Festival Klangvokal in Dortmund: Musikalische Schätze und Raritäten aus acht Jahrhunderten für die menschliche Stimme

Bei so manchem Festival wird das Blaue vom Himmel versprochen – und der Horizont bleibt dann doch grau. Beim Dortmunder „Klangvokal“, seit der Gründung geleitet von Torsten Mosgraber, ist das anders: Die zehnte Ausgabe mit dem Thema „Auf Schatzsuche“ löst tatsächlich den Anspruch ein, aus dem reichen Spektrum der Musik für eine, mehrere oder viele menschliche Stimmen ein paar ungewöhnliche Farben nach vorne zu spielen. Vom 11. Mai bis 10. Juni 2018 lässt sich bei 23 Veranstaltungen die Vokalmusik der letzten 800 Jahre durchstreifen. Dabei kommen nicht nur Klassik-, sondern auch Crossover- und Weltmusik-Fans auf ihre Kosten.

Dirigent, Komponist und Organist: Wayne Marshall. © Wayne Marshall

Dirigent, Komponist und Organist: Wayne Marshall. © Wayne Marshall

Die Eröffnung am Freitag, 11. Mai steht im Zeichen des 100. Geburtstags von Leonard Bernstein. Wayne Marshall, Komponist, Dirigent und Organist, steht am Pult seines WDR Funkhausorchesters und bringt die „Chichester Pslams“ und Bernsteins Erste Sinfonie „Jeremiah“ mit. Der Kammerchor der TU Dortmund und der Philharmonische Chor Essen übernehmen die Partien der Vokalensembles auch in Francis Poulencs „Gloria“ und „The Fruit of Silence“ des lettischen Komponisten Peteris Vasks, geschrieben 2013 auf einen Text von Mutter Teresa.

Monteverdi-Oper rekonstruiert

Eine Rarität erklingt am Freitag, 18. Mai in der Reinoldikirche: Der Philharmonische Chor des Dortmunder Musikvereins und die Dortmunder Philharmoniker führen – gemeinsam mit den renommierten Solisten Eleonore Marguerre (Sopran), Thomas Laske (Bariton) und Uwe Stickert (Tenor) – Jules Massenets Oratorium „Ève“ auf. Am Freitag, 1. Juni mischen sich Alt und Neu auf eine Weise, die so ungewöhnlich wie umstritten ist: Zum ersten Mal erklingt in einer öffentlichen Aufführung im Orchesterzentrum NRW eine rekonstruierende Neukomposition von Claudio Monteverdis Oper „L’Arianna“.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Cavina, italienischer Countertenor und Experte für Alte Musik, wollte nicht warten, bis vielleicht eines Tages die Originalpartitur Monteverdis in einer verschlossenen Bibliothek oder einem vernachlässigten Archiv auftauchen könnte, und hat sich auf der Basis eines tiefgründigen Wissens um Kompositionsweise und Aufführungspraxis des 17. Jahrhunderts an eine musikalische Ausformung gemacht, die er selbst allerdings nur ungern als „Komposition“ bezeichnet.

Ausgehend von Ottavio Rinuccinis Libretto, dem erhaltenen berühmten „Lamento“ aus der Oper und Kompositionen wie dem „Ballo delle Ingrate“ hat er selbst Musik im Geiste Monteverdis geschrieben. Die Aufführung mit Cavinas Ensemble La Venexiana, die „L’Arianna“ bereits 2015 in Venedig erstmals gespielt haben, umfasst in etwa 100 Minuten die acht Szenen plus einen Prolog der ursprünglichen Oper. Davide Pozzi leitet das Ensemble und elf Solisten.

Geschichte der Büßerin Maria Magdalena

„Echten“ Barock gibt es dann am Sonntag, 10. Juni in St. Reinoldi zu hören: Das Ensemble Le Banquet Céleste gastiert unter Damien Guillon mit einem der mindestens 43 Oratorien des in Wien gestorbenen Venezianers Antonio Caldara. „La Maddalena ai piedi di Cristo“, wohl um 1700 für Rom geschrieben, thematisiert in einem allegorischen Spiel um die irdische und himmlische Liebe die Geschichte der Büßerin Maria Magdalena auf der Basis des Lukas-Evangeliums.

