Ballonfahrt, Boheme und untröstliche Trauer: Julian Barnes‘ Buch „Lebensstufen“

Der Name der ebenso ruhmreichen wie exzentrischen Schauspielerin Sarah Bernhardt ist Kultursinnigen ja bereits öfter begegnet. Aber wer hat schon von den Herren Burnaby und Tournachon gehört?

Um ein Rätsel gleich zu lösen: Es handelt sich um zwei passionierte Pioniere des Ballonfahrens nach 1860. Noch viel schöner klingt freilich die Bezeichnung Aeronauten. Da spürt man mehr als nur einen Hauch von Zukunft und großem Versprechen.

9783462047271Mit dieser Zeit vormals ungeahnter, allerdings stets gefährdeter Freiheit in luftiger Höhe beginnt Julian Barnes sein Buch „Lebensstufen“, das später in andere Gefilde driften wird.

Am kulturgeschichtlichen Horizont jener Jahre leuchten große Namen auf: Jules Verne, George Sand, Victor Hugo, Odilon Redon und Nadar (alias Felix Tournachon), der nicht nur die frühesten Luftfotografien anfertigte, sondern auch unvergleichliche Porträts der eingangs erwähnten Sarah Bernhardt aufnahm.

Zeit der ungeahnten Freiheit

Da hängt also manches mit manchem zusammen, die Aeronauten etwa mit der Fotografie und den Bohemiens der Zeit, die sich ebenfalls ungeahnte Freiheiten nehmen und gleichsam Gott herausfordern. Das erste von drei Kapiteln trägt denn auch den Titel „Die Sünde der Höhe“…

Der Maler Odilon Redon hatte damals auch schon die Vision einer allmächtigen Überwachung aus den Lüften, als er ein bedrohliches Auge am Himmel schweben ließ. Ein Bild, wie für uns Heutige geschaffen.

Kommen zwei Menschen zusammen, so geschieht oft nichts Nennenswertes, zuweilen aber ändert sich das Gefüge der Welt und man darf die beiden eigentlich nie mehr trennen – so eine Denkfigur von Julian Barnes. Im zweiten Kapitel („Auf ebenen Bahnen“) schildert er die kurze, sehr ungleiche und glücklose Liebesgeschichte zwischen Colonel Fred Burnaby und der Männersammlerin Sarah Bernhardt.

Plötzliche Erschütterung

Damit wären wir also schon im weiten Reich des Zwischenmenschlichen angelangt. Doch geradezu schockhaft beginnt der dritte Teil, welcher da heißt: „Der Verlust der Tiefe“.

Barnes, der bislang über Historisches geläufig und unterhaltsam zu plaudern schien, nimmt auf einmal eine ganz andere Haltung zu den Lesern und somit zur Welt ein: Sein Buch, das zuvor in geschichtlicher Ferne zu schweben schien, allerdings nach und nach dringlicher wurde, ist nun noch weitaus unmittelbarer, ungleich erschütternder. Barnes spricht davon, wie er sich seit dem unendlich schmerzlichen Tod seiner Frau Pat Kavanagh am Leben gehalten hat. Seither gibt es keine „ebenen Bahnen“ mehr…

Julian Barnes war 30 Jahre mit seiner Frau zusammen, von seinen frühen Dreißigern bis ins 63. Lebensjahr. Sie wurde 2008 geradewegs aus dem Leben gerissen, zwischen Diagnose und Tod sind nur 37 Tage verstrichen. Der Autor berichtet von teilweise unbegreiflich läppischen oder fühllosen Reaktion der Mitwelt, auch von Freunden, die es daher nicht mehr sind. Dabei hätte er doch auch sie als verlässliche Zeugen des eigenen (Weiter)-Lebens gebraucht.

Vom Schwinden jeder Gewissheit

Rückbezogen wird der unfassbare Tod auf die vorherigen Ballonfahrt-Episoden. Vom Verlust der Höhen- und Tiefendimension im Dasein ist die übertragene und buchstäbliche Rede, vom Schwinden aller gewohnten Muster und des Sinns, also auch von Selbstmordgedanken.

Eine direkte Notwendigkeit, dies alles mit den frühen Ballonfahrten zu verknüpfen, erschließt sich nicht unbedingt sofort. Doch vielleicht ist gerade dies ein verzweifelter Akt der Sinnfindung und der Konstruktion eines neuen Zusammenhangs, eines Lebensrahmens. Eventuell verbirgt sich da irgendwo eine Art Gleichung, die aufgeht und neue Wege weist.

