Was vor sich geht und wie – Jürgen Beckers „Gesammelte Gedichte“

Misslicher Vorfall mit Nachwirkung: Inmitten der Lektüre diesen grandiosen Sammelbandes bin ich erkrankt und habe wochenlang unterbrechen müssen. Ich will das alles nachholen, Stück für Stück. Das ist ja immerhin das Gute daran: Das (Wieder)-Lesen liegt größtenteils noch voraus.

Wir haben hier nichts weniger als ein Lebenswerk in seinem stetigen Fortgang, ein wahres Monument, das freilich keines sein will. Es ragt aus den Zeiten von unvergesslichen Autoren wie Nicolas Born und Rolf Dieter Brinkmann, angloamerikanischern Anregern (W. C. Williams u. a.) oder auch bildenden Künstlern wie Wolf Vostell zu uns herüber, in all seiner Fragmentierung und all seinem angewachsenen  Zusammenhang. Jürgen Beckers „Gesammelte Gedichte“ zählen unbedingt zu den Hauptwerken der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Man möchte geradezu hymnisch werden, doch käme kritiklose Verehrung so gar nicht mit diesen Sprachkunstwerken überein.

Spuren und Fährten finden

Der in jeglichem Sinne umfassende Band enthält sämtliche Gedichtzyklen Jürgen Beckers (geboren am 10. Juli 1932), die seit „Schnee“ (1971) und „Das Ende der Landschaftsmalerei“ (1974) entstanden sind. Das Ganze reicht bis zu „Graugänse über Toronto“ (2017) und „Die Rückkehr der Gewohnheiten“ (2022). Mit Nachwort, erläuternden Texten und diversen Verzeichnissen bringt es das Buch auf 1120 Seiten. Weiter und weiter lesend, kann man sich bald nicht mehr vorstellen, dass auch nur ein einziges Gedicht weniger bedeutsam sei und fehlen dürfe. Jedes gehört hinein, jedes hat seinen Platz. Gar vieles baut aufeinander auf. Was allerdings nicht heißen soll, dass man schon „verstanden“ oder gar durchdrungen hätte. Wie denn auch? Aber man spürt wohl, sofern empfänglich, die errungene Würde des Werks in jeder Faser. Auch wird man immer mehr Spuren und Fährten finden.

Diesen oft genug weit ausgreifenden, mäandernden, dennoch vorsichtig-demutsvoll sich fortsetzenden Sprachschöpfungen ist der Gestus des abgeklärten Feststellens ebenso eigen, wie sie schier Ungreifbares und Flüchtiges dennoch menschenmöglich registrieren. Auch stellt sich solcherlei  Dialektik ein: Das „Private“ scheint durchs wechselhafte Weltgeschehen hindurch, welches wiederum durchs Private blinzelt. Atemberaubend etwa, wie der langjährige Rundfunkredakteur Jürgen Becker (u. a. Leiter der Hörspielabteilung beim Deutschlandfunk) den Nachrichtenstoff mit dem beruflichen Alltag verwebt („Zum Programmschluß die Nationalhymne“). Dabei hat er doch noch die besseren Zeiten des Mediums erlebt…

Vor- und rückwärts durch die Zeit

Beckers Gedichte schließen vieles auf, weit übers wortwörtlich Gesagte hinaus. Lakonische, oft melancholische Sätze in bieg- und schmiegsamer Sprache. Was Sprache überhaupt vermag – und was nicht. Der Moment und die Geschichten, denen stets zu misstrauen ist. Das Unwiederbringliche. Zeitschichten. Sich verändernde Orte und Landschaften. Nüchterne Selbstzitate. Zeile für Zeile einzig, mit größter Sorgfalt herausgearbeitet. Genau hier und genau dies. Immer wieder zeitlich eingefrorene Inbilder wie „Sommer in den Fünfzigern“ oder „Sommer, siebziger Jahre“. Insgesamt das große Journal, die Chronik der laufenden Ereignisse; all die Inventuren, auf dass nichts verloren gehe. Die Anrufung der einfachen Dinge (oft wiederkehrende Signaturen: Pappeln, Forsythien, aber auch anschwellende Verkehrsströme und Klimaanlagen). Leise und doch mit großem Atem verzeichnete Stimmungslagen der ganzen Gesellschaft, Klima-Verläufe in jeder Hinsicht.