Auf dem Weg zum Weltstar: Marina Rebeka singt in Dortmund in Verdis "Giovanna d'Arco". ©Janis Deinats

Auf dem Weg zum Weltstar: Marina Rebeka singt in Dortmund in Verdis „Giovanna d’Arco“. ©Janis Deinats

Auch die Oper kommt wieder zu ihrem Recht: Mit der Sopranistin Marina Rebeka, in New York als „Norma“ und Mathilde in Rossinis „Guillaume Tell“ gefeiert, und dem aufstrebenden Bariton Baurzhan Anderzhanov aus Essen erklingt am Sonntag, 27. Mai im Konzerthaus „Giovanna d’Arco“, ein früher verschmähtes Werk aus Giuseppe Verdis mittlerer Schaffensperiode, das in den letzten Jahren etwa durch Aufführungen in Salzburg (mit Anna Netrebko), aber auch durch szenische Produktionen in Bonn und Bielefeld neu entdeckt wurde. Daniele Callegari dirigiert das WDR Funkhausorchester Köln, es singt der LandesJugendChor Nordrhein-Westfalen.

„Gänsehaut-Musik“ aus Belgien

Die Vielfalt der Chormusik durch die Jahrhunderte setzen Ensembles aus Großbritannien, Estland und Tschechien präsent. Oder aus Belgien: Dem 2004 von Lionel Meunier gegründeten Ensemble Vox Luminis wird etwa von Bayerischen Rundfunk bescheinigt, „Gänsehaut-Musik“ zu machen. Am Samstag, 12. Mai singt der Chor in der Marienkirche Motetten der Bach-Familie aus dem 17./18. Jahrhundert, darunter unbekannte „Bäche“ wie Johann Christoph oder Johann Ludwig, dem Vetter Johann Sebastians, der in Meiningen als Kapellmeister wirkte.

Der Estnische Philharmonische Kammerchor singt am Sonntag, 20. Mai in der St. Nicolaikirche A-cappella-Chormusik von Arvo Pärt, Cyrillus Kreek und Veljo Tormis. Mit einem so raren wie erlesenen Programm kommen das Ensemble Clematis und der Choeur de Chambre aus Namur am Samstag, 26. Mai in die Maschinenhalle von Zeche Zollern. Unter Leonardo García Alarcón öffnet der Chor die Welt der barocken geistlichen Musik der iberischen Halbinsel und greift auch in die „Neue Welt“ aus, wo Komponisten an Kathedralen oder in Jesuitenreduktionen tätig waren. Tomás Luis de Victoria ist noch der bekannteste von ihnen, aber von Juan de Araujo, der in Lima (Peru) und an anderen lateinamerikanischen Bischofskirchen wirkte, von Matheo Romero, Kaplan mehrerer gekrönter Häupter, oder von Mateu Fletxa et Vell, dem Musiklehrer der Töchter Kaiser Karls V., haben selbst Spezialisten noch kaum etwas gehört.

Rund 150 Chöre beim Fest in der Innenstadt

Zu den ältesten Wurzeln geistlicher Musik dringt am Dienstag, 29. Mai in der Marienkirche das Ensemble Tiburtina mit Musik von Hildegard von Bingen vor. Aus England und Spanien kommt die Musik, die The Tallis Scholars am Samstag, 9. Juni in der Propsteikirche singen. Und nicht zu vergessen ist das 10. Fest der Chöre am Samstag, 2. Juni, bei dem zwischen 10 und 22 Uhr rund 150 Chöre in der Dortmunder Innenstadt ihr Können dem Publikum präsentieren.

Freunde der Weltmusik können sich auf die Argentinierin Lily Dahab (Sonntag, 13. Mai), das Ensemble Saz’Iso aus Albanien (Samstag, 19. Mai), auf portugiesischen Fado mit Gisela João am Freitag, 25. Mai und auf Yorkstone Thorne Khan am Donnerstag, 7. Juni freuen, die britischen Folk und indische Musik miteinander verbinden.

