Zwei gefährliche Geradeausdenker: Brechts „Flüchtlingsgespräche“ in Dortmund

Was tut einer den lieben langen Tag, wenn er vor den Nazis in ein fremdes Land flüchten mußte? Nun, er langweilt sich. Er wünscht sich interessante Gesprächspartner, und weil er sie nicht findet, führt er Selbstgespräche. So oder so ähnlich mag es wohl gewesen sein, als Bert Brecht in den späten 30er Jahren seine „Flüchtlingsgespräche“ in Svendborg (Dänemark) notierte. Was er damals, in dramatischer Form, seinen Figuren Kalle und Ziffel in die Dialoge schrieb, war jetzt im Dortmunder Schauspiel zu sehen: Eine für dieses Haus mittlerweile ungewöhnliche, keineswegs jedoch reizlose Veranstaltung.

Flüchtlingsgespräche

Jürgen Mikol (links) als Kalle und Andreas Weißert als Ziffel in Brechts „Flüchtlingsgesprächen“- (Foto: Theater Dortmund/Djamak Homayoun)

Viel Biographisches erfahren wir nicht über die beiden Männer, die sich zufällig zunächst an einem Tisch im Bahnhofsrestaurant von Helsinki treffen. Kalle ist ein rechtschaffener Proletarier, Metallarbeiter, Ziffel Physiker. Man redet über naheliegende Migrantenthemen zunächst, über Pässe, über Unterkünfte, doch bald ist man natürlich schon bei Deutschland, bei deutscher Ordnung und deutscher Kraft und bei den Verhältnissen, die in der alten Heimat unter den Nazis monströse Veränderungen erfahren.

Ziffels kauziges Raisonnieren über „erste Kraft“ und „letzte Kraft“, sein Einlassung, daß es doch viel einfacher wäre, sein Ziel mit – eben – erster statt mit letzter Kraft zu erreichen, ist immer noch ein hübsches Brechtsches Kleinkunstjuwel, und es bleibt in diesem Stück nicht das einzige. Beide nämlich – Kalle, der meistens nur bekräftigend zuhören muß, und Ziffel mit seinem Hang zum Monologisieren – sind gefährliche Geradeausdenker, deren scheinbar zwangsläufige Erkenntnisse auf mitunter groteske Art entlarven.

Hellseherisch geradezu sind die Gedanken über die Volkswirtschaft, die so kompliziert geworden ist, daß niemand mehr sie überblicken kann. Und auch die Sätze über die Schweiz, in der Reise-, Meinungs- und Pressefreiheit zwar bestehen, aber keineswegs zu weit getrieben werden dürfen, könnten vor kurzem erst geschrieben sein. Scharfes Denken, so Ziffel, sei schmerzhaft; der vernünftige Mensch vermeide es, wo immer er könne. Und wenn solche Sätze fallen, die eigentlich ja eher deprimierend sind, dann vermeint man doch ein Augenzwinkern im Gesicht des Schauspielers zu erkennen, der diesen aus seinem Land vertriebenen Weisen wider Willen spielt.

Flüchtlingsgespräche

Gespräche unterm (angepißten) Hakenkreuz: Jürgen Mikol (links) als Kalle und Andreas Weißert als Ziffel (Foto: Theater Dortmund/Djamak Homayoun)

Andreas Weißert gibt den Physiker Ziffel, Jürgen Mikol ist sein durchaus kongeniales Gegenüber Kalle. Mikol war lange im Dortmunder Ensemble und ist dem Publikum noch gut bekannt. Auch an Weißert, der in Dortmund von 1975 bis 1980 Oberspielleiter war und der seitdem auf vielen weiteren Bühnen stand, werden sich viele noch erinnern. Die beiden stellen die „Flüchtlingsgespräche“ untadelig als konzentriertes Kammerspiel auf die Bühne, verzichten auf inszenatorische Schnörkel und erfreuen im Vortrag der mal gezierten, mal abgehobenen, oft messerscharfen und immer unverwechselbaren Brechtschen Zeilen ihr Publikum, das an diesem Abend etwas älter ist als sonst in Dortmund.

