Kreativer Kosmos, künstlerischer Klamauk – Martin Kippenberger in der Bonner Bundeskunsthalle

Ohne Titel: Martin Kippenberger (aus der Serie Window Shopping bis 2 Uhr nachts) 1996. Öl auf Leinwand. Private Collection (Bild: © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne/Bundeskunsthalle)

Martin Kippenberger: Ohne Titel (aus der Serie „Window Shopping bis 2 Uhr nachts“), 1996. Öl auf Leinwand. Private Collection (Bild: © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne/Bundeskunsthalle)

Was macht Spiderman im Atelier des Malers? Er könnte einfach als Besucher da sein, er könnte als Superheld eine Versinnbildlichung der Machtfülle des Künstlers sein. Er könnte aber auch, als Spinnenmann eben, Produzent jener „Spinnereien“ sein, die das Werk seines Schöpfers in herausragendem Maße prägen – Ausdruck jenes hoch assoziativen Schaffens Martin Kippenbergers, dem die Bonner Bundeskunsthalle jetzt eine große Werkschau ausrichtet.

Das Spiderman-Atelier Kippenbergers, der 1953 in Dortmund geboren wurde und 1997 viel zu früh in Wien starb, steht gleich am Eingang der Ausstellung mit dem etwas sperrigen Titel „BITTESCHÖN DANKESCHÖN“. 360 Arbeiten sind hier ausgestellt, Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Plakate, Multiples und so weiter, und sollen eine Annäherung an den Künstler ermöglichen, dem fraglos eine gewisse Neigung zum Dadaismus eigen ist, der so recht aber keiner bestimmten Gruppe oder Richtung zugeordnet werden kann.

Ohne Titel (aus der Serie „Das Floß der Medusa“), 1996. Öl auf Leinwand. (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Alles hat er gemacht

Kippenberger hat Fotos gemacht und Holzplatten zu Skulpturen zersägt, er hat wundersam verbogene Straßenlaternen geschlossert und Zäune aufgestellt, Plastikfrösche ans Kreuz genagelt und aus Hotelrechnungen Malgründe gemacht. Er hat, so scheint es, eigentlich alles gemacht, was ihm gerade in den Sinn kam. Vor allem aber war er wohl Maler, wenngleich er eine seiner bekanntesten Bilderserien nicht selbst gemalt hat. „Lieber Maler, male mir“, so der Titel, ließ er nach Fotos von dem Plakatmaler Hans Siebert anfertigen. Und der Betrachter und die Betrachterin mögen nun nachsinnen über den Wert des Originals und darüber, was ein Original ausmacht.

Menschliches Leiden und Niedergang

Im großen Saal im Erdgeschoß der Bundeskunsthalle, wo Kippenberger jetzt ausgestellt ist, dominieren zu Beginn späte Gemälde, von fremder und von eigener Hand geschaffen. Tief beeindruckt der Zyklus „Das Floß der Medusa“, für den Kippenberger das berühmte gleichnamige Gemälde Théodore Géricaults sozusagen thematisch zerlegte, die unterschiedlichen Posen menschlichen Leidens und Niedergangs isolierte. In einem zweiten Schritt stellte er diese Posen für eine Fotoserie nach, die ihrerseits das Ausgangsmaterial für den gemalten Zyklus war und Bilder von einzelnen Körpern, Gliedmaßen, Gesichtern zeigt.

Ohne Titel (aus der Serie „Lieber Maler, male mir“), 1981. Acryl auf Leinwand. (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Die Banane war weg

Große Bilder waren das Resultat von Kippenbergers Beschäftigung mit dem Ei, das er nach eigenem Bekunden zum Thema machte, weil die Banane ja schon von Warhol verwendet worden war. Auch die letzte Serie „Window Shopping bis 2 Uhr nachts“ von 1996 ist mit drei Arbeiten verteten. Es sind wohl eher Schaufensterpuppen, die er da gemalt hat, mit verschwimmenden Rümpfen, einmal auch mit vier Beinen, entfernt an Figuren Francis Bacons erinnernd. Auf den ersten Blick könnte man die Serien der letzten Jahre vergleichsweise glatt und gefällig finden; man könnte sie aber auch in Verbindung sehen mit Kippenbergers schwerer chronischer Erkrankung, als Befassung mit qualvoller Körperlichkeit und Vergehen.

Kippenberger arbeitete „mit großer Schnelligkeit, großem Antrieb und großer Empathie“, so Kuratorin Susanne Kleine. Er beherrschte „die Kunst des Weglassens“, „er vermeidet Wertungen in seiner Kunst, er demokratisiert“.

„Nieder mit der Inflation“ (aus der Serie „Die I.N.P.-Bilder“), 1984. Öl, Silikon auf Leinwand. Private Collection (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Schrebergarten

Kippenberger thematisierte den Schrebergarten als Analogie zum eigenen und anderer Künstler Schaffen, das in dem Kommentar „Kunst ist Schrebergarten“ seines Mitstreiters Michael Krebber einen Ausdruck fand, er bastelte Zimmerkarussells und stopfte eine Galerie mit eigenen Arbeiten buchstäblich zu, um ein skulpturales Pendant zur notorischen „Petersburger Hängung“ zu schaffen, er malte absurde Richtungsschildchen für die Kasseler „Documenta“, er entwarf Aufkleber, die das berühmte „I Love New York“-Motiv variierten bis hin zu „I love Uhu und Pattex“, und so weiter, und so weiter. Es ist ein großes Verdienst der Bonner Ausstellung, die enorme Vielseitigkeit dieses Künstlers deutlich zu machen und eine Ahnung zu geben von der Komplexität seines Schaffens.