Kurzum: ein Buch für Lieblingsplätze in den heimischen Regalen; eines, dessen Fluss man sich getrost  anvertrauen kann.

Jürgen Becker: „Gesammelte Gedichte“. Mit Bildern und Collagen von Rango Bohne und Fotos von Boris Becker (Sohn von Jürgen Becker). Mit einem Nachwort von Marion Poschmann. Suhrkamp Verlag. 1120 Seiten. 78 Euro.

 




Nein, die ausgelutschte Überschrift „Bücher für den Gabentisch“ machen wir aus Prinzip nicht…

Beileibe keine Stapelware, doch stapelbar: die hier vorgestellten Bücher, unterschiedslos aufgetürmt. (Foto: Bernd Berke)

Beileibe keine Stapelware, doch stapelbar: die hier vorgestellten Bücher, unterschiedslos aufgetürmt. (Foto: Bernd Berke)

Das Fest der Bücher naht. Daher hier und jetzt (statt ausführlicher Besprechungen, für die jetzt eh kaum jemand Zeit hat) noch schnell einige adventliche Kurzvorstellungen. Wir beschränken uns ausnahmsweise auf Empfehlungen, „Verrisse“ wird man hier also vergebens suchen. Die gibt’s demnächst wieder. Versprochen. Auf geht’s, zunächst und zuvörderst mit gehobener Belletristik, vorwiegend für versierte Leser(innen):

42488

Jürgen Becker: „Jetzt die Gegend damals“. Journalroman (Suhrkamp, 162 Seiten, 19,95 Euro). Der gebürtige Kölner, Büchner-Preisträger von 2014, verfasst beileibe keine leichten, aber sehr eindringliche Lektüren. Es ist abermals sein Alter ego namens Jörn Winter, mit dessen Hilfe Jürgen Becker auf produktive Halbdistanz zur eigenen Lebensgeschichte geht. Dabei entsteht erneut jene ganz eigene Prosa, die sich still und leise über etwaige Grenzlinien zwischen Erzählung, Lyrik und Tagebuch hinweg bewegt und in diesem ungesicherten Gelände gar manches aufspürt, was sonst unbeachtet geblieben wäre.

Modiano_24908_MR1.indd

Noch ein hochdekorierter Autor und ebenfalls ein (auto)biographischer Impuls: Patrick Modiano erhielt 2014 den Literaturnobelpreis. Sein kurzer Roman, im französischen Original just 2014 erschienen, heißt auf Deutsch „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ (Hanser, 160 Seiten, 18,90 Euro). Die Geschichte beginnt wie ein Krimi. Jean Daragane hat sich in seiner Pariser Wohnung von aller Welt zurückgezogen. Da spürt ihn ein rätselhafter Fremder auf, der einem Mordfall auf der Spur zu sein scheint. So absurd das zunächst anmuten mag, bringt es Daragane doch auf einige längst vergessene Menschen aus seiner Vergangenheit – und auf Schlüsselszenen seines Lebens…

jonfranzen

Jonathan Franzen: „Unschuld“ (Rowohlt, 830 Seiten, 26.95 Euro). Dieser Roman zählt zweifellos zu den Schwergewichten der Saison – in jeglicher Hinsicht. Dass der amerikanische Großautor sich literarisch auch in die DDR und die Zeit des Mauerfalls begibt, darf wahrlich als (riskante) Besonderheit gelten. Zwischen Stasi, Internet und Mutter-Tochter-Drama reißt Franzen ungemein viele Themen und Thesen an, allein die Recherche-Arbeit muss äußerst mühevoll gewesen sein, von der Bändigung des schier ausufernden Materials ganz zu schweigen. Dass der Roman sich freilich weit über thematische Vorgaben erhebt, hat man von diesem Autor nicht anders erwartet. Er wirft Schuldfragen in vielerlei Gestalt auf. Ein souverän konstruiertes Buch, das weite Bögen schlägt und einen lange beschäftigt – nicht nur wegen der Seitenzahl.

