Eine Sause am Abgrund – Jürgen Gosch inszeniert Ibsens „Peer Gynt“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Saisonstart im Bochumer Schauspielhaus und dann gleich mit Henrik Ibsens ausuferndem Weltendrama „Peer Gynt“ (Uraufführung 1876), das in jenen Zeiten als „nordischer Faust“ galt. Regisseur ist Jürgen Gosch, seit seiner Düsseldorfer „Sommergäste“-lnszenierung (Gorki) wieder in höchster Gunst stehend. Ganz großes Theater also?

Zunächst einmal „armes“ Theater, minimale Ausstattung: Man begnügt sich mit einem schwarzen Spielraum, einer „Black Box“ (Bühne: Johannes Schütz). Der Boden ist sandig bestreut; eine lichte Substanz, die optisch als Schnee durchgeht und in der sich Spuren des chaotischen Geschehens abzeichnen.

Als Requisiten reichen Birken-Äste

Als Requisiten reichen einige Birken-Äste, die zu allerlei Verrichtungen taugen und auch schon mal einen ganzen Wald hergeben. Häuser und Seefahrt werden imaginiert, indem sich Schauspieler-Gruppen ballen – mal in Pyramidenform, mal als von Gischt umtoster Schiffskörper. In derlei Szenen ist spontanes Impro-Theater gefragt, und die Bochumer bringen es zu gewisser Vollendung – allen voran Ernst Stötzner. Keiner chargiert so hintersinnig, brüchig und doch alltagsprall wie er.

Aus dem ohnehin etwas gestaltlosen Stück bedient man sich wie aus einer Wunderkiste. Der vierte Akt, der den ruhelos sein wahres Selbst suchenden Peer Gynt nach Afrika und ins „Tollhaus zu Kairo“ trieb, entfällt komplett. Der Rest wird, auf Basis“ einer zuweilen derb-drastischen Neuübersetzung (Jürgen Gosch und Klaus Missbach lassen nur vereinzelt Reimpaare als sprachliehe Mahnmale stehen), in Grundlinien nachskizziert.

Spürbarer Gruppengeist

Manche Sequenzen, wie etwa das bübische Herumtollen Peer Gynts mit seiner Mutter (Veronika Bayer), das dörfliche Hochzeitsfest seines Rivalen Mads Moen oder das quiekende Treiben der schweinsgesichtigen Trolle, werden mit viel kunterbunter Randale pastos ausgepinselt, so dass mancher Satz beim Spektakel der im Grunde todtraurigen Orgien untergeht. Die seelische Verwahrlosung auf dem Dorfe trägt geradezu präfaschistisehe Züge. Grellfarbige Kostüme deuten auf eine kindsköpfige Sause hin. Doch es ist Lustbarkeit am Abgrund.

Bei Gosch sind stets alle (auch die gerade nicht direkt beschäftigten) Schauspieler auf oder an der Bühne präsent, gespielt wird fast drei Stunden ohne Pause. Leitidee: Wer seine Mitstreiter ohne Unterlass agieren sieht, statt hinter der Szene seinen Einsatz abzuwarten, nimmt Energiefluss auf. Tatsächlich wird bei den nur 12 Darstellern ein Gruppengeist spürbar, der über allem waltet und rasante. Rollenwechsel gleitend leicht wirken lässt.

Knallbunt lärmend geht’s also im schwarzen Kasten meist zu. Als graue, gleichsam erst noch einzufärbende Gestalt tobt, kobolzt, wankt und taumelt Peer Gynt (Oliver Stokowski) durch die Welt, doch stets mogelt er sich ums Wesentliche herum. Der verarmte Sohn eines Säufers verausgabt sich schier atemlos als Draufgänger, schamloser Lügner, Größenwahnsinniger, Außenseiter, Verbannter, Vogelfreier. Die ganze Skala hinab.