Ausstellungsansicht: „Spiderman im Atelier des Künstlers“ (Foto: Peter-Paul Weiler, 2019 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Die Wilden

In seinen multiplen Bezüglichkeiten war Kippenberger nahe an den Großen der Zunft, an Anselm Kiefer, Sigmar Polke, Jörg Immendorff. Ein Originalgemälde Gerhard Richters, der auch damals schon prominent und teuer war, verarbeitete er kurzerhand zu einer Tischplatte. Aber er war eben auch etwas jünger als die westlichen Malerfürsten, was manche Betrachter veranlaßte, Kippenberger den „jungen Wilden“ zuzuschlagen, die in den 80er-, 90er-Jahren von sich reden machten. Auch da paßte er nicht hin, wenngleich einige „Wilde“ zu seinen Freunden zählten.

Person des Künstlers bleibt rätselhaft

Nach Besichtigung der Ausstellung verschwimmt die Person Kippenberger immer noch hinter ihrem Werk. Im hoch assoziativen Geflecht aus alltäglicher Banalität und letzten Menschheitsthemen hat sie sich, unfreiwillig vielleicht, gut versteckt. Oder sollte ihr Versteck ein Gewebe sein? Auch das wäre – rein assoziativ natürlich – eine schöne Erklärung für den Spiderman im Künstleratelier.

  • „Martin Kippenberger – BITTESCHÖN DANKESCHÖN“
  • Bis 16. Februar 2020
  • Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
  • Helmut Kohl-Allee 4, Bon
  • Di+Mi 10-21 Uhr, Do-So 10-19 Uhr, feiertags 10-19 Uhr
  • Eintritt 10.00 EUR
  • www.bundeskunsthalle.de
  • Sehr empfehlenswerter umfangreicher Katalog 49,00 EUR

Nachbemerkung:

Auch wenn er gewiß kein „typischer Dortmunder“ war, seine Heimatverbundenheit niemals an die, beispielsweise, Emil Schumachers heranreichte – die Hartleibigkeit, mit der Dortmunds fraglos berühmtester zeitgenössischer bildender Künstler in der Stadt nicht wahrgenommen wird, ist frappierend. Weil ein Stadtprobst Coersmeier vor neun Jahren die religiösen Gefühle seiner Mitmenschen durch Kippenbergers gekreuzigten Plastikfrosch verletzt sah und dies in einem Brandbrief der Bezirksvertretung West kundtat, ist kein Gäßchen, kein Plätzchen rund um das „U“ nach ihm benannt worden. Und nie gab es in dieser Stadt eine nennenswerte Ausstellung seiner Arbeiten. (Falls ich mit dieser Aussage falsch liegen sollte, bin ich für eine Richtigstellung dankbar.) Dafür aber Pink Floyd, mit einem finanziellen Verlust im zweistelligen Millionenbereich, was aber niemanden aufregt.

Ein anderer Dortmunder, dem Beachtung eher andernorts zuteil wird, ist Norbert Tadeusz (geb. 1940 in Dortmund, gestorben 2011 in Düsseldorf). Späte Großformate von ihm sind noch bis 2. Februar 2020 im Düsseldorfer Museum Kunstpalast zu besichtigen.




„Carmen“ auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova mag’s unterhaltsam im Konzerthaus Dortmund

Flinke Finger auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova ist "Junge Wilde" im Konzerthaus Dortmund. Foto: Phil Tragen

Flinke Finger auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova ist „Junge Wilde“ im Konzerthaus Dortmund. Foto: Phil Tragen

Ksenija Sidorova ist eine Virtuosin auf ihrem Instrument. Die flinken Finger finden sicher ihren Weg – technisches Können paart sich mit großer Leidenschaft. Hinzu kommt ein untrügliches Gespür für eindrucksvolles Klangfarbenspiel. Die Passion der lettischen Solistin gilt dem Akkordeon.

Im Konzerthaus Dortmund hat sie nun als „Junge Wilde“ virtuos für dieses Instrument Partei ergriffen – einerseits, denn andererseits sind die „Carmen“-Arrangements, die sie mit einem fünfköpfigen Ensemble offeriert, heftig ins seichte Unterhaltungsfach abgerutscht. Zu wenig ist das für ein ernst gemeintes „Projekt“, wie sie dieses Konzert selbst beschreibt.

„Junge Wilde“: Das Format, 2006 von Intendant Benedikt Stampa ins Leben gerufen, ist längst zu Publikums Liebling gereift (450 Abos, etwa 1000 Besucher pro Konzert). Es bietet eben jungen Solisten ein Podium, die am Beginn einer internationalen Karriere stehen. Sie dürfen ungewöhnliche Programme im Gepäck haben, oder eben auch, wie Ksenija Sidorova, Instrumente, die nicht gerade zum klassischen Kanon gehören. Die Zuhörer sind allemal dankbar für Überraschungen und besondere Formate. Dass etwa die Solistin den Abend in englischer Sprache moderiert, mag ein Bruch mit den eingefahrenen Regeln des Konzertbetriebs sein. Gleichwohl werden die verbindenden Worte wohlwollend goutiert.

