Satire ohne Biss: Paul Linckes Milljöh-Operette „Frau Luna“ in Mönchengladbach

Das Mondvolk wundert sich über die Berliner Erdenbürger. Szene aus der Neuinszenierung von Paul Linckes "Frau Luna" am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Das Mondvolk wundert sich über die Berliner Erdenbürger. Szene aus der Neuinszenierung von Paul Linckes „Frau Luna“ am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Kein Zweifel: Die Panneckes und Pusebachs sind in der Jetztzeit angekommen. Die wilhelminische Nostalgie des alten „Spree-Athen“ von Paul Linckes unsterblichem Operettenschlager „Frau Luna“ schrumpft in der neuen Inszenierung am Theater Krefeld-Mönchengladbach auf eine hübsch auf alt getrimmte Kneipe. Im Hintergrund aber recken sich die endlosen Fensterreihen und Satellitenschüsseln Berliner Hochhaussiedlungen. Das „Milljöh“ von damals, das sind heute die Hartzer, Kleinrentner und zwischen fehlendem Schulabschluss und aussichtloser Stellensuche gestrandeten Jugendlichen.

Regisseur Ansgar Weigner hat gemeinsam mit Carsten Süß den Text von Heinz Bolten-Baeckers für seine Sicht auf „Frau Luna“ gründlich revidiert. Fritz Steppke, der pfiffige Berliner Mechaniker, baut keinen Mondballon mehr; die Technik-Begeisterung von 1899 ist der Frage nach einer politischen Option gewichen: Steppke hat eine idealistische Bewegung für „Jerechtigkeit (!) und Liebe zwischen den Menschen“ gegründet. Hat er damit eine Chance? Gibt es so etwas wie eine gesellschaftliche Teilhabe für diese Operetten-Unterschicht?

Die Antwort ist dieselbe wie 1899: Schlösser, die im Monde liegen, bringen Kummer, und um im Glück sich einzurichten, hat man auf der Erde Platz – sprich, im Kuschelbett mit seinem Mädchen.

Ein bisschen Alt-Berliner Idylle gehört dazu: Steppke (Markus Heinrich) doziert politische Ideen; Frau Pusebach (Kerstin Brix) trauert dagegen ihrem verflossenen "Theophil" nach. Foto: Matthias Stutte

Ein bisschen Alt-Berliner Idylle gehört dazu: Steppke (Markus Heinrich) doziert politische Ideen; Frau Pusebach (Kerstin Brix) trauert dagegen ihrem verflossenen „Theophil“ nach. Foto: Matthias Stutte

Das ist die gründerzeitliche Stillhalte-Botschaft, die Linckes Operette wohl schon 1899 – und nicht erst in der opulenten Revue-Fassung von 1922 – verbreitet hat. Für den Kleinbürger der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg gehörte es sich einfach nicht, nach glamourösen Sphären zu streben. Er sollte brav und bescheiden in Laube, Werkstatt und möbliertem Zimmer hausen. Dort ist es am schönsten, so redet Madame Operette dem einfachen Manne ein, der sich an ihrem musikalischen Busen, damals im Apollo-Garten, für zwei Stündchen burlesk und phantastisch der harten Realität der expandierenden Reichshauptstadt Berlin entheben ließ.

Und heute? Bei Weigner klingt das so: „Inne Politik jehn, so wat macht ma nich, so wat träumt ma höchstens“. Eine seltsame Botschaft in einer entwickelten Demokratie. Seine Operetten-Moral am Ende lautet: Der Kiez ist unsere Welt. Und die sollen wir in Ordnung halten durch individuelles Engagement. Jeder, so gut er kann.

Das ist wohl eine ehrenwerte, aber ziemlich unpolitisch gedachte Individualmoral. Ein Rückzug vor den Herausforderungen der globalisierten Welt. Spielplatz aufräumen statt TTIP bekämpfen. Nicht unbedingt eine adäquate Reaktion auf das tatsächlichen Problem in Deutschland, dass gesellschaftliche Schichten immer undurchlässiger werden. Die Operette war stets ambivalent: Sie bestätigte den Status ihrer Zuschauer, hebelte ihn aber auch lustvoll satirisch aus. In dieser „Frau Luna“ im Theater in Rheydt blieb die – angezielte – Satire freilich ohne Biss.