Da hilft kein Psycho-Jargon

Stokowski stürzt sich koppheister ins Gewoge. Eben noch quatschselig berlinernd, stimmt er im Nu eine verbale Bravour-Arie an, vollführt Eisläufer-Sprünge oder sonstwas Wildes. Da gerät einer bei der Ich-Suche ins Rotieren; einer, der rabiat mit „Weibern“ umspringt, letztlich aber nicht faustisch auf Weltbeherrschung aus ist, sondern tiefes Ungenügen am Irdischen durchleidet – vielleicht ein Verwandter von Büchners „Lenz“.

Herzlich wenig nützt bei all dem ein pseudo-psychologischer Jargon der Verständigung, der hier mehrfach parodiert wird. Mit einem windelweichen „Gut, dass wir drüber geredet haben“ ist es nicht getan. Auch fromme Choräle reichen nicht hin. Hier hilft nur dies: reinste Liebe, Glaube, Hoffnung. Solche biblischen Grundwerte verkörpert scheu und leise die Zuwanderer-Tochter Solveig (Catherine Seifert), die ein Leben lang treulich auf Peer Gynt wartet. Am Ende darf er im Schoße dieser immer noch mädchenhaften Allmutter ruhen.

Also doch noch ein Traumspiel, eine irrsinnige Fügung, wider alle Vernunft! Und gerade deshalb so ergreifend.

Nächste Termine: 3., 10., 29. Okt. Karten: 0234/3333-111.




In der Bundesliga des Theaters spielt das Ruhrgebiet nicht mit

Von Bernd Berke

Allherbstlich wird sie mit Spannung erwartet: die Jahresumfrage des Magazins „Theater heute“. Welche Sprechbühnen gehören in die „Bundesliga“, wer steigt ab, wer steigt auf? Geht es nach dem Urteil der befragten 40 Kritiker, so war es in der letzten Saison um die Theater des Ruhrgebiets so schlecht bestellt wie lange nicht mehr.

Zwar verteilt man bei „Theater heute“ noch keine symbolischen Masken wie Kochlöffel, doch man ist der Hitlisten-Manie immerhin so weit verfallen, daß man arglos „Die Sieger“ ausruft. Bester Schauspieler: Jürgen Holtz (keineswegs nur als „Motzki“); beste Schauspielerin: Kirsten Dene (an Peymanns Burgtheater); bester Regisseur: Luc Bondy. Frank Castorfs Berliner Volksbühne steht als „Theater des Jahres“ auf Platz eins. In dieser Rubrik (Gesamtleitung einer Bühne) mochte nur noch ein Unverdrossener überhaupt ein Revier-Theater nennen – ein einsames Stimmchen erhebt sich für Roberto Ciullis Mülheimer Theater an der Ruhr. Das war’s dann auch schon.

Ansonsten taucht die Region nur mit ganz wenigen Einzelleistungen auf. In der Sparte „Beste Inszenierungen“ wird, als revierweit einzige, immerhin viermal Jürgen Goschs Bochumer Handke-Einrichtung „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ nominiert. Die Tat eines Gastregisseurs also, während man z.B. den Namen des Bochumer Noch-Schauspielchefs Frank-Patrick Steckel vergeblich sucht. In Sachen Bühnenbild/Kostüme werden immerhin Andrea Schmidt-Futterer, Dieter Hacker und Kazuko Watanabe für Bochumer Produktionen erwähnt.

Noch finsterer sieht es offenbar bei den Schauspielern aus. Nur ein Name aus dem gesamten Ruhrgebiet taucht überhaupt auf, und auch das nur einmal: Matthias Kniesbeck (als „Othello“ in Oberhausen).

Gnädigerweise hat man das Revier wenigstens in der Spalte „Beste/r Nachwuchskünstler/in“ nicht ganz vergessen. Und hier ist denn auch, neben der Bochumer Schauspielerin Judith Rosmair, endlich und erstmals Dortmund vertreten, freilich durch die Regisseurin Amelie Niermeyer (für ihre „Lysistrata“), die man leider längst nach München hat ziehen lassen.

Tja, warum ist Frau Niermeyer wohl an die Isar gegangen? Wohl auch, weil sie dort überregional eher wahrgenommen wird als in Dortmund. Denn die Nichtberücksichtigung im Jahrbuch von „Theater heute“ hat nicht immer mit Mangel an Qualität zu tun, sondern vielfach damit, daß die 40 Kunstrichter die Abstecher gescheut haben. Sprich: Was sie nicht kennen, können sie auch nicht nennen. Was bleibt? Immerhin zwei Zukunftshoffnungen: die kommende Ära Leander Haußmann in Bochum und Jürgen Bosse in Essen.