vladimir-sorokin-telluria

Vladimir Sorokin „Telluria“ (Kiepenheuer & Witsch, 414 Seiten, 22,99 Euro). Eurasien Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Welt, wie wir sie noch zu kennen glauben, ist zerfallen, zwischen Hochtechnologie und Archaik schildert der russische Schriftsteller in staunenswerter Formen- und Stilvielfalt eine (um das Modewort dieser Jahre zu verwenden) grandiose Dystopie, also eine ins negative gewendete Utopie. Im Zentrum der verwirrend unschönen neuen Welt steht eine Glücksdroge, die zu Nägeln verarbeitet und den Menschen in den Kopf gehämmert wird. Und so nennt sich denn auch das achtköpfige (!) Übersetzerteam selbstironisch „Kollektiv Hammer und Nagel“. Ein wahnwitziger Roman in 50 äußerst disparaten Kapiteln.

franzhohler

Franz Hohler „Ein Feuer im Garten“ (Luchterhand, 128 Seiten, 17,99 Euro). Kurze Erzählungen, die mit wunderbarer Leichtigkeit daherkommen. Abenteuer und Überraschungen wohnen hier gleich nebenan und werden bestaunt wie in Kindertagen. Man kann das nicht schnöde nacherzählen, man muss halt lesen, wie unprätentiös und zugleich virtuos Franz Hohler das gemacht hat.

räusper

Max Goldt „Räusper“ (Rowohlt Berlin, 172 Seiten, 19,95 Euro). Der Titel deutet auf Comics hin. Und tatsächlich: Unter dem Label „Katz & Goldt“ sind in den letzten Jahren herrlich abgedrehte Comics entstanden. Hier lesen wir das, was die Figuren in den Strips sagen, ohne jegliche Bildbegleitung – quasi als Minidramen mit oft abstrusen Dialogen, allerdings gegenüber dem Originaltexten vielfach abgewandelt, denn Mediengrenzen lassen sich nicht einfach mal so überspringen. Die Resultate sind oft verdammt lustig – und doch: Man vermisst die eigentlich zugehörigen Zeichnungen hin und wieder schmerzlich. Mögen Germanistik-Doktoranden dereinst ermitteln, was die reinen Texte an Qualität hinzugewinnen – und um welchen Preis.

Nun noch ein paar Sachbuch-Hinweise:

17642

So vielfältig kann man sich (aus)bilden: Erwin Seitz war zunächst gelernter Metzger und Koch, dann studierte er Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Er ist also prädestiniert, um die „Kunst der Gastlichkeit“ (Insel Verlag Berlin, 252 Seiten, 22,95 Euro) in Geschichte und Gegenwart aufzublättern. Seitz richtet sein Augenmerk in 22 Kapiteln auf die Entwicklung der Gastlichkeit in Deutschland und somit auf (allzeit brüchige) Kultivierung und Zivilisierung der Menschen, die in den hiesigen Landstrichen gelebt haben. Diese besondere Sittengeschichte zeichnet vielerlei Einflüsse nach, die hier nach und nach auf ganz spezielle Weise zusammengekommen sind. Das Spektrum reicht von klösterlicher Gastfreundschaft über Staatsbankette, bürgerliche Verfeinerung, Menüwahl und Tischsitten bis hin zur Kunst des Tischgesprächs. Ein Buch, das seinerseits zum Tischgespräch werden sollte.