Infos und Karten: www.klangvokal-dortmund.de




Massenet im Focus (II): „Thaïs“ in Bonn als Studie zu Hysterie, Begierde und Religion

Bildgewaltig, aber nicht konsequent genug genutzt: Rifail Ajdarpasics Bühne für Jules Massenets "Thais" am Theater Bonn. Foto: Thilo Beu

Bildgewaltig, aber nicht konsequent genug genutzt: Rifail Ajdarpasics Bühne für Jules Massenets „Thaïs“ am Theater Bonn. Foto: Thilo Beu

Sexualität, Psychoanalyse, Religion: Die geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts konnten diesem Spannungsfeld nicht entkommen. Faszination und Erschauern begleiteten es. Die katholische Kirche in Europa formulierte ihr tiefes Misstrauen gegen die gerade aufbrechenden Strömungen der Psychoanalyse, verschanzte sich hinter der Bekräftigung moralischer Konzepte und Urteile, die Jahrhunderte lang gegolten hatten. Die Moderne glaubte dagegen an einen Weg aus einer drückend empfundenen intellektuellen Erstarrung hin zu neuen Ufern der Erkenntnis und der geistigen Entwicklung.

1894, als der gläubige Katholik Jules Massenet seine Oper „Thaїs“ in Paris zur Uraufführung brachte, waren Sigmund Freuds „Traumdeutung“ und seine Studien zur Sexualtheorie noch nicht erschienen. Doch das Thema seines ersten Werks („Studien über Hysterie“, 1895) war allgegenwärtig. Wenn man so will, ist das Libretto zu „Thaїs“ eine theatralische Studie zum Thema Hysterie: Auf dem Roman von Anatole France fußend, spaltet es nicht eine einzelne Person, sondern die Welt in Heiligkeit und Verderbnis, in Sumpf und Glorie, in Erlösung und Verdammnis.

Die Repräsentanten dieser „hysterischen“ Spaltung sind die Kurtisane Thaїs, die mittels Schönheit und sexueller Raffinesse eine Großstadt wie Alexandrien in ihrem Bann hält, und der Mönch Athanaël, der die Wüste mit dem Geist der Askese und der Frömmigkeit erfüllt. Der eine macht sich auf, die andere zu bekehren. Das gelingt, aber anders als vorgesehen: Am Ende repräsentiert Thaїs das Keusche und Heilige, während sich Athanaël in den Fängen der sexuellen Begierde windet.

Evez Abdulla als Athanael im ersten Bild von "Thais". Foto: Thilo Beu

Evez Abdulla als Athanael im ersten Bild von „Thais“. Foto: Thilo Beu

Die berüchtigte „Méditation“, das Zwischenspiel mit Solo-Violine, einst vielgehört in Wunschkonzerten und von Kurorchestern, steht in der Oper am Wendepunkt dieses inneren Geschehens. Massenets betörende Melodie symbolisiert religiöse Verzückung, nicht etwa die wollüstige Sinnlichkeit, die sie aufs erste Hören zu verströmen scheint. Sie wird zum Leitmotiv einer sich in Glaubens-Inbrunst reuevoll verzehrenden Thaїs.

Was für ein Stoff – und was für eine Vertonung! Massenet streift die ästhetischen Kunstwelten der Symbolisten, führt sie aber nicht – wie Claude Debussy oder Erich Wolfgang Korngold – weiter. „Thaїs“ erinnert eher an den französischen Exotismus – und Massenet bedient sich auch der musikalischen Kennzeichen dieses Stils, etwa der Melismatik oder einer harmonisch prickelnden Chromatik.

In Thaїs begegnen uns die Odalisken der schwülen Malereien ebenso wieder wie die von Süße durchdrungenen Heiligen in den Kirchen der Jahrhundertwende. Hingabe unter jeweils anderen Vorzeichen, Leben an der Borderline: das zeichnet diese Kunstgestalten aus.

Der Augenmerk Massenets liegt dabei auf Thaїs: Ihre innere Wandlung ist ein dem Wort entzogener, allein der Musik anvertrauter Vorgang. Vorbereitet wird die Transformation allerdings in einer ausgedehnten Szene, in der die Venuspriesterin Thaїs – der religiöse Aspekt der Sexualität wird nicht ausgeblendet – ihre Maximen von Schönheit und Ewigkeit befragt. Athanaël liefert ihr das Stichwort: „vie éternelle“. Das ewige Leben, ist es, das die suchende Frau fasziniert, die „Glückseligkeit, die niemals enden wird“. Der Mönch zeigt sich gleichzeitig als wortgewaltiger, überzeugender Prediger, aber auch als moralischer Fundamentalist: Am liebsten würde er ganz Alexandrien vernichten. Und sein Begriff der Liebe ist ein idealistisch verbrämtes, supranaturalistisches Konstrukt: Nie habe er jemanden geliebt, erklärt er. Er liebe nur „die Liebe“.