Aufbruch für Jerechtigkeit und Liebe: Steppke (Mitte: Markus Heinrich) mit seinen Kumpanen Lämmermeier (links: Rafael Bruck) und Pannecke (rechts: Hayk Dèinyan). Foto: Matthias Stutte

Aufbruch für Jerechtigkeit und Liebe: Steppke (Mitte: Markus Heinrich) mit seinen Kumpanen Lämmermeier (links: Rafael Bruck) und Pannecke (rechts: Hayk Dèinyan). Foto: Matthias Stutte

Aus der mit freundlich eingefärbten Betonfertigbauteilen tapezierten Bühne von Jürgen Kirner träumt sich Steppke in eine „Mond“-Welt, eine Mischung aus Raumschiff Orion und Bundeskanzleramt. Die Erdkugel entschwebt zum Ohrwurm des „Glühwürmchen“-Idylls; sichtbar werden die Reichstagskuppel und ein Rudel futuristischer Putzfeen mit Staubwedel und Stirnlicht.

Doch Weltraum-Fantasy ist nicht angezielt, sondern eher Neureichen-Avantgarde. Die opulente Freitreppe signalisiert: Hier läuft die Show. Und was „da oben“ gespielt wird, um „den Wähler“ klein zu halten, ist nicht mehr als hohle Polit-Inszenierung. Allen voran Frau Luna als Übermutti in einem hemmungslos übersteigerten Gold-Kostüm von Marlis Knoblauch, dazu die weißen Roben, Fräcke und Uniformen wie aus der alten Fernseh-Samstagabendrevue. Und ein grotesker, sechsarmiger Theophil, der Allround-Manager des lunaren Tollhauses, bei Matthias Wippich gut aufgehoben – so ganz ohne fantastische Elemente kommt selbst Weigners Konzept nicht aus.

Im wahrsten Sinn des Wortes übergriffig: Matthias Wippich alias Theophil versucht der fixen Stella (Gabriela Kuhn) habhaft zu werden. Foto: Matthias Stutte

Im wahrsten Sinn des Wortes übergriffig: Matthias Wippich alias Theophil versucht der fixen Stella (Gabriela Kuhn) habhaft zu werden. Foto: Matthias Stutte

Das ist alles hübsch anzuschauen, doch weder der Satire noch dem Humor besonders förderlich. Selbst eine Frau Venus – Amelie Müller in koketten rosa Dessous – agiert zu betulich, um den braven Erdenbürgern den Herzschlag erotisch zu beschleunigen.

Die Szene, in der Steppke der Göttin des Mondes seine politischen Reformpläne erläutern will, während die nur auf seine vermuteten männlichen Qualitäten erpicht ist, wirkt wie braver Sozialkundeunterricht: Knisternde Spannung oder die naheliegende Enttäuschung des eifrigen politischen Missionars? Fehlanzeige. Wenigstens rettet Markus Heinrich durch agiles Spiel und ebenso beweglichen Tenor seine Figur vor der totalen Verblassung, während Debra Hays den Facetten der Frau Luna zwischen mondän, berechnend und ein wenig liebestoll zu viel Reserve entgegenbringt.

Im Quintett der mondfahrenden Erdlinge schießt Kerstin Brix den Vogel ab: Frau Pusebach ist in ihrem Fall eine schnoddrige Schnauze, die ohne Sentimentalität ihren verflossenen Theophil wiedererkennt, dessen Verlust sie mit Kittelschürze und dem herrlich verqueren Quäken einer erfahrenen Diseuse bereits auf Erden beklagt hat. Rafael Bruck gewinnt der Figur des Lämmermeier – in diesem Fall ein „freigestellter Deutschlehrer in ewigem Krankenstand“ – kaum Konturen ab; auch Haik Dèinyan hat wenig Chancen, aus seinem Pannecke mehr als einen angestaubt freundlichen älteren Herrn zu machen. Susanne Seefing mit Camouflagehose und Spaghettihaaren macht es ihrem Fritz leicht, den politischen Traum für das Nest unter nackter Glühbirne draufzugeben: Sie ist eine sanfte, anschmiegsame Mieze.