15_659_klartext-Cover_Stulle_Aufriss_164x246_180915.indd

Basis des Buches „Stulle mit Margarine und Zucker“ (Klartext Verlag, 172 Seiten, 13,95 Euro) sind persönliche Erinnerungen, überwiegend von älteren Ruhrgebietsbewohnern. Vor allem geht es um Kindheit und Jugend im Revier – vom Bombenkrieg bis hin zum Strukturwandel der 70er und 80er Jahre. Damit nicht alles gar zu uferlos mäandert, haben die Historikerinnen Susanne Abeck und Uta C. Schmidt die vielfältigen Erinnerungen sortiert, geordnet und zueinander in Beziehung gesetzt. So kristallisieren sich einige lebensweltliche Erscheinungen heraus, die auch für den allmählichen Mentalitätswandel im Ruhrgebiet stehen. Ein Zeitzeichen unter vielen: Etwa seit den 70er Jahren musste das Lehrlingsgehalt nicht mehr zu Hause abgegeben werden. Kindheit im Revier hatte für lange Zeit ihre Konstanten, war jedoch auf Dauer auch wandelbar. Prägnante Schwarzweißbilder, ein Glossar, ein ausführliches Nachwort und Literaturhinweise runden den Band ab.

Botanikfuer

Der ausgesprochen liebevoll gestaltete und illustrierte Band „Botanik für Gärtner“ (DuMont, 224 Seiten, 29,99 Euro) gibt mit mehr als 3000 Stichworten Auskunft über wissenswerte Hintergründe des Metiers. Das aus dem englischen übersetzte Buch von Geoff Hodge ist jedoch nicht alphabetisch aufgebaut, sondern kapitelweise, so dass man sich auch über längere Strecken ein- und festlesen kann. Hier erhält man eben nicht nur Gärtnertipps, sondern erfährt eine Menge über die Grundlagen pflanzlichen Lebens überhaupt, über die Systematik des Pflanzenreichs, Formen des Wachstums, Fortpflanzung, Schädlinge, Krankheiten – und über die Sinneswahrnehmungen der Pflanzen. Ergänzend werden zudem einige berühmte Botaniker und botanische Illustratoren vorgestellt. Grüner geht’s nimmer.

gartenjahr

Mehr für die tägliche praktische Arbeit zwischen Bäumen, Beeten, Sträuchern, Stauden und Hecken gedacht ist „Das Gartenjahr“ (Verlag Dorling Kindersley, 352 Seiten, 19,95 Euro). Der Untertitel weist schon die Richtung: „Die richtige Planung Monat für Monat“. Genau so ist das im besten Sinne übersichtliche wie reichhaltige Buch auch strukturiert – von Januar bis Dezember gibt es nützliche Hinweise, ausgerichtet an den jahreszeitlichen Erfordernissen. Sodann schließt sich noch ein kleines Pflanzenlexikon an. Das Buch von Ian Spence wurde im englischen Original von der „Royal Horticultural Society“ herausgebracht. Es dürfte auf diesem Gebiet schwerlich eine bessere Empfehlung geben.

welten-der-romantik-132163340

Zum guten Schluss ein Kunstbildband: „Welten der Romantik“ (Hatje Cantz, 304 Seiten Großformat, zahlreiche Abb., 45 Euro) gehört als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Wiener Albertina (noch bis zum 28. Februar 2016). Ein opulent illustriertes Buch zum Schwelgen, das seine Tiefenschärfe dadurch gewinnt, dass – grob gesprochen – die protestantische Romantik des Nordens der katholischen Romantik des Südens gegenüber gestellt wird. Ein schlüssiger und vilefach fruchtbarer Ansatz.




So macht Lernen Freude: Mit Jürgen Becker kreuz und quer durch die Kunstgeschichte

Solch einen Lehrer hätte man sicherlich gern gehabt: Der Kölner Kabarettist Jürgen Becker verabreicht selbst schwierige Lektionen auf eine Weise, dass man unentwegt lacht – und gar nicht merkt, dass man unterwegs eine Menge gelernt hat; so auch in seinem Programm „Der Künstler ist anwesend“, das jetzt noch einmal bei 3Sat zu sehen war.

Es handelt sich um einen höchst unterhaltsamen Streifzug durch die Kunstgeschichte, der von der vorzeitlichen Höhlenmalerei in Lascaux bis zu Joseph Beuys führt. Am allerliebsten hält sich Jürgen Becker bei den Passagen auf, in die das Religiöse hineinspielt, denn da ist er wahrlich Fachmann.