Gestalten des Dämonischen: Vier Schakale bedrängen Athanael (Evez Abdulla). Foto: Thilo Beu

Gestalten des Dämonischen: Vier Schakale bedrängen Athanael (Evez Abdulla). Foto: Thilo Beu

So eine Vorlage müsste eigentlich jeden Regisseur Blut lecken lassen. Doch Francisco Negrin ist an der Oper Bonn, die Massenets Werk – nach dem Theater Lübeck – endlich einmal in Deutschland auf den Spielplan gesetzt hat, nicht in geistige Tiefenschichten vorgedrungen. Rifail Ajdarpasic hat ihm eine räumlich aufwändige Bühne gebaut, deren symbolische Anlagen nicht konsequent genutzt werden und im Lauf des Abends in die Schauplatz-Bebilderung abgleiten. Dabei wäre mit den geometrischen Formen von Kreis und Rechteck, mit der Wirkung des opulent eingesetzten Lichts (Thomas Roscher), auch mit den stilvollen Kostümen Ariane Isabell Unfrieds ein Potenzial visueller Deutung zu aktivieren gewesen. Aber wenn der auf Stelzen stehende Rechteck-Kasten im zweiten Bild – Kontrast zur runden Höhle des Eremiten Athanaël im ersten Bild – beliebig zurechtgerückt wird, wenn die runde Scheibe, in der Thaїs erscheint, zwar als Konkurrenz zur religiösen Sphäre der Mönche verstanden werden könnte, dann aber nicht ausgespielt wird, bleiben die Bilder inhaltlich unerfüllt.

Mit der Personenregie geht es ähnlich: Negrin lässt den Athanaël in der athletischen Gestalt von Evez Abdulla sich auf einem Kreuz winden, gibt ihm auch später heftige Gesten der Emotion. Wirklich glaubwürdig wird die Figur in ihrer Faszination und ihrem Furor damit nicht. Auch Thaїs soll mal mit statuenhaften Haltungen, mal mit dem üblichen schwülstigen Bewegungsrepertoire der exotischen Kurtisane ein Profil gewinnen, das der Figur versagt bleibt. Hat Negrin ein szenisch-gestisches Element – wie die kreuzförmig ausgebreiteten Arme des Athanaël –, dann fehlt ihm die szenische Konsequenz, die es zu einer über den Moment hinausgehenden Chiffre machen würde. Diese „Thaїs“ wirkt wie das schüchtern die Moderne antastende Bildertheater der siebziger Jahre.

Stefan Blunier am Pult des Beethoven Orchesters Bonn setzt gegen die zagende Szene eine höchst klangbewusste, atmosphärisch mutig ausgeleuchtete musikalische Interpretation: Wie schillerndes Öl verlaufen Töne ineinander, wie duftender Rauch ziehen exotische Farben durch tragende Säulen des Klangs. Und Konzertmeister Mikhail Ovrutsky gibt dem Violinsolo die verzückte Süße des Moments, ohne seinen feinen Ton an Kitsch zu verraten. Im Orchester stehen subtil ausgekostete Momente neben wenigen plump unkonzentrierten Holzbläserstellen, sanfter Streicherbrokat neben ein paar Webfehlern etwa in den Celli: Ein paar Kanten wären also noch abzuschleifen.

Die Besetzung hält das beachtliche Niveau des Abends: Nathalie Manfrino in der Titelpartie überzeugt durch präsenten, brillant gebildeten Ton und mit ihrer Kunst, die Facetten der Figur zwischen glamouröser Oberfläche, existenzieller Verunsicherung und verwandelnder Erfahrung der göttlichen Liebe stimmlich zu beglaubigen. Priit Volmer als mahnender alter Mönch Palémon und Mirko Roschkowski als junger Alexandriner Nicias zeigen ebenso wie Susanne Blattert als Wüstenkloster-Äbtissin Albine Stimmkultur und sichere Technik. Für die umfangreiche, herausfordernde Partie des Athanaël – eine Paraderolle für jeden Bariton mit dramatischer Anlage – bringt Evez Abdulla die kraftvolle Substanz und die souveräne Reserve mit. Stilistisch bleibt er der Sprache des Verismo verhaftet: Geschmeidiger Glanz ist seine Sache nicht, zumal ein kehligen Beiton und besonders zu Beginn ein gurgelndes Vibrato den freien Glanz des Tons beeinträchtigen.