Alles beginnt mit der Malagueña des kubanischen Komponisten Ernesto Lecuona, ein nicht ganz unbekanntes Stück, das schon der Pianist Arcadi Volodos wirkmächtig in die Klaviertasten gegerbt hat. Sidorova setzt indes nicht auf virtuoses Muskelspiel, sondern vielmehr auf kantable wie rhythmische Gestaltung dieses spanischen Volkstanzes. Und präsentiert uns damit gewissermaßen das Rohmaterial dessen, was sich in Georges Bizets „Carmen“ in stilisierter Form wiederfindet. Gegenüberstellungen dieser Art, in stetem Wechsel, wären gewiss reizvoll gewesen. Doch das, was Sidorova und ihre Mitstreiter als Improvisationen benennen, sind überwiegend nur schlappe Potpourris.

Hinzu kommt, dass Alejandro Loguercio (Violine) keinen großen Ton ins Spiel bringen kann, während Michael Abramovich (Klavier) sich oft zu sehr in den Vordergrund musiziert und Reentko Dirks (Gitarre) im Ensemble eher untergeht. Ja selbst das Akkordeon bleibt bisweilen blass. Immerhin setzt Roberto Koch am Bass gewichtige Fundamente, schafft Itamar Doari hier und da perkussiven Klangzauber. Weit besser, authentischer als alle Bizet-Ableitungen klingen ohnehin die eingestreuten Stücke Astor Piazzollas. Sehr atmosphärisch etwa des Komponisten „Café 1920“ für Violine, Akkordeon und Bass.

Insgesamt ein eher unbefriedigender Abend, weil’s richtig wild und rhythmisch zupackend, munter und nachgerade parodistisch erst mit der Zugabe wird: Wenn das Ensemble durch das Torero-Lied aus „Carmen“ jagt, dieser aufgeblasene Opernmacho also gewissermaßen als Schaumschläger dargestellt wird, ist der brausende Beifall des Publikums wirklich verdient.




4. Staffel der „Jungen Wilden“: Konzerthaus Dortmund will neue Klassikwege gehen

PIC PHIL TRAGEN

„Junge Wilde“ mit Akkordeon: Ksenija Sidorova. Foto: Phil Tragen

Die Musik klingt dramatisch, und das verwundert kaum, wenn im Film dazu ein Klarinettist samt Instrument von reißendem Wasser bedrängt wird, wenn ein Sänger einen meterhohen Urwaldbaum erklimmen will, oder eine Akkordeonistin, inklusive Stirnlampe, sich in kalter Höhle wiederfindet. „Klassik geht neue Wege“ ist dieses Kurzvideo überschrieben, die neueste Produktion des Konzerthauses Dortmund, ein Werbetrailer für die nunmehr vierte Staffel der „Jungen Wilden“.

Das Format, 2006 von Intendant Benedikt Stampa ins Leben gerufen, zunächst vom Publikum kritisch beäugt, alsbald aber zu Zuschauers Liebling gereift (450 Abos, etwa 1000 Besucher pro Konzert), bietet eben jungen Solisten ein Podium, die am Beginn einer internationalen Karriere stehen. Das Kriterium des Wilden darf sich dabei gern in mehrfacher Form ausdrücken. Sei es, dass eine Geigerin besonders emotional zur Sache geht, dass ein Pianist seltenes Repertoire pflegt, oder dass überhaupt jemand mit einem, im (kammermusikalischen) Konzertbetrieb eher ungewöhnlichen Instrument auftaucht.

Wie etwa die Lettin Ksenija Sidorova, die sich eben dem Akkordeonspiel verschrieben hat. Sie und ihre sechs Mitstreiter geben sich ab nächster Spielzeit für drei Jahre regelmäßig die Ehre, musizieren, gehen in Dortmunder Schulen und sind bereit für Publikumsgespräche. Die Programmgestaltung ist ihnen weitgehend freigestellt, es muss nicht ausschließlich „Klassik“ sein. Gerade das Akkordeon dürfte für Ausflüge in fremde musikalische Gefilde prädestiniert sein.

Der Klarinettist Andreas Ottensamer (Foto: © Anatol Kotte/Mercury Classics/DG)

Der Klarinettist Andreas Ottensamer (Foto: © Anatol Kotte/Mercury Classics/DG)

Sidorova ist, zumindest in unseren Breiten, ein eher unbekanntes Gesicht. Andere stehen deutlich intensiver im Fokus des Interesses, das gilt etwa für den österreichischen Klarinettisten Andreas Ottensamer, Stimmführer bei den Berliner Philharmonikern, oder für den britischen Pianisten Benjamin Grosvenor, der als jüngster Solist überhaupt 2011 bei den „BBC Proms“ auftrat. Zu ihnen gesellt sich der Usbeke Behzod Abduraimov, dessen „Wildheit“ in Dortmund bereits zu bestaunen war. Während der Prokofjew-Zeitinsel interpretierte der Pianist des Komponisten 3. Klavierkonzert.