Mal züchtig und mal splitternackt

Es kommt keine Minute Langeweile auf. Das Spektrum der 90-minüten Vortrags ist ungemein breit, es reicht von den Lackaffen, die man bei Galerie-Vernissagen antreffen kann, über Beziehungen zwischen ägyptischer, griechischer und altrömischer Kunst, bis hin zu Gerhard Richters umstrittenen Kirchenfenstern für den Kölner Dom.

Streifzug durch die Kunsthistorie: Kabarettist Jürgen Becker (© WDR/ZDF/Annika Fußwinkel)

Streifzug durch die Kunsthistorie: Kabarettist Jürgen Becker (© WDR/ZDF/Annika Fußwinkel)

Der vergnügliche Parforceritt führt kreuz und quer durch alle weiteren Epochen und Wechselfälle. Eine Leitlinie gibt zum Beispiel die Frage vor, wann sich die Kunst züchtig verhüllte und wann sie in Nacktheit schwelgte. Wie Becker etwas vom Wesenskern der Gotik oder des Barock in wenigen markanten Sätzen skizziert, das ist jedenfalls aller Ehren wert.

Keine Angst vor Kalauern

Ganz wie die großen Künstler oft das Höchste und das Alltäglichste erhellend kontrastiert haben, so lässt auch Becker gern die Luft aus allem allzu Aufgeblasenen und Erhabenen heraus, wobei er den einen oder anderen Kalauer keineswegs scheut. Lassen sich Bezüge zwischen hehrer Hochkultur und – zum Beispiel – den rheinischen Institutionen Karneval, „De Höhner“, Trude Herr oder dem 1. FC Köln herstellen, so wird nicht lange gefackelt. Nicht jeder Wortwitz ist subtil, doch einem wie Becker kann man kleine Fehlgriffe nicht krumm nehmen.

Jürgen Becker zählt als Kabarettist keineswegs zu den „harten Hunden“ der unerbittlichen Fundamentalkritik. Gerne lässt er fünfe gerade sein und auch schon mal menschliche Milde walten. Doch gar manche seiner Spitzen treffen sanft, aber wirksam ins Mark.

Die Wahrheit über die röhrenden Hirsche

Immer wieder schwenkt die Kamera der WDR-Produktion ins Publikum. Da sieht man nicht nur köstlich amüsierte Mienen, sondern auch Leute, die Becker geradezu atemlos wissbegierig folgen. Kein Wunder, erklärt er doch beispielsweise endlich einmal, was die millionenfach reproduzierten Bilder von röhrenden Hirschen wirklich zu bedeuten haben (es hat, ganz vornehm gesprochen, mit Arterhaltung zu tun).

Inzwischen ist die Szene längst höchst unübersichtlich geworden. Wer sagt uns denn, dass der Feuerlöscher an der Museumswand nicht auch wieder ein Kunstwerk sein soll? Doch ganz zum Schluss löst Jürgen Becker auf kölsche Weise sogar die knifflige Frage, was denn eigentlich Kunst sei. In der Stadt mit der weltgrößten Kunstspedition namens Hasenkamp kann die Antwort wohl nur so lauten: „Kunst ist alles, was von Hasenkamp transportiert wird…“

______________________________________________________________

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Kann man Erdbeeren schälen? – Jürgen Beckers Buch „Im Radio das Meer“

Dieses Buch sollte besonders langsam und sorgsam gelesen werden. Jeder Satz will hier für sich stehen, als Fragment besehen werden – und sodann im größeren Ganzen. Jürgen Becker gibt seinem neuen Buch „Im Radio das Meer“ als Untertitel abermals eine Art Gattungsbezeichnung mit auf den Weg: „Journalsätze“.

Rückblick: 2003 war „Schnee in den Ardennen“ als „Journalroman“ erschienen, 2006 haben sich „Die folgenden Seiten“ als „Journalgeschichten“ angeschlossen. Roman – Geschichten – Sätze. Es mutet fast an wie Tucholskys berühmte Stufenleiter „Sprechen – Schreiben – Schweigen“. In Dreijahresschritten hat sich also die Form (bzw. ihre Bezeichnung) zusehends konzentriert, verkürzt.