Das Theater Bonn hat wieder einmal auf ein vernachlässigtes Werk aufmerksam gemacht. Die lange Reihe bemerkenswerter Aufführungen (erinnert sei an Eugen d’Alberts „Der Golem“, Franz Schrekers „Irrelohe“ und „Der ferne Klang“, ein Paul-Hindemith-Triptychon und jüngst Walter Braunfels‘ „Der Traum ein Leben“) setzt sich mit „Thaїs“ erfreulich fort. 2014/15 wird dieser konzeptionelle Faden mit Richard Strauss‘ „Salome“ mit einem Stück des eisernen Repertoires fortgesponnen; doch mit Verdis „Giovanna d’Arco“ und der deutschen Erstaufführung von Julian Andersons „Thebans“ – einer Nacherzählung von Sophokles‘ thebanischen Tragödien – dürfte der Oper Bonn wieder überregionales Interesse sicher sein. Bleibt zu hoffen, dass die Bonner Lokalpolitik auch nach den Kommunalwahlen des 25. Mai erkennt, welchen Schatz sie mit einem solch kreativen Opernhaus in ihren Mauern hütet.




Massenet im Focus (I): „Werther“ nach Frankfurt und Essen nun in Düsseldorf

Seltsames Phänomen: Da gibt es Komponisten oder Werke, die jahrelang kaum auf den Spielplänen auftauchen. Und auf einmal bricht eine Welle los und schwappt reihum über die Bühnen weg. So geht es derzeit mit Jules Massenet.

„Werther“ in Essen, Gera, Frankfurt, Saarbrücken, Weimar; „Manon“ in Krefeld, das sonst kaum gespielte Spätwerk „Don Quichotte“ in Wuppertal, Gelsenkirchen und jetzt Hagen, „Esclarmonde“ als gefeierte Ausgrabung in Dessau, am 18. Mai das noch seltenere exotische Kurtisanendrama „Thaїs“ in Bonn. Und als jüngste Premiere an der Düsseldorfer Rheinoper wieder der Goethe’sche Held, gebettet in den exquisiten französischen Klang zwischen Wagner und Verismo.

Warum das so ist? Wahrscheinlich unerklärbar. Mag sein, dass in den Repertoire-Strichlisten in den Dramaturgiebüros unter „französisch“ eine Lücke war; mag sein, dass sich zufällig gerade jetzt Regisseure, Intendanten oder Kapellmeister – unter die GMD-Stücke zählen Massenets Opern ja nicht – für das Genre interessierten. Zeitgeistig ist jedenfalls nichts identifizierbar, was etwa „Werther“, das parabelhafte Endspiel einer entgrenzten, aber unmöglichen Liebe, ausgerechnet für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts qualifizieren würde. Selten war eine Jugend so weit entfernt vom verzweifelten Enthusiasmus eines Werthers wie heute.

Erinnerungen im Angesicht des Todes: Für "Werther" in Düsseldorf schuf Alfons Flores die Bühne, das Licht in satten Farben richtete Volker Weinhart ein. Foto: Hans Jörg Michel

Erinnerungen im Angesicht des Todes: Für „Werther“ in Düsseldorf schuf Alfons Flores die Bühne, das Licht in satten Farben richtete Volker Weinhart ein. Foto: Hans Jörg Michel

Der andorranische Regisseur Joan Anton Rechi ist dank seiner „Csardasfürstin“ an der Rheinoper kein Unbekannter; unter anderem hat er 2011 in Mainz mit einem grandios durchleuchteten „König Roger“ von Karol Szymanowski auf sich aufmerksam gemacht. Mit „Werther“ stellt er auf die sattfarbenen Bühne von Alfons Flores in das scharf geschnittene Licht von Volker Weinhart ein verhangenes Drama, das am Rand der Irrealität taumelt: Erinnerungen, Halluzinationen und bedrückende Bilder, materialisierte Seelenzustände, die trotz ihrer klaren Durchzeichnung nicht an Naturalismus rühren. Den Beginn markiert keine gemütliche Genreszene, sondern ein Schuss: Werther, in blutrotem Anzug – eines der ausdrucksvoll-beziehungsreichen Kostüme von Sebastian Ellrich –, schießt sich eine Kugel durch den Bauch. Was folgt, ist der „Film“ vor dem Tode, in dem Sterbende ihr Leben vor dem inneren Auge vorbeiziehen sehen.

