pilgern: Schauspielhaus Bochum. (Foto: Bernd Berke)




Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart: Heftige Kindheit im Schatten der Hörder Hochöfen

„Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart, deren letzter Roman von 2019 sinnigerweise „Kein Sturm, nur Wetter“ heißt. (Aufnahme vom März 2019 in Berlin: © Burkhard Peter)

Dortmunds erste Stadtbeschreiberin Judith Kuckart hat sich heute im Literaturhaus am Neuen Graben 78 vorgestellt. Ihren Lebensmittelpunkt hat die renommierte Autorin seit etlichen Jahren in Berlin, doch kann sie auf Dortmunder Erinnerungen zurückgreifen. Genauer: auf Kindheitserinnerungen aus dem Stadtteil Hörde, wo es, wie sie sagt, damals ziemlich heftig zugegangen ist.

Irgendwann liefen dort ziemlich viele 15- oder 16-jährige Mädchen herum, die bereits schwanger waren. Da beschloss ihre Familie denn doch, dass diese Gegend nicht ganz das Richtige für Judith sei – und zog wieder zurück in ihre betulichere Geburtsstadt Schwelm.

Ohne Sattel auf dem Fahrrad

Zuvor hatte Judith Kuckart ein paar gleichsam typische Ruhrgebiets-Kindheitsjahre im Malocherviertel erlebt. „Ich habe in Hörde Fahrradfahren gelernt – ohne Sattel.“ Auch habe sie damals tagtäglich aus der Nähe gesehen, wie kompliziert es zwischen Männern und Frauen zugeht. Gar nicht zu vergessen das Milieu der knochenharten Arbeitswelt: Ein Onkel habe am Hochofen gearbeitet und sei schon mit 40 Jahren gestorben.

Die damalige Wohnadresse: Am Winterberg 72 a. Die Straße lag im Schatten der gewaltigen Hoesch-Hochöfen, heute erstreckt sich auf dem früheren Werksgelände der Phoenixsee. Vor zwei Jahren, als ein Bundeskongress der Schriftstellervereinigung P.E.N. sie wieder einmal nach Dortmund führte, hat Judith Kuckart (Jahrgang 1959) in Hörde eine Cousine besucht, die sich mit der Gentrifizierung rund um den künstlichen See so gar nicht abfinden mag.

Niemand sitzt mehr auf den Stufen

Jedenfalls stellten beide fest, dass in diesen Straßenzügen – ganz anders als früher – niemand draußen auf den Stufen saß, um nachbarschaftlich zu plaudern. Es ist eine dieser Beobachtungen, aus denen schließlich Literatur erwachsen kann. Judith Kuckart fragt sich, ob es heute Berührungspunkte zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen gebe. Oder liegt hier eine eklatante gesellschaftliche Spaltung vor? Kuckart wird versuchen, es herauszufinden, mit ihren Mitteln. Einsam Spaziergänge um den Phoenixsee seien ihre Sache nicht, sie wolle mit vielen Menschen reden.

Derlei sinnfällige Veränderungen eines Stadtteils, so Kuckart, könnten ein Ansatzpunkt für ihre Stadtbeschreiberinnen-Arbeit in Dortmund sein, die im Mai beginnen und bis Oktober dauern wird. Schon vor ihrer Bewerbung ums Dortmunder Stipendium hat sie fürs Romanprojekt „Die Unsichtbaren“ eine Figur entwickelt, die aus Dortmund-Hörde stammt. Auch hierzu dürften sich weitere Recherchen anlagern. Sprich: Die Kindheit und ihre Schauplätze sind keineswegs vergessen, da regt sich immer noch einiges im Gemüt. Mehr noch: Als die Presseleute nicht allesamt Ralf Rothmanns Ruhrgebiets-Roman „Milch und Kohle“ (2000) kennen, ruft sie aus: „Na, ihr seid mir ja schöne Dortmunder!“

Interessanter als Heidelberg

Und überhaupt. Sie bewerbe sich eigentlich nicht mehr um Stadtschreiber-Ämter, in diesem Falle aber habe sie es getan, „w e i l es um Dortmund geht. Heidelberg hätte mich zum Beispiel nicht so interessiert.“ Obwohl sie dort schon gearbeitet hat – als Mitglied der Tanzcompagnie von Johann Kresnik. Tanz und Choreographie waren nämlich ihr ursprüngliches Metier, bevor sie immer mehr zum Schreiben kam. Also kennt sie sich auch mit Bühnenpraxis aus, was in ihrer Dortmunder Zeit durchaus eine Rolle spielen könnte. An einer Stelle fällt das Wort Erzähltheater. Bürgerinnen und Bürger sollen dabei mitmachen. Hört sich schon mal vielversprechend an.