Wenigstens zwei Möglichkeiten liegen nahe: Der Stoff kommt immer gedrängter und damit vielleicht wesentlicher daher. Oder er schnurrt allmählich auf eine Schwundstufe zusammen, als stünde der Autor kurz vor dem Verstummen. Solche Phasen hat es im Werk des Jürgen Becker tatsächlich schon gegeben. Doch in einem Lebenswerk, das mit feinstens justiertem sprachlichen Instrumentarium und bewundernswerter Konsequenz Bewusstseins-Felder erkundet, hat er immer wieder zu neuen Kräften gefunden.

Um den Duktus des (in drei Journal-.„Hefte“ unterteilten) Buches zu vergegenwärtigen, muss man eine Passage zitieren. An beliebiger Stelle per Zufall aufgeschlagen, auf Seite 116, liest sich das so:

„Wir rufen an. Ihr seid nicht da.

Im Traum zwei Köpfe Blumenkohl, riesig wie Wolken.

Samstags geht man in den Garten, sitzt unterm Sonnenschirm und liest die Wochenendbeilagen.

Ein Stück Schulkreide gefunden, ein altes Stück.

Zwischen den Rapsfeldern steht ein gelbes Haus.

Erst sah es wie ein Komma an der falschen Stelle aus. Dann, als es sich bewegte, sah man, dass es ein weinziges Krabbeltier war.“

Was lesen wir: Historische, biographische und gegenwärtige Splitter? Bruchstücke eines in kleinste Bestandteile zerlegten Daseins? Hochverdichtete Essenzen? Hie und da durchsetzt mit Banalitäten, die bis ins Absurde ausfransen? Lakonische Alltagsbefunde? Gar Literatur nach Twitter-Art? Übungssätze für dieses oder ein anderes Leben?

Man könnte noch einige weitere Mutmaßungen anstellen und träfe den Kern doch nicht. Dies und das steckt sicherlich mit drinnen, doch das Ganze entzieht sich, es ist ist nur sehr schwer auf ein paar Begriffe zu bringen. Dies ist ja nachgerade ein Thema des Buchs: Was wissen wir überhaupt? Nicht viel. Oft können wir nur vorsichtig nach etwas tasten. Eben dies führt der Text vor. Und jeder Satz dieser Inventur könnte einen betreffen.

Man ist versucht, eine Rezension gleichfalls in lauter einzelnen, isolierten Sätzen zu schreiben. Um sich etwas anzuverwandeln. Doch das wäre wohl anmaßende Mimikry.

Erst auf längere Strecken erschließt sich der spröde Charakter, ja der Zauber dieses Buches. Themen klingen an, sie vergehen sanft oder abrupt, dann wird vielleicht irgendwann wieder angeknüpft, zuweilen kontrapunktisch. Es ist eine quasi-musikalische Verfahrensweise der „Komposition“.

Übrigens endet jedes der drei „Hefte“, indem ein Konzert mit drei Orchestern und drei Dirigenten erwähnt wird: Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Bruno Maderna. Auch solche Hinweise bahnen Pfade durch den vielgestaltigen Text. In diesem Falle sind es Anspielungen (*** siehe Fußnote) auf serielle Musik – und damit auch auf Bauplan und Struktur dieses Textes.

Ein und derselbe Sachverhalt kann dabei plötzlich aus ganz anderer Perspektive betrachtet werden, was wiederum an die Lichtwechsel beim Herumgehen um eine Skulptur erinnert. Immer wieder andere, flirrende Ansichten. Auch Leerstellen und Sinnlücken tun sich auf, es gibt ungeahnte Widersprüche, Anlässe zum Missverständnis. Etliche Fallstricke der Sprache. Verblüffende Vergleiche und solche Feststellungen, beinahe aphoristisch: „Wenn man nur drei Pilzarten kennt, sammelt man nicht vier.“ Kindliche Fragen: „Kann man Erdbeeren schälen?“ Oder Erkenntnisse von diesem Schlage: „Einmal sagte der Schreiner, Schrauben kann man nageln, Nägel aber nicht schrauben.“