Im Fach Violine wiederum stellt sich Nicola Benedetti vor, eine Schottin mit italienischem Namen. Sie will der Musik ihrer Heimat ebenso die Ehre erweisen wie der Bariton Andrè Schuen sich auf seine Wurzeln besinnen will, die in Südtirol liegen. Die Geigerin pflegt zudem die Barockmusik. Jüngster im Bunde der neuen „Jungen Wilden“ ist der 21jährige Cellist Edgar Moreau, geboren in Paris, bereits mehrfach ausgezeichnet, so 2011 beim renommierten Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb.

Das erste Konzert der Reihe gestaltet der Pianist Behzod Abduraimov am 18. September 2015, mit Werken von Schubert, Liszt und Mussorgsky. Abos für das Gesamtformat sind ab sofort erhältlich, Einzelkarten werden vom 15. Juni an verkauft. Der kurze Trailer ist unter https://www.youtube.com/watch?v=66nmqM-WHUs zu sehen.

Weitere Infos unter: www.konzerthaus-dortmund.de

 

 

 




Kunst statt Krieg – großartiger Auftritt der Sopranistin Anna Prohaska in Dortmund

Prohaska 2_2014(c)Holger Hage_DGIm Trailer der „Junge Wilde“-Reihe des Dortmunder Konzerthauses reißt sich Anna Prohaska wutschnaubend die Perlenkette vom Hals. Als wolle sie, sagen wir, in der Gestalt der Donna Elvira dem so geliebten wie verhassten Don Giovanni den Schmuck vor die Füße werfen. Eine Episode, die voller Symbolkraft steckt: Da ist eine Sängerin der unkonventionellen Art, jung und wild eben, die sich in musikalischen Gefilden auch auf abseitigen Pfaden bewegt.

„Das Ende der klassischen Klassik“ propagiert das Konzerthaus damit, und nichts scheint dem besser zu entsprechen, als Anna Prohaskas jüngster Auftritt, ein Liederabend. Denn die Sängerin bricht mit manchen Gesetzen der Aufführungspraxis, findet den Weg heraus aus kammermusikalischer Intimität oder nach innen gerichteter Emotionalität. Sie und ihr großartiger Klavierpartner Eric Schneider beherrschen das Podium gewissermaßen mit offenem Visier und fechten einen Kampf wider den Wahnsinn des Krieges, mit den Mitteln der Kunst.

„Behind the Lines“ ist dieses Konzeptkonzert zum Jahresgedenken an den Ersten Weltkrieg überschrieben, mit ausgewählten Liedern des Barock, der Klassik, Romantik und Moderne. Dabei wird indes nicht nur das Leben und Fühlen abseits der Front (Hinter den Linien) beleuchtet, besser gesagt messerscharf analysiert, vielmehr fällt der Blick oft genug aufs Schlachtfeld selbst. Es wird jubelnd in den Kampf gezogen, herrschen Stolz und Freude wie Schmerz und allertiefster Jammer. Aus Helden werden Gefangene, Vermisste, Begrabene. Der Tod ist immer und überall.

Schneider(c)Peter Adamik

Der Pianist Eric Schneider, Anna Prohaskas fulminanter Mitstreiter. Foto: Peter Adamik

Und Anna Prohaska, deren Stimme stets als Koloratursopran geführt wird, schafft es, jede Nuance wirkungsvoll zu artikulieren, seien es fahle Töne in tiefer Lage, sei es leuchtend hohes Jubeln. Und wenn sie in Hanns Eislers bitterbösem Spottlied „Meine Mutter wird Soldat“ ins glasklirrende Spitzentonregister wechselt, dürfte sich mancher Gänsehauteffekt unmittelbar einstellen. Auf der anderen Seite der Ausdrucksskala steht etwa Gustav Mahlers „Wo die schönen Trompeten blasen“: komponierte Leere, ein sanfter Balladenton, der in weltverlorene Lyrik mündet. Prohaska singt mit weitem Atem und wirkt in diesem Moment wie die personifizierte Einsamkeit.

Wie sich bei dieser Sängerin sowieso alle Emotion in ihrem Gesicht und Habitus wiederfindet. Die Haare hochgesteckt, in eine Art Uniformjacke gekleidet, setzt sie gleichsam das optische Signal, wie sehr ihr diese Dinge am Herzen liegen. Es geht nicht nur um schönen Gesang, sondern um eine Botschaft. Dass sie dabei eine gewisse Androgynität ausstrahlt, changierend etwa zwischen Soldat und daheim gebliebener Geliebter, ist eine weitere, wohl bewusst gesetzte Note. Das hat, nicht zuletzt, auch etwas mit Authentizität zu tun.

Prohaska hütet sich vor Überzeichnung und findet instinktiv in die jeweils geforderte Stilistik. Von sanfter Schönheit ist etwa das Lamento „Ich irre umher wie in der Wildnis“ von Michael Cavendish, im Tonfall eines Madrigals gehalten. Franz Schuberts „Ellens Gesang I“  interpretiert die Sopranistin mit feinem Legato, in höchster Sensibilität, mit aufbrausender Kraft und zuletzt mit fahler Stimme, langsamer werdend, ersterbend. Wolfgang Rihms „Untergang“ wiederum macht deutlich, über welche Vielfalt betörender Farben die Künstlerin verfügt.