Untergang in austarierten Szenen – Jürgen Gosch inszeniert Tschechows „Möwe“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Sprechtheater in Zeiten, da „die Waffen sprechen“. Ist es nicht ganz und gar unwichtig, daß da z. B. in Bochum Tschechows .„Die Möwe“ gespielt wird? Ja, gewiß doch – rein politisch betrachtet. Doch im Theater geht es im Glücksfall ums Ganze der menschlichen Existenz. So besehen, wird es gerade jetzt – all seiner realen Ohnmacht zum Trotz – vielleicht noch notwendiger.

Doch auch das Theater hat natürlich seine Niederungen. In Bochum inszeniert Jürgen Gosch, und der hat eine Vorgeschichte. Aus der ehemaligen DDR kommend, sodann in der Ära Flimm in Köln tätig, war er 1988 künstlerischer Leiter der hochrenommierten Berliner Schaubühne am Lehniner Platz. Das blieb er nicht lange. Im November 1988 erhielt er absolut gnadenlose Kritiken für seinen „Macbeth“. So befand etwa die „Frankfurter Rundschau“, die Premierenzuschauer seien nur noch erschöpft „aufgestanden und von ihren Plätzen und grußlos einfach hinausgewankt aus dem Theater“. Seither galt Gosch manchen als Unperson.

Derlei Eindrücke bestätigten sich in Bochum nun gar nicht. Gosch hat mit der „Möwe“ eine durchaus diskutable Arbeit abgeliefert, solide in der Figurenführung, professionell gekonnt; auch wenn der letzte, vielleicht entscheidende Funke fehlt, ein das ganze Stück durchdringender und erhellender Geist.

Die Tschechowsche Menschengruppe, die sich da sommers auf einem russischen Landgut langweilt, besteht. aus lauter Vereinzelten, je für sich Gescheiterten. Zu besichtigen sind in dieser tieftraurigen, mit einem Selbstmord endenden Komödie die Trümmer ihrer Lebensentwürfe. Zum Personal gehören zwei Schriftsteller und zwei Schauspielerinnen: Das Leben wird hier nicht gelebt, es wird höchstens gespielt oder ausgedacht.

Da flattern, taumeln und schlurfen sie in Bochum über die Bühne. Schrittfolgen und Sprechpausen zeigen den Grad der Verwirrung und des Scheiterns an, wenn auch manchmal gar zu deutlich. Ein wenig aufdringlich und gleichzeitig offenbar begrenzt in ihren Mitteln ist leider auch die junge Darstellerin der von Tschechow etwas penetrant mit einer Möwe identifizierten Nina (Angela Schanelec), wobei freilich nach dem Anteil der Regie zu fragen wäre. Ansonsten sehen wir in ihrer bildhaften Wirkung verblüffend austarierte Szenen. Gosch arrangiert die Bewegungen der Figuren wie nach dem Prinzip des „goldenen Schnitts“. Das wirkt künstlich, veredelt, etwas blutleer und erloschen, also passend zum Stück. Johannes Schütz‘ nachhaltig beeindruckende, mitunter eine Spur zu „malerische“ Bühnenbilder stützen diese Wirkung. Als sollten sie gegen solche Leere revoltieren, werden den Personen von Zeit zu Zeit gewisse Erregungen und Exaltationen gestattet. Doch das sind nur Strohfeuer.

Es gibt Momente des dreistündigen Abends, an denen man dicht an der Schwelle zu wirklich großem Theater steht, doch es gibt auch Leerlauf. Die Regie hat das Stück sozusagen ungleichmäßig verdichtet, hat sich manchen Stellen wohl inniger zugewandt als anderen. Aus dem insgesamt guten Ensemble ragen Rainer Hauer als Sorin und Jürgen Holtz als Arzt heraus. Für Bochumer Verhältnisse gab es nur spärlichen Beifall.