Quälende Familien-Idylle: Laimonas Pautienius (Albert) und Kataszyna Kuncio (Charlotte). Foto: Hans Jörg Michel

Quälende Familien-Idylle: Laimonas Pautienius (Albert) und Kataszyna Kuncio (Charlotte). Foto: Hans Jörg Michel

Auch in Frankfurt und Essen gab es Bilder, die das Drama des bürgerlichen Sturm und Drang in einen Raum eines Nach-Tristan-Gleichnisses rücken: Wolfgang Gussmann schuf für Willy Deckers sensible Personen-Balance kosmisch erweiterte Räume; Frank Philipp Schlößmann baute in Essen für Carlos Wagners manchmal ziemlich verquere Figuren-Zurichtung ein Puppenhaus, das zertrümmert und aufgebrochen wird.

Einsamkeit am Telefon. Massenets "Werther" in Düsseldorf: Katarzyna Kuncio (Charlotte), Sergej Khomov (Werther). Foto: Hans Jörg Michel

Einsamkeit am Telefon. Massenets „Werther“ in Düsseldorf: Katarzyna Kuncio (Charlotte), Sergej Khomov (Werther). Foto: Hans Jörg Michel

In Düsseldorf erschafft Flores dumpfe Räume in formlos fließenden Linien, in denen sich Zustände materialisieren: Die kahlen Bäume in schrillem Licht lassen schon zu Beginn keinen Zweifel, dass der schüchterne Traum vom Glück unter Alpdruck steht; das großbürgerliche Souper des zweiten Aktes macht mit seiner gewalttätigen Zuspitzung nicht nur die brutale Seite von Alberts Charakter offenbar, sondern denunziert nachhaltig die familiäre Idylle als zwanghaft. Im letzten Akt lässt Rechi Werther und Charlotte nur mehr miteinander telefonieren: ein surreal angehauchtes Bild eines finalen Versuchs der Kommunikation, den Albert mit dem Druck auf die Fernsprechergabel endgültig unterbricht. Damit rückt Rechi Werther in die Richtung eines Depressiven: Neunzig Prozent der Menschen, die sich umzubringen gedenken, tätigen kurz zuvor einen Anruf, erklärt er seinen Einfall im Programmheft.

In Rechis Todesfilm quälen sich auch die Szenen unter depressiver Last, über denen noch ein Schimmer nie erreichten Glücks leuchten könnte. Doch Sergej Khomov ist als Werther nur ein Erinnerungsschatten seiner selbst, mit düster fixiertem Blick und dramatischer Schwere statt flexibler Leichtigkeit in der Stimme. Katarzyna Kuncio als Charlotte ist gefangen zwischen ihrem brutal seine Besitzrechte durchsetzenden Ehemann Albert und den kompromisslos vereinnahmenden Gefühlsstürmen Werthers: Kuncio agiert mit ihrem vollen, slawisch timbrierten Mezzosopran weniger mit finessenreichen Zwischentönen, eher mit dem lodernden Verismo der seelischen Qual. Der einzige Mensch, dem es gelingt, sich in diesem Drama „außen vor“ zu halten, ist Sophie, mit viel Licht in der Stimme gesungen von Alma Sadé.

Laimonas Pautienius reagiert als Albert auf den Schmerz, vernünftig geliebt, aber nicht leidenschaftlich begehrt zu werden, mit offener Aggression – und stimmlich mit einem festen, einfarbigen, für Massenets Musik zu groben Bariton. Auch die Düsseldorfer Symphoniker unter Christoph Altstaedt entscheiden sich im Zweifel für einen handfesten Klang und gegen dynamisch-koloristisches Sfumato. Für den fiebrigen Ton der seelischen Raserei, für den offen brennenden Schmerz bleiben die Farben zu geradlinig kühl.

In der neuen Spielzeit 2014/15 lassen sich die Aalto- und die Rheinopern-Versionen des „Werther“ vergleichen: Die Wiederaufnahme am Theater Duisburg ist am 6. Dezember vorgesehen; ab 29. März 2015 läuft Massenets Oper dann wieder in Düsseldorf. In Essen steht die Wiederaufnahme ab 11. Dezember auf dem Spielplan – gefolgt von nur zwei weiteren Vorstellungen am 27. Dezember und am 7. Februar 2015.