Ein Satz, der Schülern gefallen dürfte

Damit nicht genug der medialen Auffächerung. Kuckart denkt auch schon an ein visuell angereichertes Dortmunder Tagebuch, das eventuell im Internet erscheinen könnte. Und sie kann sich gut vorstellen, hie und da in Schulen am Unterricht mitzuwirken. In Hamburg hat sie mal mit Achtklässlern einen „Schulhausroman“ erarbeitet, in dem ein verschwundener Lehrer gesucht wurde. Mit einer Aussage, die offensichtlich von Herzen kommt, dürfte Judith Kuckart manche Schüler rasch auf ihre Seite bringen: „Warum müssen Kinder im Achtklässler-Alter überhaupt zur Schule gehen? Furchtbar!“

Um die Dortmunder Gretchenfrage aufzuwerfen und flugs zu beantworten: Ja, Judith Kuckart kennt sich auch mit Fußball aus. Das erwähnte P.E.N.-Treffen nutzte sie seinerzeit auch, um den BVB gegen den 1. FC Köln spielen zu sehen. Einschlägige Texte gehören hin und wieder ebenso zu ihrem Repertoire wie auch schon mal eine Lesung im Stadion.

Bestimmt nicht wegen des Geldes beworben

Die Dotierung des Stipendiums beläuft sich monatlich auf 1800 Euro. Dazu befragt, erklärt Judith Kuckart sehr glaubhaft, sie habe sich gewiss nicht wegen des Geldes beworben. Sie wird sich auch nicht in einem schicken Viertel ansiedeln, sondern höchstwahrscheinlich eine (seit jeher schwarzgelb dekorierte) Schreibwohnung in der bundesweit bekannt-berüchtigten Dortmunder Nordstadt beziehen. „Heftige“ Zustände kennt sie ja von damals aus Hörde.

Dortmunds Stadtdirektor Jörg Stüdemann (Kulturdezernent und Kämmerer in Personalunion) versichert, mit 1800 Euro bewege man sich finanziell im „oberen Drittel“ vergleichbarer Stipendien. Man habe sich in dieser Angelegenheit von Autoren und anderen Kennern des Literaturbetriebs eingehend beraten lassen.

Keinen Auftrag zu erfüllen

Stüdemann betont außerdem, dass – anders als bei vielen sonstigen Stadtschreiber-Posten – der Preisträgerin nichts Konkretes abgefordert werde. Sie habe keinen Auftrag zu erfüllen, sondern könne sich nach Belieben in der Stadt umsehen. Die ungewöhnliche Bezeichnung Stadtbeschreiberin lässt (im Vergleich zur Stadtschreiberin) ja schon ahnen, dass es hier nicht um Dienstbarkeiten für die Kommune geht, sondern ums Wahrnehmen und Aufzeichnen.

Judith Kuckart macht deutlich, dass es ihr nicht um „Meinungen“ über Dortmunder Verhältnisse zu tun sei, auch nicht um investigative Nachforschungen („Das kann ich gar nicht“), sondern just um möglichst genaue Beobachtungen und hernach ums Erzählen. Nur dann könne Verborgenes sichtbar gemacht werden. Und nun lasst uns mal ganz wohlwollend abwarten, wie die angenehm unprätentiöse Schriftstellerin ihre Vorhaben umsetzen wird.




Judith Kuckart ist Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“

Judith Kuckart wird die erste „Stadtbeschreiberin“ in Dortmund. Damit hat sich die Jury für eine bereits etablierte Autorin entschieden. Frau Kuckart lebt heute in Berlin, sie wird ihr Dortmunder Stipendium von Mai bis Oktober 2020 wahrnehmen, das heißt: in der Stadt wohnen und arbeiten.