Zwischen den szenischen Dialogen bringen die Akteure aktuelle Texte zu Gehör, die wohl eine unerfreuliche Nähe heutiger politischer Entwicklungen zu denen von damals suggerieren sollen. Ein Zitat kommt dann – kleines Ratespiel für das Publikum -, nein, nicht vom Bundespräsidenten, sondern von Adolf Hitler. Richtig entlarvend ist das aber trotzdem nicht, weil man mit aus den Zusammenhängen gerissenen Texten alles mögliche „beweisen“ kann, und überhaupt wären diese Aktualisierungen nicht nötig gewesen.

Wenn dem Zusammentreffen der beiden Männer trotz widriger Flüchtlingsexistenz ein gutes Maß an Behaglichkeit und Entspanntheit innewohnt, so wohl einfach deshalb, weil sie schon etwas älter sind. Zwar ist Jürgen Mikol trotz seiner 73 Jahre noch immer ein Mime mit beneidenswerter Beweglichkeit, zelebriert der achtzigjährige (!) Andreas Weißert seine Rolle, leicht unterspielend, mit einer Souveränität, die man auch vielen jüngeren Kolleginnen und Kollegen gönnen würde, doch sind die beiden eben Senioren, die Rückschau halten; nicht Männer mittleren Alters, die durch die Flucht vor den Nationalsozialisten brutal aus ihren Lebensbezügen gerissen wurden.

Brechts „Flüchtlingsgespräche“ also gezeichnet in den milden Farben des Lebensabends, nun gut. Trotzdem ist es ein Vergnügen, das Stück und diese beiden wunderbaren Schauspieler zu erleben; wie es überhaupt erfreulich ist, endlich wieder etwas von Bert Brecht auf der Dortmunder Bühne zu sehen, und sei es auch nur ein kleines Kammerspiel. Das Publikum zeigte sich sehr angetan und spendete reichen Beifall.

Nächster Termin: 8. März, 18.30 Uhr. Karten Tel. 0231 / 50 27 222, www.theaterdo.de




Vom Trauma des Lebens in der Fremde – Helmut Ruges „Wer bezahlt die Zeche?“ uraufgeführt

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Waren im 19. Jahrhundert polnische Zuwanderer die „Türken des Reviers“? Um diese Frage kreist die neuen Szenencollage des Satirikers Helmut Ruge (Allerweltstitel: „Wer bezahlt die Zeehe?“), die am Samstag im Recklinghäuser „Depot“ als Produktion der Ruhrfestspiele uraufgeführt wurde.

Berge von Koffern sind die Hauptrequisiten, Zeichen für „Heimat“-Losigkeit – und das nicht nur im Hunsrück. Im kohlenschwarzen Bühnenboden klafft ein glühender Riß, als habe sich die Erde aufgetan. Ursache: „soziale Beben“.

Der Türke Erdal führt in fliegendem Rollenwechsel das epochenübergreifende Trauma des Lebens in der Fremde vor. Mal bleibt er der Erdal der „Wende“-Zeit in den 1980ern, mal wird er zum Polen Josef, der hundert Jahre zuvor ins Ruhrgebiet gekommen ist und bei den großen Bergarbeiterstreiks noch mehr Solidarität erfährt, als sie sich heute über Nationalitätsschranken hinwegzusetzen wagt. Zwei Zeitprofile werden ausschnittweise kontrastiert und treten wechselseitig deutlicher hervor: zuweilen verlaufen sie nahezu parallel: Was für den Sozialdemokraten von dazumal der kaiserliche Büttel, ist für den Türken heute der vom heimischen Militärregime beauftragte Spitzel.

Regisseur Bernd Köhler läßt die Szenen vielfach durch harte Ausblendung des Lichts abreißen. Die Einzelteile stehen für sich. Ständiger Neu-Ansatz also, denn Ruges Text zielt in gar viele Richtungen. Manchmal scheint es, als ginge es darob resignativ zu, wie bei einem aussichtslosen Kampf gegen Windmühlenflügel. Doch geht immer wieder gleichsam ein Ruck durch das Stück, und es folgen unvermittelt lustvolle Folklore-Einschübe oder (auch türkischsprachige) Bänkelgesänge. Fluchtreaktion oder Sinnenfreude, die sich nicht unterkriegen läßt?