Julian Barnes erwägt die Möglichkeiten, mit dem Tod des geliebten Menschen – nein, nicht „fertig“ zu werden, aber ihn zu ertragen und trotz allem Quellen der Linderung zu finden, ob nun in der ungeheuren Gefühlshöhe mancher Opern (Glucks „Orpheus und Eurydike“), im Traum oder sonstwo. Oder gar in der Banalität des Sports im Fernsehen. Egal. Jeder Strohhalm wird ergriffen. Doch wer wagt es, von Trost zu reden?

Sex, Liebe und Leid

Die im Titel genannten „Lebensstufen“ (im Original „Levels of Life“) entsprechen laut Barnes den Wendekreisen der Biographie: Zuerst geht es darum, wer schon Sex hatte und wer nicht. Dann geht es um die Erfahrung der Liebe, schließlich um die Erfahrung des Leids.

Tiefen und Untiefen dieses Leids möglichst genau auszuloten – wenn das keine lebenswichtige Aufgabe ist! Und wer weiß: Vielleicht erfasst den Ballonfahrer oder auch den Leidenden ja doch eine Brise, die ihn in andere Breiten trägt?

Julian Barnes: „Lebensstufen“. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 143 Seiten. 16,99 €.




„Das mechanische Corps“ – Technik der Jules-Verne-Romane inspiriert Kunst von heute

Ausstellungsansicht, Ausstellung "Das Mechanische Corps", HMKV i

Die Kiste kann wandern, die Lokomotive fahren; bewegliche Kunst auf den Spuren von Jules Verne (Bild: David Brandt, HMKV im Dortmunder U)

Ein Messingobjekt, das in seiner kardanischen Aufhängung einem Schiffskompaß ähnelt, zeigt muntere Bewegung; ebenso sein Gegenüber, dessen Vorbild nicht so ohne Weiteres zu deuten ist, in dem sich etwas dreht, klassisch geradezu angetrieben von einer Technik, die lineare Schub- und Zugbewegungen einer Treibstange in Rotation überführt.

An der Decke bewegen sich rhyhthmisch die Paddel einer Luft-Galeere, weiter hinten hebt und senkt eine verrottete Nähmaschine in völliger Nutzlosigkeit den Nadelschaft. Mit aufgesetzter, zweckentfremdeter Miniaturskulptur der New Yorker Freiheitsstaue fräst eine Kernbohrmaschine ein Loch in die Museumswand, über Monitore laufen Sequenzen aus Filmen, die den Menschen vor rund 100 Jahren stumm erzählten, wie die Zukunft sein würde. All dies, und noch manches mehr, ist jetzt im Dortmunder U zu sehen.

Wenn man der Unterzeile des Ausstellungstitels glauben darf, wandeln die hier vorgestellten, überwiegend noch recht jungen Künstlerinnen und Künstler „auf den Spuren von Jules Verne“. Als „mechanisches Corps“ werden sie vom Kurator Christoph Tannert bezeichnet, der die Ausstellung zusammen mit dem vestorbenen Peter Lang für das Künstlerhaus Bethanien in Berlin realisierte.

Extraschicht zur Ausstellung "Das Mechanische Corps", HMKV im Do

Bild: Stephanie Brysch, HMKV im Dortmunder U

Die Zukunft wird militärisch

„Das mechanische Corps“ ist auch der Titel der Ausstellung, und natürlich geschieht die Verwendung des eigentlich ja militärischen Begriffes Corps mit Hintersinn. Fortschritt, der utopische zumal, nahm in den Phantasien der Schriftsteller des 19. Jahrhunderts oft paramilitärtische Formen an. Zukünftige Gesellschaftsordnungen fußten auf militärischer Disziplin, Maschinen, mit denen Unmögliches möglich werden könnte – in Sonderheit die Reise zum Mond – waren Kanonen, Granaten, Torpedos und Raketen.

Gleichwohl wäre es vermessen, im Kollektiv der ausstellenden Künstler militärisch-elitäre Trends zu suchen. Der Titel der Ausstellung, anders gesagt, greift ein wenig ins Leere. Am ehesten noch eint die Ausstellenden doch die Freude an der (motorisch generierten) Bewegung, an der Nachvollziehbarkeit mechanischer, uhrwerkhafter, sichtbarer Abläufe.