Eric Schneider ist ihr in allem ein kongenialer Klavierpartner. Einer, der mit jedem Marschrhythmus, jeder dissonanten Wendung, mit jedem Klagegesang und jeder Modulation als treuer Verbündeter Anna Prohaskas gelten kann. So wird dieses Konzert zu einem der spannendsten Beiträge des Weltkriegsgedenkens, weil hier in uns Kunstempfinden und Intellekt geweckt werden. „Das Ende der klassischen Klassik“ heißt im übrigen auch: keine Zugabe. Weil mit diesem Liederabend in dieser Form alles gesagt ist.




Die Stradivari als Flachbrett: Ray Chen im Konzerthaus Dortmund

Ray Chen 3(c)Chris Dunlop

Ray Chen (24) wurde in Taiwan geboren, wuchs in Australien auf und lebt heute in Amerika (Foto: Chris Dunlop)

Achtung, bitte anschnallen, gleich geht es los. Der zweite Satz von César Francks Violinsonate A-Dur steht bevor. Wild wird es im Konzertflügel brodeln, bevor die Violinstimme hinzu tritt: überstürzt lospreschend wie jemand, der immer gleich zwei oder drei Stufen auf einmal nimmt. Vor Leidenschaft schier taumelnd, wird sich ihr Thema vehement in die dunkelsten Farben der G-Saite wühlen.

Für den Geiger Ray Chen ist damit die Gelegenheit gekommen, als der „Junge Wilde“ hervor zu treten, als den das Konzerthaus Dortmund ihn jetzt präsentiert. Der gleichnamigen Nachwuchsreihe, der er drei Spielzeiten lang verbunden bleiben wird, kann er nun seine Reverenz erweisen.

Erwartungsgemäß geht Chen zur Attacke über. Er versetzt der vor Erregung kurzatmig abgerissenen Melodie scharfe Akzente, versucht seiner Stradivari alles Feuer zu entlocken. Was dabei heraus kommt, klingt hart und überraschend dünn. Der Violinton ist laut, aber ohne Tragkraft, forciert und in der Tiefe farbarm. Die kostbare „Lord Newlands“-Stradivari aus dem Jahr 1702, deren Strahlkraft und Durchsetzungsvermögen Isaac Stern einst rühmte, klingt unter Chens Händen nach einem enttäuschend flachen Stück Fichte. Auf die dramatischen Beleuchtungswechsel in Francks Sonate, auf ihre grüblerischen Abgründe versteht der 24-Jährige Sunnyboy sich nicht. Ihre existenziell gefährdete Fragilität, ihre schillernden Bruchstellen sind bei ihm wie mit einer Teflon-Schicht überzogen. Da bleiben alle Emotionen leicht abwaschbar. Wo Franck uns von der morbiden Schönheit fast verblühter Rosen erzählt, reicht Ray Chen uns einen Strauß mit Plastikblumen.

Auf der heiteren Seite der Musik fühlt sich der in Taiwan geborenen Australier, der am Curtis Institute of Music in Philadelphia ausgebildet wurde, weitaus wohler. In den salonhaft-eleganten Violinstücken von Saint-Saëns kann er seinen jungenhaften Charme spielen lassen, dem Violinton in der Höhe Süße geben und mit fixen Fingern ein Feuerwerk der Virtuosität zünden. Da gibt es fliegende Aufstrich-Staccati zu bestaunen, feine Flageolett-Töne und rasante Läufe, die sich mit größter Beweglichkeit in höchste Höhen schrauben. In zackiger Rhythmik lässt Ray Chen Saint-Saëns‘ „Introduktion und Rondo capriccioso“ tänzeln, zeigt dabei auch Freude an seinem technischen Können. Die effektvollen Piècen kommen geigerisch nahezu blitzsauber daher: Dass Chen als Musiker nicht weit unter die Oberfläche dringt, fällt bei diesen Stücken weniger ins Gewicht.

Nach gründlichem Exerzitium klingt Johann Sebastian Bachs E-Dur-Partita für Violine solo, mit der er den Abend eröffnet. Chen geigt das eröffnende Preludio schlank und klar, mit einem wie aus dem Handgelenk geschüttelten Detaché-Strich in der oberen Bogenhälfte. Er akzentuiert die silberhellen Farben der Tonart und unterstützt diese Tongebung in den Folgesätzen mit sparsamen Vibrato. Sein Timing und sein Rhythmusgefühl sind treffsicher, was besonders der Bourrée zu Gute kommt.