Die Schriftstellerin Judith Kuckart (Foto: Burkhard Peter)

Die Schriftstellerin Judith Kuckart (Foto: Burkhard Peter)

Die Autorin (Jahrgang 1959) hat eine westfälische Vergangenheit. Sie wuchs vorwiegend in ihrer Geburtsstadt Schwelm auf, verbrachte aber auch einen Teil ihrer Kindheit in Dortmund-Hörde. Später studierte sie Literatur- und Theaterwissenschaften an der Universität Köln und der Freien Universität Berlin, an der Folkwang-Hochschule Essen absolvierte sie außerdem eine Tanzausbildung. Seit 1999 ist sie zudem als freie Regisseurin tätig.

Bereits seit 1990 veröffentlicht sie Romane, zuletzt erschien im Juli 2019 „Kein Sturm, nur Wetter“ bei DuMont. Die Autorin hat bereits etliche Literatur-Preise und Stipendien erhalten, so wurde ihr beispielsweise 2009 der Literaturpreis Ruhr zuerkannt.

Judith Kuckart beschäftigt sich besonders intensiv mit den Themenkreisen Heimat und Herkunft. In Dortmund möchte sie ihren nächsten Roman ansiedeln. Außerdem plant sie, hier ein Theaterstück mit Laien zu produzieren.

Die Zeit intensiv nutzen

In der Begründung der Jury heißt es: „Judith Kuckart ist eine hervorragende und etablierte Literatin mit einem starken Bezug zu Dortmund und zur Region. Sie überzeugte durch ihre innovativen Kooperationsideen und die tiefe Auseinandersetzung mit den Inhalten des Literaturstipendiums. Sie ist engagiert und erfahren, kann gut vermitteln und ist eine Meisterin der Inszenierung. Sie wird die Zeit in Dortmund intensiv nutzen.“

Ganz prosaisch sei angefügt: Für die Dauer des Stipendiums steht der Autorin eine möblierte Wohnung in Dortmund zur Verfügung, außerdem bekommt sie monatlich 1800 Euro. Die Auszeichnung ist mit einer temporären Residenzpflicht in Dortmund verbunden.

Das Stadtbeschreiber-Stipendium soll künftig jährlich vergeben werden. Inhaltlicher Schwerpunkt ist – laut Stadtpressestelle – „die Transformation Dortmunds von der Stadt der Montanindustrie zum Standort von Wissenschaft, Technik und Dienstleistungen“. In der Zeit ihres Stipendiums, so heißt es in der Pressemitteilung weiter, „arbeitet die Stadtbeschreiberin eng mit dem Kulturbüro, dem Literaturhaus Dortmund und weiteren Institutionen der regionalen Literaturszene zusammen, bringt sich in die Stadtgesellschaft ein und gibt den Diskursen aktuelle Impulse“.

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Hier ein Link zur Homepage von Judith Kuckart: https://judithkuckart.de/

Eine sehr kritische Einschätzung zur Institution „Stadtbeschreiber*in“ (noch vor der Wahl der ersten Preisträgerin für die Revierpassagen verfasst und also natürlich nicht auf Frau Kuckart gemünzt) findet sich hier.




Experiment mit bösem Ende – Judith Kuckarts Roman fordert die Leser heraus

Kuckart BelgienEin gerade mal achtzehn Jahre alter Klavierschüler, der sich nicht so recht traut, sein Leben zu beginnen, bis es in Gestalt einer Frau in Polizeiuniform einfach zu ihm kommt. Abschiedsbriefe, in denen um die Rückgabe zurückgelassener Pfandflaschen gebeten wird. Zwei alte, nicht mehr ganz lebenstüchtige Damen, die einem Klavierlehrer Asyl in der Besucherritze ihres Hotelbettes gewähren. Ein Wunschkind, das nie geboren wird.

Und weiter: eine Schauspielerin, die mangels Engagement ihre Rollen im normalen Leben spielt. Und eben immer wieder der Klavierlehrer, der damit hadert, niemals Pianist gewesen zu sein. Der Klavierlehrer, mit dem auch alles begann – aber das erfährt man erst ganz zum Schluss.

Skurrile Gestalten in verschiedenen Stadien des Zweifelns bevölkern einen Reigen aus elf Episoden, aus denen sich Judith Kuckarts Roman „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“ zusammensetzt. Die in Schwelm geborene Absolventin der Folkwang Akademie für Tanz erzählt von flüchtigen Momenten, kurzen Begegnungen und von Wendungen durch unerwartete Momente, von Menschen, die „etwas Besseres verdient haben als die Wahrheit“. Manche dieser Menschen suchen ihren Platz im Leben, andere sind (vermeintlich) dort gerade angekommen, wieder andere sind auf dem Sprung, diesen Platz oder auch gleich das ganze Leben zu verlassen.