Einschwebende Göttin des Mondes: Debra Hays und der Chor des Theaters Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Einschwebende Göttin des Mondes: Debra Hays und der Chor des Theaters Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Die herrlich auf die Spitze getriebenen Kostüme des Prinzen Sternschnuppe – Michael Siemon als Operettengeneral – und des aufgeblasenen Mars von Shinyoung Yen täuschen nicht darüber hinweg, dass auch den Mondbewohnern die Profilierung abgeht, die sie zu komischen oder wenigstens markanten Charakteren im Rahmen des Genres geformt hätte. Nur Gabriela Kuhn zeigt als nassforsche Stella, wie zynisch der „Betrieb“ auf dem Mond machen kann. Musikalisch bleiben die Niederrheinischen Sinfoniker den mal idyllischen, mal lustvoll-simpel gradlinigen Melodie-Erfindungen des „feinen Paule“ nichts schuldig, zumal sie in einer gut ausbalancierten Streicher-Bläser-Besetzung spielen.

Alexander Steinitz lässt den luftigen Amüsiernummern ihre Würde, ihren Charme und ihre Würze, meidet allzu trivialen Schmiss ebenso wie triefendes Sentiment. Der Chor ist auf Zack, lässt sich beim himmlischen Reinemachen nicht aus dem spitzen Offenbach-Rhythmus bringen. Wenn im Finale dann die „Berliner Luft“ dröhnt, ist das lastende politische Gedünst verpufft; was bleibt, ist der unverwehbare Duft der Berliner Operette, deren rauer Charme auch dem Optimierungswahn der Bearbeiter von heute widersteht.

Nächste Vorstellungen: 22./24. April, 17./21. Mai. Karten: Tel. (02166) 61 51 100 oder www.theater-kr-mg.de




Wagner-Jahr 2013: Die Jugendoper „Das Liebesverbot“ in Leipzig

Wagner in Leipzig: Das neue Wagner-Denkmal von Stephan Balkenhol. Foto: Werner Häußner

Wagner in Leipzig: Das neue Wagner-Denkmal von Stephan Balkenhol. Foto: Werner Häußner

Wagners Verdikt scheint eindeutig: „Ich irrte einst und möcht‘ es nun verbüßen. Wie mach‘ ich mich der Jugendsünde frei?“. Die Widmung an König Ludwig II. von Bayern galt dem heiter-sinnlichen „Liebesverbot“. Geniusworte werden gemeinhin nicht kritisch hinterfragt. So wurde Wagners opéra comique „Das Liebesverbot“ nach seinem Tode erst 1914 wieder aufgeführt und blieb seitdem ein nur gelegentlich beachteter Sonderling.

Kein Wunder: Wagner selbst hat sich nach der katastrophal misslungenen einzigen Aufführung 1836 in Magdeburg vom Konzept der opéra comique, wie es ihm im Theateralltag in den Werken Daniel François Esprit Aubers formvollendet entgegentrat, gelöst und andere Wege beschritten, die ihn letztlich zurück zur romantischen Sphäre der „Feen“ geführt haben. Und die spätere Wagnerianer-Literatur konnte mit dem „Liebesverbot“ überhaupt nichts anfangen: Die Überwindung des Dualismus von sinnlicher Lust und asketischer Geistigkeit durch eine kontrollierte Balance beider Kräfte war nicht das Thema einer Zeit, die manichäisch in den Kategorien von „schmutzig“ und „rein“ dachte. So galt das „Liebesverbot“ als die Jugendsünde schlechthin – ein Kapitel Wagner, das man am besten verdrängte und vergaß.

Der Bedeutung des Werks für Wagners Œuvre wird man so freilich nicht gerecht: Das Thema selbst taucht, romantisch kategorisiert, im „Tannhäuser“ wieder auf – und die Reflexe der „Liebesverbot“-Musik in der großen romantischen Oper sind zu deutlich, um bloßer Zufall zu sein. Inhaltlich befasste sich Wagner bis kurz vor seinem Tod mit dem „Weibe“, sprich, der Problematik von Sinnlichkeit, Erotik und Liebe, von Verdrängung, Überhöhung und Integration des Sexuell-Körperlichen.