Im Textverlauf betrachtet, erhält ein unscheinbarer Satz wie „Schieß doch, schieß doch endlich“ doppelten Boden und grausamen Nebensinn. Fußball kann gemeint sein, doch auch Krieg oder anderweitige Gewalt. Beide Lesarten haben Vorläufer-Sätze, die jeweils darauf hindeuten. Und ein Satz wie der folgende weist geradezu ins Bodenlose: „Als nach dem Krieg die Schule wieder anfing, sagten die Lehrer Guten Morgen.“

Nach vielen Aussagen, die man zur Kenntnis genommen hat, die einen vielleicht sogar eingelullt haben, steht auf einmal diese: „Bei uns in der Nachbarschaft gab es keinen, den man abgeholt hatte.“ Die wenigen Worte reißen unvermittelt einen historischen Horizont auf. Nachträglich verwandeln sie, was vorher da gestanden hat. Und erst recht das folgende.

Nach und nach erkennt man einige Themenfelder in leichten Abwandlungen wieder. Man könnte versuchen, sie zusammensetzen, als wär’s ein Krimi-Puzzle, doch auch daraus ergäbe sich keine Lösung, sondern bleibende Irritation übers Diffuse: Ein Tankwart äußert sich häufig. Ein Geländewagen kommt immer wieder vor. Grenzland an der Elbe. Kriegszustände. Offiziere. Rauchen. Ein Angler. Telefone und Zeitungen. All das ruft Bilder, Spuren, innere Bewegung hervor, aber keine Schlüssigkeit. Darum geht es ja auch nicht.

Unterwegs in solcher kleinteiligen Lektüre, spürt man stets das Vergehen der Zeit, gerade weil die Geschehnisse so fein zerstäubt sind. Wehmut über das, was man nicht auf- und festhalten kann, zugleich die immerwährende Chance zum Neubeginn: „Ein Bahnhof kommt in jedem Lebenslauf vor.“ Und noch eine zeitliche Gewissheit: „Leute von Gestern. Morgen gehört man dazu.“

Der Autor verschwindet nahezu hinter den zahllosen Sätzen, die er vorgefunden und gesammelt zu haben scheint. Doch er hat das Sprachmaterial sorgfältig zergliedert, sortiert, arrangiert (und sei’s hin und wieder auch mit Hilfe des Zufalls). Steht die Reihung des Textes für ein „So-und-nicht-anders“? Wohl kaum. Es ist keine Bescheidwisser-Prosa, sondern eine permanente Suche nach möglichen Standorten, Widerspruch allzeit inbegriffen.

Man ahnt: Ein solches Buch kann keinesfalls nebenher, sondern nur auf der Grundlage eines über lange Zeit entfalteten Werks verfasst werden, aus dessen Fundus es schöpft. Das mag am liebsten von jemandem lesen, zu dem man in vielen Jahren der Lektüre ein Grundvertrauen gefasst hat. Beispielsweise von Jürgen Becker.

Jürgen Becker: „Im Radio das Meer – Journalsätze“. Suhrkamp Verlag. 245 Seiten. 19,80 Euro.

*** Es handelt sich um die Erstaufführung der Stockhausen-Komposition „Gruppen“, an der im März 1958 in Köln-Deutz drei Orchester mit besagten Dirigenten mitgewirkt haben.

INFOS

Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren, er wuchs in Thüringen und im Harz auf. 1950 Rückkehr nach Köln. Er war u. a. als WDR-Mitarbeiter, Lektor bei Rowohlt und Suhrkamp sowie in der Hörspielredaktion des Deutschlandfunks tätig. Seit 1968 freier Schriftsteller. Vorwiegend lyrische Arbeiten und Mischformen zwischen Prosa und Gedicht.

Werkauswahl: „Felder“ (1964), „Ränder“ (1968), „Schnee“ (Gedichte, 1971), „Das Ende der Landschaftsmalerei“ (Gedichte, 1974), „Erzählen bis Ostende“ (1981), „Odenthals Küste“ (Gedichte, 1986), „Foxtrott im Erfurter Stadion“ (Gedichte, 1993), „Journal der Wiederholungen“ (Gedichte, 1999), „Dorfrand mit Tankstelle“ (Gedichte, 2007).