Zwar ist in unserer Zeit fast alles in Bewegung, die Bewegungen der Maschinen indes sind fast unsichtbar geworden. Was bewegt sich noch in einem Kraftwerk, an einer Elektrolok? Bewegung findet im Alltag vieler Menschen größtenteils virtuell auf dem Computerbildschirm statt, ein unbefriedigender Zustand, der die ausstellenden „Retrofuturisten“ (O-Ton Tannert) beflügelt haben mag.

Ausstellungsansicht, Ausstellung "Das Mechanische Corps", HMKV i

Hier darf die Nähmaschine sein, was sie immer schon war: ein kinetisches Objekt (Foto: David Brandt/ HMKV im Dortmunder U)

Dampf verändert alles

Zudem war die quasi-militärische Organisation der Industriearbeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die die Zukunftsphantasien vieler Autoren prägte, den immer komplexeren Produktionsabläufen geschuldet. Sie ließen sich seinerzeit nur in militärgleich gestalteten Befehlsstrukturen meistern, denn die computergestützte Meß- und Regeltechnik, die heutzutage oft auch Robotern die Arbeit zuteilt und mit ihnen plaudert (Stichwort Industrie 4.0), gab es noch nicht. Leider bleibt dieser Aspekt in der Schau weitgehend unbeachtet.

Aber vielleicht greift das schon zu hoch. Wenn Kurator Tannert die jungen Künstler auf Jules Vernes Spuren wandeln sieht, so auch deshalb, weil dessen Bücher reich bebildert waren und die wunderbar bewegliche Technik des 19. Jahrhunderts so eindrucksvoll in Szene setzten, daß uns das noch heute zu inspirieren vermag.

Neben den Raketen war natürlich der Dampf das Faszinosum jener Zeit, der in immer größeren Kolbenmaschinen mit viel rhythmischer Bewegung arbeitete und die menschliche Zukunft radikaler und ungleich schneller verändern würde als alle Erfindungen zuvor. Auch Reisen, Messen, Berechnen und Beobachten – Letzteres vor allem mit starken Teleskopen – waren andächtige Handlungen in den Illustrationen. Eine sorgfältig zusammengestellte Diaprojektion, übrigens noch mit museumstypischen Karussell-Projektoren und richtigen Dias, zeigt dafür etliche Beispiele.

Florian Mertens, Turbine, 2013, Ausstellung "Das Mechanische Cor

Turbine von Florian Mertens (Foto: David Brandt, HMKV im Dortmunder U)

Steam-Punker lieben es rüschig

Übrigens findet die Science-Fiction-Ästhetik des 19. Jahrhunderts heute ihren jugendkulturellen Ausdruck im düsteren, viktorianisch-rüschigen Steam-Punk, dem einige der Ausstellenden huldigen und der sich als Designvariante in recht kommerziellen Produkten findet, in Armbanduhren im Kapitän-Nemo-Look zum Beispiel oder in hochgradig retromäßigen Computertastaturen mit messingglänzender Registrierkassenoptik. Auch solche Objekte hat Kurator Tannert in die Ausstellung genommen, weil sie das Gesamtbild ergänzen.

Hingegen wirken die kindlich-ungelenken, bunten Bilder von Fluggeräten und Fliegern, die an einer Wand hängen, auf den ersten Blick deplaziert. Sie stammen von Karl Hans Janke, 1909 geboren, 1988 gestorben und bei Wikipedia als Vertreter der „Outsider-Art“ gelistet. Einen Großteil seines Lebens verbrachte er in der Psychiatrie, nachdem man ihm im Krieg Schizophrenie attestiert hatte. Janke hat vor seiner Erkrankung einige patentierte Erfindungen gemacht, sich später an der Konstruktion eines „Schwingenflugzeuges“ erfolglos abgearbeitet. Erfunden hat er bis zuletzt, weshalb man ihm in der Psychiatrie „Erfinderwahn“ bescheinigte. Doch hat er auch zeitlebens den Traum vom Fliegen geträumt, vielleicht, wie verschwommen auch immer, vom Flug in eine bessere Zukunft.

„Das mechanische Corps – Auf den Spuren von Jules Verne“. Hartware Medienkunstverein (HMKV) im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, Dortmund. Bis 12. Juli 2015. Geöffnet Di+Mi+Sa+So 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr. Eintritt 5 €. Katalog des Berliner Künstlerhauses Bethanien 29 €. Infos: www.hmkv.de