Zunächst wirken die Erzählungen wie unabhängig voneinander existierende Kurzgeschichten – erst allmählich erkennt man die (oft nur in Nebensätzen hingeworfenen) Zusammenhänge. Es ist ein spannendes Experiment, einen Roman wie einen aus short cuts zusammengesetzten Kinofilm zu schreiben.

Mit Interpretationen werden die Leser nie belästigt, dafür wissen sie mehr, als die handelnden Personen je erfahren werden. So kann man erkennen, dass nicht nur jeder mit jedem über wenige Ecken zusammengehört, sondern auch Liebe und Tod, Leid und Lust und immer wieder die Schuld zusammengehören. Auch wenn man dafür durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück.

Nur auf den ersten Blick besteht die Herausforderung darin, aufmerksam zu sein und die Fäden zusammenzufügen. Das jedoch ist weniger eine Herausforderung als eine Freude. Die viel größere Herausforderung für den Leser besteht darin, sich elfmal in eine neue Geschichte, in neue Personen einzufinden. Judith Kuckart ist bekannt für eine sehr zurückhaltende, vorsichtige Erzählweise und eine sehr langsame, nie die Distanz aufgebende Annäherung an ihre Charaktere. Dieser Schreibstil erschwert den Zugang. Hat man diesen aber erst einmal gefunden, entfalten ihre Romane einen betörenden Sog.

Es braucht fast immer mehr als die Hälfte einer Erzählung, bis man so halbwegs „drin“ ist – nur um kurz darauf erneut mit dieser Mühe zu beginnen. Der Erzählstil der Autorin ist eigentlich angenehm zurückhaltend, lyrisch und auf seine kühle Art durchaus auch berührend, für den vorliegenden Episodenroman aber denkbar ungeeignet. Der Roman ist zwar klug komponiert, aber man braucht nicht nur Geduld. Es braucht auch eine Menge guten Willen, der oft genug auch noch dadurch auf die Probe gestellt wird, dass die Vorgehensweise der Autorin, sich ihren Charakteren über die Oberfläche zu nähern, zu oft dazu führt, dass sie in Stereotypen verharrt.

Hat man aber durchgehalten und sich auch von der Erwartungshaltung gelöst, dass alle Fäden zusammengeführt werden, entschädigen die letzten beiden Abschnitte für die Mühe. Es schließt sich ein Kreis, wenn auch anders und bestürzender als gedacht und erhofft. Die letzte Episode gehört Katharina, der glücklosen Schauspielerin und Joseph, dem Klavierlehrer. Zwei Personen, die dem Schreibstil der Autorin entsprechen – rätselhaft, unnahbar, aber das Gegenüber in den besten Momenten in einen Sog hineinziehend, der für ein böses Ende sorgt. Dieses Ende beginnt mit einem gewagten Theaterexperiment, dem ein Experiment des Zusammenlebens folgt. Die auch vorher schon immer wieder aufgeworfene Frage nach der Bedeutung von Heimat gipfelt schließlich in dem Versuch, in einer Sehnsucht sesshaft zu werden.

Judith Kuckart: „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“. DuMont, Köln, 219 Seiten, €19,99.




Ein Kaufhaus erfüllt nicht alle Wünsche – der neue Roman von Judith Kuckart

Silvester im Bungalow. Jazz-Produzent Karatsch lädt ein. Seine Frau Vera hat Geburtstag. Wie in jedem Jahr werden Mettbrötchen geschmiert und der Videorecorder wird programmiert. Wie in jedem Jahr werden sich die immer gleichen Gäste einfinden, um den immer gleichen Film anzuschauen.

Einen Film, in dem Hausherrin Vera als junges Mädchen gemeinsam mit Jugendfreund Friedrich die Hauptrolle spielte. Auch Friedrich wird wieder unter den Gästen sein. Friedrich, der den schönen Nachnamen Wünsche trägt, hat gemeinsam mit seiner exzentrischen Schwester Meret das gleichnamige Kaufhaus geerbt. Er will im neuen Jahr alles daransetzen, dass das Kaufhaus Wünsche seinem Namen wieder gerecht wird. Vera indes hat andere Wünsche. Wünsche, die sie sich nicht einfach in der Damenabteilung des Kaufhauses erfüllen kann. Es ist ihr Leben, das ihr nicht mehr passt, das ihr zu eng geworden ist.