Der junge Richard Wagner. Zeitgenössischer Stich

Der junge Richard Wagner. Zeitgenössischer Stich

Musikalisch ist die an Auber geschulte rhythmische Verve in den Folgewerken verschwunden. Aber die schwärmerische Bellini-Melodik begegnet uns ab dem „Fliegenden Holländer“ in allerlei Facetten wieder, und die ausgefeilte Ensemblekunst – von Auber und Rossini geprägt – war wegweisend für das spätere Musikdrama. Wer also das „Liebesverbot“ aus dem sowieso fragwürdigen „Kanon“ von Wagners Meister-Werken eliminiert, wird der Entwicklung des Komponisten nicht gerecht. Und Wagner „Genie“ zeigt sich eben auch in der Adaption von Vorbildern: So, wie der Zwanzigjährige in den „Feen“ ein Finale schreibt, das in der Oper von 1833 seinesgleichen sucht, so gekonnt lässt es sich ein Jahr später auf den zündenden Überschwang französischen Vorbilder ein. Wer Aubers Opern aus dieser Zeit kennt, kann ermessen, mit welcher Souveränität Wagner mit dem Meister des Genres gleich zieht.

Wagner artikuliert revolutionär-demokratische Ideen

Die wenigen Inszenierungen der letzten Jahre haben erwiesen, dass sich das „Liebesverbot“ durchaus jenseits einer bloß „museal“ verstandenen Jubiläums-Würdigung auf der Bühne behaupten kann. Die aus Shakespeares „Maß für Maß“ entlehnte Story hat Wagner für seine Zwecke geschärft: Ein bigotter Statthalter – heute würde man ihm Kontrollzwang diagnostizieren – verbietet jede sinnliche Lust bei Todesstrafe und stolpert durch die List einer Nonne (!) und den fröhlich-selbstbewussten Widerstand des Volkes über seine eigenen Regeln. Jenseits der Kritik am moralischen Rigorismus artikuliert Wagner aber auch eine revolutionär-demokratische Idee, die ihn noch 1849 in die Nähe der Dresdner Barrikaden führte: Das Volk ist der eigentliche Souverän des Geschehens.

Tuomas Pursio als Statthalter Friedrich im Leipziger "Liebesverbot". Foto: Kirsten Nijhof

Tuomas Pursio als Statthalter Friedrich im Leipziger „Liebesverbot“. Foto: Kirsten Nijhof

In Leipzig – und wo sonst wäre Wagners Frühwerk angebrachter – hatte nun das „Liebesverbot“ in der Regie von Aron Stiehl Premiere; jene Version, die im Sommer anlässlich des Wagner-Geburtstags in Bayreuth zu sehen war. Jürgen Kirner bot in seinem Bühnenbild den technisch beschränkten Möglichkeiten der Oberfrankenhalle Paroli: Stellwände und beleuchtete, rasch verschiebbare bühnenhohe Kästen ermöglichen schnelle Szenenwechsel und schaffen atmosphärische Räume: ein Dschungel mit wuchernden Pflanzen für das Reich der Sinne und der Triebe; ein weiß leuchtendes Kreuz für den Raum des Klosters. Statthalter Friedrich residiert zwischen riesigen, nummerierten Schubkästen, Chiffren des Ordnungszwangs und Kategorisierungswahns.

Sven Bindseils Kostüme schärfen mit leichter Ironie den Gegensatz von Geistigem und Triebhaften, den Regisseur Aron Stihl herausarbeitet: Das „Volk“ – der Chor Alessandro Zuppardos leistet auch szenisch ganze Arbeit – trägt die Flecken und Streifen wilder Tiere in einer Art von Steinzeit-Fetzen-Look; Friedrich dagegen tritt im schwarzen Rock des bürgerlich-klerikalen 19. Jahrhunderts auf, sein alles andere als überzeugter Gefolgsmann Brighella in einer pompösen Amtsdiener-Robe. Die Regie setzt auf Bewegung und lebhafte Aktion: Stiehl versteht es, Personen unspektakulär, aber konsequent zu führen. Wenn im Finale die Beine geschwungen werden, ist das ein durchaus beabsichtigtes Zitat: Der Triumph der lustvollen Ausgelassenheit führt direkt zur Sensation des Offenbach’schen Can-Can.