Der Traum zum Tode: Jules Massenets „Don Quichotte“ in Gelsenkirchen

Almuth Herbst und Krzysztof Borysiewicz in Jules Massenets "Don Quichotte" am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Foto: Karl Forster

Almuth Herbst und Krzysztof Borysiewicz in Jules Massenets „Don Quichotte“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Foto: Karl Forster

Jules Massenets „Don Quichotte“ ist kein häufiger Gast auf den Musiktheaterbühnen. Dass er – nach einer Kölner Inszenierung vor zehn Jahren – in zwei Spielzeiten gleich drei Mal in Nordrhein-Westfalen zu sehen ist, darf wohl dem Zufall zugeschrieben werden.

Wuppertal zeigte im Frühjahr eine auf ein subtiles Traumspiel konzentrierte Inszenierung von Jakob Peters-Messer, im Mai 2014 folgt das Theater Hagen, wo Gregor Horres Massenets Alterswerk auf die Bühne bringt. Und jetzt hatte der groteske Ritter, der seit Cervantes‘ Roman nicht mehr aus der Weltliteratur wegzudenken ist, seinen Auftritt in Gelsenkirchen – hier verantwortet von Elisabeth Stöppler.

Die Regisseurin hat sich unter anderem am Musiktheater im Revier die Basis einer Karriere erarbeitet, die sie inzwischen an große Häuser wie die Dresdner Semperoper geführt hat. Nicht zuletzt ihre Arbeit mit Benjamin Britten – zu erinnern ist an die szenische Version des „War Requiem“ 2011 – hat dazu beigetragen. Der „Don Quichotte“ ist ein weiteres Beispiel, wie Stöppler zum Kern eines Werkes vordringt und ihn in ausdrucksstarken Bildern freilegt.

Bei Massenet ist der alternde Adlige nicht der Träger einer idealistischen Erhabenheit und eines weltzersetzenden Humors wie bei Cervantes. Er ist auch nicht der Protagonist einer Komödie, die sich aus verstiegen-bizarrer Fantasie speist. Massenet stellt auf der Basis einer Fin-de-siècle-Tragikomödie von Jacques de Lorraine die Frage nach dem Anteil von Traum und Imagination an der Liebe. Für eine Zeit, die in Rausch und Traum aufregende Welten „hinter“ der physikalisch determinierten Realität entdeckt hat, ein hochaktuelles Thema. Dale Wasserman und Mitch Leigh haben in ihrem tiefsinnigen Musical vom „Mann von La Mancha“ das Thema weitergesponnen und reflektiert, ob nicht das, was gemeinhin als die reale Welt gilt, nicht erst durch den Begriff von der Welt konstituiert wird.

Reales, Imaginäres und Erträumtes verweben sich untrennbar

Elisabeth Stöppler rückt Massenets „Don Quichotte“ in genau diese Richtung: Bei ihr ist Don Quichotte weniger ein „Träumer“ als ein Mensch, in dessen Weltbegriff Reales, Imaginiertes und Erträumtes sich untrennbar verweben. Dazu lässt sie sich von Bühnenbildner Piero Vinciguerra eine hyperrealistische Villa bauen: Küche, Sanitärräume, Wohn- und Schlafzimmer, detailliert eingerichtet. Noch bevor ein Wort fällt, baut Stöppler die szenische Spannung zwischen den Protagonisten auf: Eine Hausangestellte – Dulcinée – reinigt Bad und Toilette, während im Obergeschoss ein alter Herr in seiner Bibliothek versonnen sein Cello streicht. Das Instrument, das ja oft als Symbol des weiblichen Torsos gilt, behält die Funktion als erotische Chiffre in der Inszenierung – ein Zeichen für die Klugheit, mit der Stöppler in ihrer Bildfindung ans Werk geht.

