Das unerhört Neue, das sich in jedem Leben begibt – Andreas Maiers Roman „Der Ort“

Allmählich wird das abgelegene Friedberg in der Wetterau zum literarischen Ort. Je mehr der Schriftsteller Andreas Maier („Wäldchestag“) Kindheits- und Jugenderinnerungen in verdichtete Sprache überführt, umso mehr reiht sich der hessische Flecken ein in die Historie bedeutsamer Provinznester.

Mit „Das Zimmer“, „Das Haus“ und „Die Straße“ hat Andreas Maier nach und nach immer weitere Kreise um sein Herkommen gezogen. Sein neuester Roman heißt „Der Ort“ und spielt in den frühen 1980er Jahren, als der Protagonist sozusagen auf dem ersten Scheitelpunkt seiner Pubertät anlangt, sich lesend (was sind das noch für Zeiten gewesen!) von allem und allen in ungute Einsamkeit zu entfernen scheint, während er doch zugleich einem regen Kollektiv, einer bestimmten „Szene“ angehört, und zwar keineswegs als randständiger Außenseiter.

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Stimmig, feinsinnig und mit Erfahrung angefüllt schildert Maier den gleitenden, gleichwohl auch schmerzlichen Übergang aus den späten Kinderjahren in die Jugendzeit. Noch spielen die Mädchen Gummitwist und dergleichen, doch lockt zumal eine gewisse Katja Melchior schon auf andere, durchaus aufregende Weise. Die Jahre, die ihr kennt…

Auch der Ort verändert sich. Es ist die Zeit, in der nach und nach alle Umgebung durch Trassen und Umgehungsstraßen durchpflügt, umzingelt und nachhaltig geprägt wird. Fast unmerklich und doch machtvoll kündigt sich ein Verlust an.

Im Leben der Jugendlichen ist derweil alles randvoll mit Ahnungen, es ist ein Ansammeln vordem ungeahnter Gefühlslagen. Da dämmert eine neue Lebensrolle herauf, fast wie aus dem Nichts.

In wechselnden Konstellationen und Choreographien kreisen die jungen Leute Tag für Tag umeinander, klären auf Partys ihre mehr oder weniger subtilen Hierarchien, üben die Regeln des Sich-Näherns und des Entfernens ein.

Alles, was da geschieht, wirkt überaus gültig – und dermaßen erschöpfend, so dass so manche Schulvormittage vertrödelt werden müssen. Entschiedener noch: Es bilden sich Rituale heraus, mit denen die Jugendlichen sich gezielt künstliche Ohnmachten zuzufügen, sich in Trance versetzen. Dabei kommen sie sich doch so unverwundbar vor. Vielleicht müssen sie sich gerade deshalb betäuben?

Wie befremdlich auf einmal der gewöhnliche Alltag wird. Die eigene Unterhose kommt dem Erzähler ebenso seltsam vor wie das gesamte elterliche Ambiente, ja überhaupt das Leben der Erwachsenen am Ort und überall. Mag sie auch betrüblich grundiert sein, so hat die Distanz doch auch ihre sanft komischen Seiten. Und die Eltern, die Lehrer? Sind bei all dem rundweg sprach- und machtlos.

Das Gefühl der schier grenzenlosen Freiheit führt auch – eher noch spielerisch – zur ersten Politisierung, die sich dort und damals gegen rechtslastige CDU-Typen richtete. Wie lang ist das her!

Es ist beileibe nicht das erste Buch, das dieses ungeahnte, alsbald nicht mehr wiederkehrende Jugendgefühl beschreibt. Es ist vielmehr die Fortsetzung einer großen, langen Tradition. Das unerhört Neue, das sich in jedem Leben begibt, hat eben viele, viele Vorläufer. Es bleibt, wenn es so beschrieben wird wie hier – für alle Zeit spannend.