Unter falschem Namen nach London

Einer Eingebung folgend geht sie an diesem Silvester ins örtliche Hallenbad, sie hat die vage Hoffnung, sich dort freischwimmen zu können. Sie hilft dem Zufall nach und „findet“ den Ausweis einer fremden Frau. Kurz entschlossen nimmt sie deren Identität an und kehrt nicht nach Hause zurück. In das Zuhause mit den Mettbrötchen, dem Film und dem Ehemann, der früher ihr Pflegevater war.

Wünsche, Judith Kuckart

Stattdessen nimmt sie den nächsten Flug nach London. Seit sie dort einmal mit Meret Wünsche war, ist London ihr Sehnsuchtsort. Doch so wie die Freundschaft mit Meret eher eine gelebte Rivalität war, ist auch London und der Versuch eines ganz anderen Lebens nur eine Illusion. Zunächst fällt sie in frühere schlechte Angewohnheiten zurück, wird zur Kurzzeit-Kleptomanin und betätigt sich schließlich als Hilfskrankenschwester. Zumindest die Dementen, die sie dort gepflegt hat, „werden sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen“. Vera erhält selten Lob, auch dieses ist eher fragwürdig.

Aus dem bisherigen Leben aussteigen

Desillusioniert erkennt Vera schließlich ihre Lebenslüge: „Richtig Schauspielerin zu sein, hätte bedeutet, mich anstrengen zu müssen, eine ganz andere zu sein.“ Sie kehrt resigniert nach Hause zurück. Sie kann keine andere sein, sie „kann nur als die leben, die alle kennen“. Vielleicht war sie auch einfach nur zu lange zu vorsichtig mit ihren Wünschen.

Die Geschichte von Vera steht im Mittelpunkt des Romans „Wünsche“. Doch auch die Daheimgebliebenen suchen einen Neuanfang nach etlichen, vorher auf unterschiedlichste Art gescheiterten Versuchen. Friedrich Wünsche will aus seinem zwar erfolgreichen, aber ihn langweilenden Manager-Leben aussteigen. Er will das Kaufhaus wieder den Wünschen seiner Käufer und den Traditionen der Familie Wünsche zuführen. Sein bemühtes Credo: „Neue Zeiten brechen an, indem wir die Zeit zurückdrehen.“ Meret Wünsche ist die auffälligste Figur im Roman, Agent Provocateur unter den mutlosen und angepassten Bürgern der Stadt. In ihrem bisherigen Leben hat sie zwischen Dekadenz und Verwahrlosung geschwankt, noch immer weiß sie nicht, wo sie hin will. Allenfalls hat sie eine leise Ahnung, wie sie das ihr gegebene Talent nutzen könnte.

Zufrieden mit den Mettbrötchen

Veras Ehemann und Ex-Pflegevater Karatsch hingegen ist eigentlich ganz zufrieden mit den Mettbrötchen und dem Leben im Bungalow. Große Sorgen macht er sich nicht um seine verschwundene Ehefrau. Er ist sich sicher, dass sie noch lebt, aber er versteht sie nicht. Zufällig findet er ihre Spur und macht sich samt Sohn Jo und Friedrich auf nach London, just in dem Moment, als Vera schon fast wieder zuhause ist. Auf dem Rückweg erleidet er einen Schlaganfall. Anstatt wie geplant in Dünkirchen Muscheln zu kaufen, lernt der zu spät gekommene Suchtrupp die dortige Notaufnahme kennen. So ist ironischerweise derjenige, der am wenigsten Veränderung wünschte, am Schluss der, der die größte Veränderung hinnehmen muss.

Die Autorin Judith Kuckart ist in Schwelm geboren. Auch wenn der Schauplatz ihres neuen Romans nicht namentlich genannt wird, einige Hinweise deuten daraufhin, dass man ihn wie den Geburtsort der Autorin am Rande des Ruhrgebiets ansiedeln darf. Auf jeden Fall spielt die Enge einer Kleinstadt, in der jeder jeden schon seit der Kindheit kennt, eine entscheidende Rolle im Buch. Es geht zwar um die ganz großen Themen: die Sinnkrise auf halber Strecke des Lebens, den Unterschied zwischen Wunsch und Sehnsucht und die Frage nach Heimat. Doch die Protagonisten sind zu gefangen in der erlernten Provinzialität. Ihnen gelingt kein großer Befreiungsschlag, es sind eher halbherzige Versuche, der vorgezeichneten Tristesse zu entkommen.