Uneinheitlich wie der Aufbau ist auch der Inhalt: Es steht Vielsagendes neben vielfach Gesagtem. Daß die Szenenfolge nicht heillos in Resignation hie und Klamauk dort zerföllt. dafür sorgt Hauptdarsteller Erdal Merdan, der den Erdal bzw. Josef mit einer gehörigen und notwendigen Portion aggressiven Beharrungsvermögens spielt und so das Stück zusammenhält. Auch die weiteren Beteiligten aus dem Festspiel-Ensemble (u.a. Jürgen Mikol, Vesna Bujevic, Lydia Billiet) erhielten reichlichen Beifall.




Gute Geschäfts beim Weltuntergang

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Was auf der Erde vorgeht, mißfällt der übrigen Planetengemeinschaft. Ein Ungeziefer namens „Mensch“ soll sich auf dem blauen Ball eingenistet haben und nichts als Unfug treiben. Also beschließen Venus, Mars und Saturn unter Vorsitz der Sonne, einen vorbeisausenden Kometen auf die Erde zu hetzen, auf daß der unbotmäßige blaue Planet untergehe. Der Komet aber verliebt sich beim Anflug in sein Opfer und dreht im letzten Moment ab.

„Der Weltuntergang“, am Sonntagabend vom Ensemble der Ruhrfestspiele im ehemaligen Straßenbahndepot Recklinghausen aufgeführt, stammt von einem Autor, der jetzt allenthalben wiederentdeckt wird: Jura Soyfer, 1912 in Charkow als Sohn eines jüdischen Industriellen geboren, Emigration nach Wien, in den 20er Jahren einer der wichtigsten Satiriker in Österreich, 1939 im KZ Buchenwald mit 26 Jahren an Typhus gestorben.

Soyfers Weltuntergangs-Visionen, seinerzeit durch den Faschismus heraufbeschworen, sind für Recklinghausen aktualisiert worden. Nicht mehr die Hitlerei, sondern die Weltmächte und ihre Atomwaffenarsenale, so muß man wohl interpretieren, stellen nunmehr die virulenteste Bedrohung der Menschheit dar.

Nach dem planetarischen Vorspiel geht es um die Reaktionen, die die Entdeckung des herannahenden Kometen hienieden auslöst. Professor Guck ortet die Katastrophe als erster und findet gar ein Mittel, sie abzuwenden, doch davon will niemand etwas wissen. im Gegenteil: Es herrscht „business as usual“, die Geschäfte gehen besser denn je, es werden fleißig „Weltuntergangs-Anleihen“ gezeichnet, die Sorgen der Politiker und Diplomaten müssen sich somit nur noch auf die Erhaltung der freien Marktwirtschaft, der heimischen Wahlkreise und ihrer Tennisplätze richten.

Ein Prediger beschwört unterdessen eindringlich das nahende Ende, ruft zur Umkehr auf und offeriert dann Hosenknöpfe, die jegliches Inferno überstehen sollen. Und auch die Journalisten bekommen ihr Fett ab. Nicht das drohende Ende der Menschheit macht die Reporterin nervös, sondern der Drucktermin für ein Extrablatt, das 5 Minuten vor dem großen Knall erscheinen soll.

Das allgemeine Chaos wird adäquat in Szene gesetzt (Bearbeitung und Regie: Bernd Köhler). Die Zuschauer, wie auf zwei Stadiontribünen einander gegenübersitzend, zwischen, neben und über denen sich das Spiel als Musik-Revue der großen Dekadenz entfaltet, müssen ständig die Sitzhaltung wechseln. Schlagartig verlagert sich das Geschehen auf immer andere Spielflächen, dehnt sich auch schon mal auf die ganze Halle aus. Im Prinzip ist es sinnvoll, gerade dieses Stück nicht in einer herkömmlichen „Guckkastenbühne“ zu spielen. Im generellen Szenen- und Schauplatzwechsel gehen jedoch einige verhaltenere Szenen unter.

Die schauspielerischen Leistungen überzeugen. Heinz Kloss und Meinhart Zanger tun sich besonders hervor, speziell in einer gemeinsamen Szene als deutscher und amerikanischer Diplomat. Jürgen Mikol als Professor Guck vermeidet zu recht, einen spleenigen Wissenschaftler darzustellen. Seine Gesangseinlagen sind jedoch kein Ohrenschmaus.