Warum sein Bach-Spiel trotzdem unter einer gewissen Farblosigkeit krankt, wird erst in der Reflexion dieses Werks durch den belgischen Geiger und Komponisten Eugène Ysaye ganz deutlich. Chens Ausdrucksmöglichkeiten sind viel zu begrenzt, um den Dämonen beizukommen, die bei Ysayes zweiter Solo-Sonate mit dem Beinamen „Obsession“ hinter jedem Takt lauern. Die zwanghaft anmutende Verschränkung von Bachs Solo-Partita mit dem mittelalterlichen „Dies irae“-Motiv aus der lateinischen Totenmesse nimmt bei ihm keine überzeugende Form an. Vielmehr ist seine Interpretation unentschlossen und geprägt von willkürlich zerdehnten Tönen, die bedeutungsvoll den Zeigefinger erheben, ohne etwas zu sagen zu haben. An die Stelle einer eigenen Handschrift treten Manierismen. Die Stimmführung zersplittert, der „Tanz der Schatten“ (Danse des ombres) wird zu einer seltsamen Pizzicato-Polka. Vom Kern der Musik ist Ray Chen hier einmal mehr weit entfernt.

__________________________________

Weitere Informationen zur Nachwuchsreihe „Junge Wilde“ im Konzerthaus Dortmund gibt es hier.




Vertrag verlängert: Benedikt Stampa bleibt bis 2018 Intendant des Dortmunder Konzerthauses

Vertragsverlängerung zum Konzerthaus-Jubiläum. Intendant Benedikt Stampa. Foto: Achim Multhaupt

Zehn Jahre alt wird das Konzerthaus Dortmund im September, und rechtzeitig zur anstehenden Jubelfeier sorgt die Stadt für gute Nachrichten. Denn soeben wurde der Vertrag mit Intendant Benedikt Stampa vorzeitig um fünf Jahre verlängert.

Bis 2018 also darf er die Geschicke des Hauses nun leiten. Er habe es seit seinem Amtsantritt 2005/06 durch kluge Programmpolitik und beispielhafte Formate wie „Exklusivkünstler“ (aktuell Esa-Pekka Salonen), „Zeitinsel“-Festivals oder „Junge Wilde“ zum Erfolgsmodell gemacht, heißt es in der offiziellen Begründung.

Das exklusive Popabo, Konzerte mit hochkarätigen Solisten und Orchestern oder kleinen Ensembles, Weltmusik oder konzertante Oper spiegeln zudem eine Erfolgsmixtur wieder, die in ihrer Vielfalt Spannung verheißt, das Publikum neugierig macht. Stampa hat stets betont, dass Klappern zum Handwerk gehört. Will sagen: Ohne eine subtile, ideenreiche, auch freche Werbestrategie wäre das Konzerthaus kaum in der Lage, eine Auslastungsquote von aktuell 70 Prozent zu erreichen.

Frechheit bringt Gewinn: Dass dies nicht nur ein Spruch ist, beweist der Werbefilm über die neue Generation der „Jungen Wilden“ ebenso wie der Schatz an markigen Sätzen, die sich im Programmbuch für die Saison 2012/13 finden. Da werden die Nachwuchssolisten, schon mehr oder weniger berühmt, unter dem Titel „Das Ende der klassischen Klassik“ vorgestellt, da lesen wir als Gesamtmotto „Musik bereichert“.

Binsenweisheit hier, die Neuerfindung des Rades dort? Nehmen wir also die „Jungen Wilden“: die Pianisten Jan Lisiecki und Khatia Buniatishvili, die Geiger Ray Chen und Vilde Frang, die Sopranistin Anna Prohaska, der Cellist Andreas Brantelid sowie Sebastian Manz (Klarinette) werden sich in den nächsten drei Jahren die Konzerthaustür in die Hand geben. Im Werbefilm agieren sie wild bis zum äußersten: Musizieren sich in einen Rausch, der zur Zerstörung der Instrumente führt, während sich die Sängerin die Perlenkette vom Halse reißt.

Derartige Leidenschaft, lautet die Botschaft wohl, ist auch bei den Konzerten zu erwarten (ohne Sachbeschädigung, versteht sich). Und wie steht’s um die Bereicherung mit Musik? Intendant Stampa weiß sehr wohl, dass die Kunst nach Brot geht. Doch Botschaften wie „Ich bin Millionär an Glückshormonen“ oder „Ich spekuliere. Auf Freudentränen“ bedeuten nichts anderes als die Tatsache, dass ein Leben ohne Musik seelenlos ist. Der Kunstgriff, Reizwörter aus der Wirtschaftssprache ästhetisch umzudeuten, ist dabei so originell wie frech. Aber viele mögen denken: So hätte das schon längst mal jemand formulieren müssen, um der Kunst willen.

Gut aufgestellt und ziemlich präsent also darf das Dortmunder Konzerthaus sein Zehnjähriges feiern. Mit vier Gala-Abenden vom 7. bis 10. September. Mit insgesamt etwa 100 Eigenveranstaltungen. Auf dass das geistige Kapital wachse, wie es im Programmbuch steht.

Informationen zur neuen Saison gibt es unter www.konzerthaus-dortmund.de

 




Charisma und Interpretationslust – der Bratscher Antoine Tamestit

Nachdenklich: Antoine Tamestit mit Bratsche. Foto: Eric Larrayadieu

„Ich bin froh, ein junger Wilder zu sein“, sagt Antoine Tamestit. Dahinter steckt natürlich eine gehörige Portion Selbstironie, schließlich ist der französische Bratscher längst zum arrivierten, ausdrucksstarken Künstler gereift, mit Auftritten in aller Welt. Doch das Gastspiel im Dortmunder Konzerthaus, sein letztes in eben jener Reihe „Junge Wilde“, gibt er voller Dankbarkeit, im Bewusstsein, dieses außergewöhnliche Format bereichern zu dürfen.