All die verpassten Chancen

„Wünsche“ spiegelt das Leben als Summe der nicht ergriffenen Chancen, für die es jetzt zu spät ist. Das Kaufhaus Wünsche ist das auffälligste Sinnbild im Roman. Das Leben gleicht in der Regel keinem Warenhaus, so schnell findet man keinen Bon, der zum Umtausch berechtigt.

Zum Ende hin finden sich alle Figuren in der Provinz wieder, um einige Illusionen ärmer. Es bleibt offen, wie sehr die Geschehnisse in diesem Jahr die Protagonisten verändert haben und ob dies überhaupt der Fall ist. Nur der Weg derjenigen, die den größten Ausbruchsversuch gewagt hat, ist vorgezeichnet. Vera wird ihren Mann pflegen müssen. Das hat sie ja in London bereits geübt. So fesselt genau das, was sie in diesem Jahr versucht hat, sie noch enger an ihr altes Leben.

Judith Kuckart lebt heute in Zürich und Berlin. Von 1986 bis 1998 leitete sie das von ihr gegründete Tanztheater Skoronel, konzentriert sich aber heute erfolgreich auf ihre Arbeit als Regisseurin und Autorin. Ihre Sprache ist melodisch und rhythmisch, am Beginn des Romans wird der Leser sehr schnell in einen eigenartigen Sog gezogen, der sich leider irgendwann einfach verflüchtigt. Viel zu schnell kommt ein Moment, in dem die Geduld überstrapaziert wird. Es sind der Zufälle zu viele, die schicksalhaften Begegnungen im Roman sind zu konstruiert, als dass sie noch glaubwürdig erscheinen mögen. Auch die Tragik in den Nebenschauplätzen wird zuviel, zumal der Eindruck entsteht, sie würden nur als Stimmungswerte benutzt.

Metaphern wie aus dem Sonderangebot

Zu Beginn gefallen die Bilder, die Judith Kuckart erzeugt, aber schnell ist man ihrer überdrüssig. Man hat fast den Eindruck, Metaphern wie das flüsternde Universum oder die hörbar glitzernden Augen habe es im Sonderangebot gegeben. Dazu kommt, dass manche Sätze einfach wie die Ausformulierung bekannter Sinnsprüche anmuten. Ganz großen Wert legt Vera auf ihr Credo: „Wenn man glücklich ist, weiß man oft nicht, dass man glücklich ist. Aber hinterher weiß man es. Wenn man traurig ist, weiß man immer genau, wie traurig man ist.“ Richtiggehend stolz ist sie auf diese Erkenntnis. Dumm nur, dass dies schon lange vor ihr Colette etwas prägnanter formulierte: „Was für ein herrliches Leben hatte ich. Ich wünschte nur, ich hätte es früher bemerkt.“

Insofern gleicht die Erzählung durchaus einem Rundgang durch das Kaufhaus Wünsche. Nach dem Rundgang ist die Rechnung zu zahlen, dem Glücksrausch beim Kauf folgt die Ernüchterung. Am Anfang hat man noch eine gewisse Sympathie für Vera, doch am Ende findet man sie und ihre Manierismen einfach nur unsympathisch und wird ihrer überdrüssig. Als Leser wird man sich bis zum Schluß auch nicht klar darüber, ob man die handelnden Personen überhaupt mag. Zumindest in dem Punkt hat man sich dann ganz gut in den Roman eingefühlt, denn auch in der Erzählung wissen die miteinander auf Gedeih und Verderb verwobenen Protagonisten nicht recht, ob sie einander mögen. Es sind schon oft eher Verwünschungen als Glückwünsche, die sie miteinander verbinden – entgegen den hehren Absichten des Herrn Wünsche. Vielleicht sollten sie alle auf Epikur hören: „Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinem Reichtum hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen.“

Judith Kuckart: „Wünsche“. Roman. DuMont Buchverlag. 301 Seiten, €19,99