Bis an die Grenzen geforderte Sänger

Musikalisch wird man in Leipzigs Opernhaus leider wieder einmal nicht glücklich: In der Ouvertüre schon bringen die vehementen Staccati und das rhythmisch Ungestüm Wagners die Musiker aus dem Tritt; lustlos nivelliert das Orchester die Kontraste der Musik. Später lässt Dirigent Matthias Foremny arg massive Lautstärke zu. Geformte Phrasen, ausgearbeitete Details? Oft Fehlanzeige. Da haben es die Sänger schwer, die Wagner ohnehin ständig an die Grenzen führt. Christiane Libor muss als Isabella mal hochdramatisch auftrumpfen, mal lockeren Singspielton anschlagen oder sich durch Ketten kurzer Noten hangeln – was ihr mit beachtlicher stimmlicher Reserve auch gelingt.

Olena Tokar hat es als Mariana einfacher: die Partie der verlassenen Ehefrau des Statthalters ist in Leipzig kurz. Und die dritte der Frauen auf der Suche nach der ehrlichen Liebe, Dorella, wird von Magdalena Hinterdobler verkörpert: In bester, sexistisch anmutender Boulevard-Manier von einem Presseorgan als einzig sehenswertes Formenwunder auf der Leipziger Bühne angepriesen, quält sie sich ohne zuverlässigen Stimmsitz und ohne tragende Resonanz durch Wagners Noten.

Bis an ihre Grenzen gefordert sind Mark Adler (Luzio) und David Danholt (Claudio): beide haben mit Wagners hybriden Anforderungen hörbar zu kämpfen. Reinhard Dorn orgelt den Brighella nicht als verschlagenen Sbirren, sondern als gemütliche Charge. Der Pontio Pilato Martin Petzolds lässt sich stimmlich nichts zuschulden kommen, bleibt aber als Figur von der Regie merkwürdig unerklärt. Tuomas Pursio hat die stocksteife Figur für den in seinen politischen wie psychischen Zwängen eingeklemmten Friedrich, ist als herrischer Bürokrat glaubwürdig, stimmlich aber oft verhärtet und trocken: Die belcantistischen Aspekte seiner Rolle kommen nicht zum Tragen.

Am Ende reißt der entlarvte Statthalter einen Blumenstrauß an sich und zieht dem zurückkehrenden König entgegen, während sich in der bunten Truppe der Karnevalisten die Feiernden wie Domino-Steine der Reihe nach zu Fall bringen: ein angedeuteter Zweifel an der finalen Versöhnung, der nicht so recht überzeugen will, weil er szenisch zu unbestimmt bleibt. Eine verdienstvolle Inszenierung: Wer den „ganzen“ Wagner verstehen will, wer um die Wurzeln des Musikdramas wissen will, kommt am „Liebesverbot“ nicht vorbei.




Liebe und Staatsbankrott: „Lustige Witwe“ ist nicht so lustig

Valencienne (Dorothea Brandt) geht mit ihrem Mann Mirko (Miljan Milović) nicht immer so pfleglich um ... Foto: Andreas Fischer

Valencienne (Dorothea Brandt) geht mit ihrem Mann Mirko (Miljan Milović) nicht immer so pfleglich um … Foto: Andreas Fischer

Franz Lehárs „Lustige Witwe“ begeistert mit musikalischer Qualität und dramaturgischem Pfiff. Irgendwie scheint sie aber auch in unsere Zeit zu passen. Denn momentan wird zwischen Lübeck und Innsbruck auf mehr als ein Dutzend Bühnen versucht, der Dame ihre Millionen abzuluchsen. Allein in NRW intrigiert die pontevedrinische Diplomatie an vier Orten: ab Dezember in Düsseldorf, in Detmold ab 4. November in der Neuinszenierung von Holger Potocki und ab Silvester geht man in Dortmund an der Hand von Regisseur Matthias Davids ins Maxim. Im Barmer Opernhaus hatte Lehárs sensationelle Erfolgsoperette von 1905 am Samstag, 15. Oktober, ihre zweite Premiere – die erste fand schon im Juni in Solingen statt.

Gar so lustig, wie der Titel glauben machen will, ist diese „Witwe“ aber nicht: Es geht zwar ums erotische Vergnügen, um Grisetten und Seitensprung, aber vor allem ums Geld. Zwanzig Millionen ist Hanna Glawari wert. Eine begehrte Beute für die Pariser Lebewelt. „Die Millionen sind angekommen“, kündigt einer der Pariser Filous ihre Ankunft an: Damit ist alles gesagt. Charme, Intelligenz, Selbstbewusstsein, selbst Schönheit und Ausstrahlung? Egal. Hauptsache, die Frau ist millionenfach vergoldet.