Reales und Imgainäres verschwimmen: Krzysztof Borysiewicz als Don Quichotte. Foto: Karl Forster

Reales und Imgainäres verschwimmen: Krzysztof Borysiewicz als Don Quichotte. Foto: Karl Forster

Don Quichotte hat sich ein wenig in seine Zugehfrau verguckt. An dieser eher banalen Ausgangslage entzündet sich eine romantische Vorstellung. Sie gibt der Welt eine Bedeutungsebene, die am Ende nicht einlösbar ist: Das Gespinst aus Idee und Imagination wird schlagartig zerrissen, als Dulcinée den Heiratsantrag Quichottes brüsk ablehnt: In diesem Moment scheitert nicht nur die Konstellation, aus der die Komödie besteht – die Liebe eines versponnenen alten Mannes zu einer jungen Frau. Sondern, viel tiefer gründend, bedeutet er auch die Vernichtung des Weltbegriffs Don Quichottes. Ein Zusammenbruch, den Stöppler und Vinciguerra mit einer radikalen Reduktion der Bühne bildlich erfassen: Es bleibt nur das Sterbebett im Dunkel. Eine Szene, die über die Gestalt Don Quichottes hinaus in eine allgemeingültige Dimension wächst: Wo die Begriffe ihre gestaltende Kraft verlieren, bleiben nur noch Leerstellen: Der Mensch verliert sein Leben.

Der Weg dahin wird von Figuren flankiert, die zunächst aus der unmittelbaren Lebenswelt des Ritters kommen – seine Familie –, sich dann aber zu einer Galerie von Lebensentwürfen erweitern. Die vorzüglich agierenden Gelsenkirchener Choristen verwandeln sich in Gestalten aus Historie und Fiktion: Superman, Mutter Teresa, Fidel Castro, Fred Astaire, Elvis Presley; den Meister der dämonischen politischen Fantastik Adolf Hitler und den Schöpfer surrealer Welten Salvador Dalí. Stöppler zeigt damit, wie sich die Grenzen von Don Quichottes Weltentwurf immer weiter ins Imaginäre verschieben, aber auch, wie die Fiktion auf die Realität einwirkt – am Beispiel von Menschen, die auf welche Weise auch immer durch ihre Visionen ihre Welt geformt haben. Diese Menagerie der Geschichte ist die große Stunde des Kostümbildners Frank Lichtenberg: der fantastische Realismus seiner Entwürfe balanciert genau auf der Nahtstelle zwischen Tatsächlichkeit und Vorstellung.

Wo endet die Realität - wo beginnt die Imagination? Szene aus "Don Quichotte" mit Almuth Herbst (Dulcinée). Foto: Karl Forster

Wo endet die Realität – wo beginnt die Imagination? Szene aus „Don Quichotte“ mit Almuth Herbst (Dulcinée). Foto: Karl Forster

Wieder einmal bestätigt das Gelsenkirchener Orchester, die Neue Philharmonie Westfalen, dass es mit einem bemerkenswerten Fortschritt in seiner Klangkultur in der Oberliga in Nordrhein-Westfalen mitspielen kann. Dirigent Valtteri Rauhalammi betont nicht so sehr die veristischen Einflüsse in der eklektischen Partitur Massenets, sondern arbeitet die impressionistischen Momente heraus: Klangschattierungen und dynamische Finessen, die eher an Debussy als an Mascagni erinnern. Und er beleuchtet den „Wagnerisme“ Massenets: Momente in der Musik, die an Wagner erinnern, ohne ihn zu imitieren. Der Rang dieses Spätwerks wird hörbar.

Die Solisten auf der Bühne, darstellerisch ebenso gefordert wie musikalisch, bleiben Massenet nichts schuldig. An Stelle des in der Premiere gefeierten Krzysztof Borysiewicz sang Jongmin Lim die Titelpartie nobel zurückhaltend, auf subtile Valeurs mehr achtend als auf den Glanz der großen Töne. Den Mann, der in Don Quichottes Dasein das unlösbare Band mit der banalen Welt des Alltags verkörpert, war Dong-Won Seo: Sein Sancho Pansa, manchmal zu guttural eingefärbt, ließ nachvollziehen, wie sich jemand, der sich zunächst mit dem Vorgegebenen arrangiert, die Schönheit und Kraft einer Vision zu entdecken beginnt.

Almuth Herbst setzte einen vollen, saftigen Mezzo ein, um die Facetten Dulcinées auszudrücken: zuerst arglose Putzfrau, dann Klischeebild der verführerischen Spanierin, schließlich ungewollt verderbliche femme fatale. Berechtigte Begeisterung: Mit diesem „Don Quichotte“ knüpft das Musiktheater im Revier an seine große Tradition wegweisender Inszenierungen an und setzt einen markanten Akzent in der Rhein-Ruhr-Theaterlandschaft.

Massenets „Don Quichotte“ gibt es im Gelsenkirchen noch an sechs Abenden zwischen 28. Dezember und 15. Februar 2014.