Allerdings flüchtet der Erzähler willentlich vor dem landläufigen Jungsein. Alles kommt ihm so gespielt und aufgesetzt vor, wie ein tausendfältiges Klischee. Ihm ist gar, als habe er seine Hände verloren und als müsse er reglos verharren. Ein Schluss, der auf Erstarrung hinzudeuten scheint. Aber wer weiß.

Andreas Maier: „Der Ort“. Roman. Suhrkamp-Verlag. 154 Seiten. 17,95 Euro.

Auszug aus einer Lesung des Autors hier




DGB sucht nach neuen Wegen in der Kulturarbeit – Beispielhaftes Projekt mit Jugendlichen

Von Bernd Berke

Hattingen. Neue Wege in seiner Kulturarbeit mit Jugendlichen soll der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) beschreiten – wenn es nach dem Team geht, das gestern in Hattingen den Abschlußbericht eines ungewöhnlichen Projekts vorgelegt hat, bei dem nicht – wie so oft – typische Gewerkschaftsthemen (35-Stunden-Woche usw.) nur noch umgesetzt wurden, sondern bei dem Erfahrungen und Bedürfnisse Jugendlicher den Anstoß gaben und Themen, Medien und Darstellung bestimmten.

Ilse Brusis, als Mitglied des DGB-Bundesvorstands an dem Modellversuch interessiert, nannte gestern den Hauptgrund für die Aktivitäten, an denen 12 Gruppen mit insgesamt rund 150 Jugendlichen beteiligt waren: Immer mehr Jugendliche gehen, so Frau Brusis, auf vorsichtige Distanz zur Gewerkschaft, die sie oft genug nur noch als Institution mit zahllosen bürokratischen Gremien erleben. Also müsse sich der DGB auch auf dem kulturellen Sektor etwas einfallen lassen, um attraktiver und lebendiger zu werden. Das Projekt (Kosten für drei Jahre: 380.000 DM) solle ein erster Schritt sein, die vorliegende Bilanz eine Anregung.

Von traditioneller Gewerkschafts-Kultur sind die meisten Gruppen in der Tat weit entfernt: Manchem altgedientem Gewerkschafter mag z. B. die Art nicht gefallen, wie sich eine Bergkamener Projektgruppe jugendlicher Bergarbeiter kritisch äußerte: Unter Anleitung eines Künstlers entwarfen sie eine Gipsfigurengruppe, die zeigt, wie lebenswichtige Solidarität unter Bergleuten zwar „vor Ort“ funktioniert, in der Freizeit aber nicht mehr. Da herrscht Vereinzelung. Die Bergkamener bauten auch ein bizarres „Traumauto“, einfach weil sie gerade alle den Führerschein machten und das Thema deshalb akut war. Und sie drehten einen Videofilm, der direkt in der Arbeitswirklichkeit ansetzt und u. a. einen „Kumpel“ unter Tage zeigt, der sich durch den Berg zur Freiheit vorarbeitet und plötzlich an einem Südseestrand steht.

Weitere Projektgruppen: Junge Bergarbeiter in Gelsenkirchen spielten ein Stück über Südafrika, eine Jugendgruppe von Opel in Bochum absolvierte einen Theaterkursus. und in Herne erarbeiteten deutsche und türkische Jugendliche gemeinsam ein Stück über Ausländerfeindlichkeit. Prinzip war jeweils, daß den Beteiligten keine gewerkschaftlichen Thesen vorgegeben wurden.

Projektleiter Jürgen Krings vom „jungen forum“ der Ruhrfestspiele glaubt dennoch, daß das Mißtrauen „orthodoxer“ Gewerkschafter unbegründet sei, denn: „Hier werden gewerkschaftlich wichtige Fähigkeiten wie Miteinander-Reden ganz nebenbei entwickelt.“ Freiere kulturelle Arbeit nach Art dieses Projekts schaffe „ein Stück sozialer Heimat“. Zwei beteiligte Jugendliche aus Bergkamen bestätigten das. Die Gewerkschaft, so sagten sie gestern, sei ihnen durch das Kulturprojekt nähergerückt.