Die Idee dazu hatten Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa und sein Team vor sechs Jahren: Junge Künstler für drei Spielzeiten ans Haus zu binden, die nicht nur Standardkonzerte geben, sondern außergewöhnliche Programme mitbringen. Die bereit sind, sich dem Publikum zu öffnen: morgens in einer Schulklasse, abends beim offenen Gespräch mit den Zuhörern. Was zaghaft begann, ist inzwischen, kurz vor Ende der 2. Staffel, eine überaus erfolgreiche Veranstaltungsreihe.

Auch Antoine Tamestit, Jahrgang 1979, steht für den Typus junger, unkonventioneller, experimentierfreudiger Solist. Der Bratscher indes war von Beginn an weit mehr als nur ein begnadetes Talent – seine Bühnenpräsenz, gepaart mit einem von der Musik beseelten Bewegungsvokabular, ist Ausdruck intensiver Interpretationslust. Wir sehen ohne Zweifel einen Künstler mit Charisma, keinen virtuosen Blender.

So erfahren wir ihn nun in Dortmund, diesmal als Botschafter seines weitgefächerten Repertoires. Mit dem langjährigen Klavierpartner Markus Hadulla spielt Tamestit Werke von Bach, Brahms und Schostakowitsch. Es ist ein Abend im Geiste der Romantik. Bachs Sonate für Viola da Gamba und Cembalo klingt mit modernem Instrumentarium erheblich verdichtet, Brahms’ Transkription der 1. Klarinettensonate steht für das Wechselspiel seelischer Befindlichkeiten. Und Schostakowitschs Beitrag zu Gattung, kurz vor seinem Tod (1975) komponiert, fällt aus dieser Moderne heraus: Der Russe zieht in schroffer, ätherischer, gespenstisch grotesker Manier die Bilanz seines Lebens. Er bleibt sich und seiner Sprache treu, weitab entfernt von den seriellen Gepflogenheiten der Avantgarde.

Tamestit ist der große Gestalter und Klangfarbengeber. Das mag bei Bach etwas gekünstelt wirken, erweist sich aber in der aufgewühlten, grüblerischen, teils auch verhangen expressiven Brahms-Musik als Glücksfall. Es ist nur schade, dass der Bratscher dem Pianisten dabei immer eine Nasenlänge voraus ist. Erst Schostakowitschs tönender Endzeit verschafft Markus Hadulla wirkmächtige Kontur. Und wenn zum Schluss, offenbar ein wenig mit Material der „Mondscheinsonate“ spielend, die Musik langsam dahinstirbt, noch einmal aufzuckt in einem wehmütigen Bratschensolo, um letzthin im dynamischen Nichts zu entschweben, dann ist das große Kunst.




Was bleibt von der Kunst der 80er Jahre?

„Neue Wilde“, „Junge Wilde“, „Heftige Malerei“ – an Etikettierungen für die Kunst der (frühen) 80er Jahre mangelt es nicht. Nach all dem prinzipiellen Misstrauen gegen Bilder, das die Szene schließlich geradezu gelähmt hatte, brach um 1979/80 eine offenbar lang angestaute Flut hervor. Schon bald gab es machtvolle Manifestationen wie die Großausstellungen „Westkunst“ in den Kölner Messehallen (1981), „Zeitgeist“ im Berliner Gropius-Bau (1982) und die von Rudi Fuchs geleitete documenta (ebenfalls 1982).

Unter dem verkaufsfördernden Motto „Es wird wieder gemalt“ nahm auch der Handel Aufschwung. Positiv gewendet: Die Kunst war also offenbar doch noch nicht tot. Ebenso wenig wie die vordem totgesagte Literatur. Mag immerhin sein, dass man sich für diese neuen Aufbrüche auch naiv (oder gar dumm?) stellen musste, damit es doch wieder einmal weitergehen konnte…

Bielefelds Kunsthallen-Direktor Thomas Kellein erinnert sich an die Jahre, in denen auch seine Museumslaufbahn begonnen hat: Die Nachfrage sei dermaßen angeschwollen, dass die bekanntesten Maler Wartelisten abarbeiteten – oft unverschämt schnell und nachlässig. Zuweilen wurden aus lauter Bilderhunger sozusagen noch feuchte Leinwände erworben. War’s aus jetziger Sicht nur ein folgenloses Feuerwerk, oder hat einiges Bestand? Um es gleich zu sagen: Natürlich gibt es Bleibendes, man muss gewiss keine halbe Generation abschreiben.