Derweil plagen den pontevedrinischen Gesandten (im Rollstuhl, aber bei den „Weibern“ gut zu Fuß: Miljan Milović) lastende Sorgen: Wird das Geld der Frau Glawari aus seinem Vaterlande abgezogen, droht der Staatsbankrott. Abhilfe muss Graf Danilo schaffen. Der zeigt sich jedoch wenig patriotisch und lehnt den erotischen Staatseinsatz rundweg ab. Die Tanzmädels sind ihm lieber …

Pascale-Sabine Chevroton weiß um die gesellschaftlichen Untiefen in diesem Stück. Und inszeniert die „Lustige Witwe“ in dieser Koproduktion mit den „Folies lyriques“ in Montpellier weit weg von der üblichen Operettenästhetik. Weder Bühnenbild noch Kostüme (Tanja Liebermann) schwelgen in Frack und Tutu. In der Botschaft des Beinah-Bankrott-Staates sind Wände rissig und Stuckleisten geborsten. Für Madame Glawaris Heim ersinnt Bühnenbildner Jürgen Kirner eine gewaltige Handtasche. Es könnte auch ein Geldbeutel sein, der sich öffnet und wie aus einem roten Rachen die leichtlebige Festgesellschaft ausspuckt. Die Damen vom Maxim sehen aus wie Buchhalterinnen. Auch das passt: eher Dienerinnen des Geldes als des Eros. Dass Esprit und Humor gestutzt werden, scheint kalkuliert. Hans Richter als Komiker Njegus darf zwar wienern, aber die üblichen Stegreifsprüche sind ihm nicht erlaubt. So bleibt diese kommentierende Figur profillos. Chevrotons Lesart nimmt die Operette und ihr Sentiment ernst, aber die Szene moussiert nicht. Stellenweise glaubt man, Lehár habe ein Kammerspiel von Ibsen vertont.

Im Orchester sieht das zum Glück anders aus. Florian Frannek entschlackt die Partitur, gibt ihr kammermusikalische Finesse, welche die Orchester-Solisten der Wuppertaler Sinfoniker bereitwillig erfüllen. Der Dirigent „champagnerisiert“ den Rhythmus. Er gibt den schmeichelnden Melodien ohne schmierige Agogik Raum. Die Geigen flüstern wirklich „hab‘ mich lieb“ in feinstem, wenn auch nicht in süffigem Pianissimo der geforderten großen Besetzung. Und das Studium der Noten ist im Graben mindestens so eifrig betrieben worden wie auf den Brettern das Studium der Weiber.

"Lippen schweigen, s'flüstern Geigen ... Hanna Glawari (Susanne Geb) und Danilo (Kay Stiefermann)Foto Aandreas Fischer

„Lippen schweigen, s’flüstern Geigen …“: Hanna Glawari (Susanne Geb) und Danilo (Kay Stiefermann).Foto Andreas Fischer

Dorothea Brandt ist eine nahezu perfekte Tanzsoubrette; ihre Valencienne hat Format. Susanne Geb zeigt die selbstbewussten Seiten der Hanna Glawari. Doch ihrem soliden, zu strahlendem Ton fähigen Sopran fehlt schmeichelnde Weichheit; die lyrische Bezauberung kleidet sie eher in Silber als in Samt. Kay Stiefermann – der Wuppertaler „Holländer“ – erweist sich als wandlungsfähiger Darsteller und routinierter Sänger: Trotz Krankheit singt er den Danilo respektabel und rhetorisch reflektiert. Boris Leisenheimer als Camille de Rosillon scheitert ob der verfehlten Position seines Tenors an den Anforderungen der Partie. Seine Tongebung wirkt gequält, die Höhen sind trocken forciert. Tomas Kwiatkowski und Nathan Northrup sind als Cascada und Saint-Brioche richtige Klischee-Pariser mit Baskenmütze und Halstuch. Der Chor ist von Jens Bingert zuverlässig einstudiert.

Im Programmheft liest man mit Erstaunen, wie oft die Bankrott-Kandidaten unter den europäischen Staaten schon zahlungsunfähig waren – an Pontevedro ist dieses Schicksal noch einmal vorübergegangen. Die Botschaft ist angekommen: reicher Beifall.