Heute scheint das alles unendlich lang her zu sein. Die Museen lassen den Bildermassen jener Jahre kaum noch besondere Aufmerksamkeit angedeihen. Gerade deshalb will sich die Bielefelder Kunsthalle nun einiger Substanzen der 80er vergewissern. „The 80s Revisited“ stützt sich auf die Sammlung des Schweizer Galeristen Bruno Bischofberger. So umfangreich ist deren Fundus, dass er auf zwei Ausstellungen verteilt wird. Jetzt sind erst einmal die Europäer (ergänzt um den Graffiti-Anreger Keith Haring) an der Reihe. 2011 werden die New Yorker Leitfiguren (u. a. Andy Warhol, Julian Schnabel, Jean-Michel Basquiat) folgen. Selbst Warhol kehrte damals von der Factory-Produktion gelegentlich zur herkömmlichen Handarbeit zurück.

Man kann mit Fug von Bilderrausch oder gar Bilderwahn sprechen, wenn man in die 80er zurückblickt. Mit unbekümmertem Furor, zuweilen mit aggressiver Erregung gingen viele Künstler zu Werke. Punk und New Wave auf der Leinwand, wenn man so will. Bloß keine kopflastigen Konzepte mehr. Schrankenlose, oft grelle Subjektivität brach sich Bahn, notfalls roh hingefetzte Handarbeit triumphierte über alles Durchdachte und Geschliffene. Da konnte auch mancher Pfusch mit durchgehen. Hauptsache spontan. Freiheit erwies sich zuweilen als bloße Frechheit. Kein Wunder, dass all dies das Marktgefüge durcheinander brachte, die Szene aufwühlte und spaltete. Nicht wenige Galeristen lehnte die neuen Bilderwelten rundweg ab.

Vor allem Künstler aus Italien und Deutschland zählten zu Vorreitern. Beginnen wir im zweiten Stock der Kunsthalle: Hier bekommt Francesco Clemente einen imposanten Auftritt. Seine dauerhaften Selbstbefragungen und flimmernden Ich-Überblendungen fließen in subtile, innige und zartsinnige Darstellung ein. Er zählt keineswegs zu den bedenkenlosen Tempo-Malern, im Gegenteil: Hier hat sich ein Werk über viele Jahre hinweg konsequent entfaltet. Auch Enzo Cucchi erscheint in diesem Kontext als Schwergewicht. Er findet immens dichte Sinnbilder fürs große Ganze der Existenz, für schreiende Ängste und kommende Katastrophen.

Der Künstlerkreis ums Kölner Gemeinschaftsatelier „Mülheimer Freiheit“ verschrieb sich hingegen anfangs dem fröhlichen Dilettantismus. Doch die einzelnen Maler fanden dann doch ihre je eigenen Wege – und sei’s die des „anything goes“. Paradebeispiele hierfür ist Dokoupil, von dem u. a. Beispiele aus den Serien der Schnuller- und der Ruß-Bilder zu sehen sind. Immer wieder wendet er sich anderen Stilrichtungen zu, er meidet jede persönliche Handschrift, jegliches Markenzeichen. Fast täglich alles anders. Es ist, als deute dies schon voraus auf die schier unendlichen, anonymen Bilderberge im Internet. Schnoddrige Beliebigkeit oder „postmodern“ gewieftes Spiel mit medialen Horizonten?

Rainer Fetting und Salome vertreten die schrille Berliner Richtung. Fetting wird hier als Nachfahre der Expressionisten (Kirchners Badebilder) sichtbar, selbst die spontanste Wallung ist eben nicht voraussetzungslos, sondern fußt auf Tradition. Fetting und vor allem Salome setzen heftige Zeichen einer schwulen Kultur, die hier ein für allemal aus subkulturellen Verstecken ausbricht. Folgt man den Pfaden der Bielefelder Schau, so waren die 80er in der Kunst ohnehin eine weitgehend frauenferne Angelegenheit, was Themen und Protagonisten angeht.

Hinunter ins erste Geschoss der Kunsthalle. Hier finden sich weniger fulminante Statements, jedoch spezielle Positionen von Wegbereitern der beharrlich besessenen Art. Peter Halley wurde nicht müde, mit seinen spröden Gitterbildern die Abstraktion als Gefängnis der Künste zu schildern. Philip Taffee trieb abstrakte und ornamentale Formen derart auf die Spitze, dass sie wie Tapetenmuster erscheinen. Auch bei den vertrackt zitierenden Schöpfungen des Schweizers John Armleder drängt ein grundsätzliches Unbehagen an vorheriger Kunst zum Ausdruck.

Ein hochinteressanter Sonderfall ist die Kunst von David McDermott & Peter McGough, die all ihre Bilder mit (weitgehend von historischen Inhalten losgelösten) Jahreszahlen versehen und selbst ein Leben wie zu viktorianischer Zeit führen. Abschied von der linear fortlaufenden Geschichte, in der man nunmehr willkürlich überall „andocken“ kann.

Mag es aus zeitlichem Abstand auch einige ästhetische Gemeinsamkeiten geben, so zählt doch auch in den 80ern die Stringenz des konkreten Lebenswerks, ja ganz zuletzt kommt es auf das einzelne Bild an, das in den besten Fällen den bloßen „Zeitgeist“ weit übersteigt.

„The 80s Revisited“. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5. Bis 20. Juni 2010. Geöffnet Di-So 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 7 Euro. Katalog (umfasst auch die Exponate des 2011 folgenden zweiten Teils der Ausstellung): In der Kunsthalle 29,90 Euro, im Buchhandel 49,90 Euro.