Szenisch demontiert, musikalisch erhöht: Mozarts römischer Kaiser Titus an der Rheinoper Düsseldorf

Maria Kataeva als Sesto in Mozarts „La Clemenza di Tito“ an der Rheinoper in Düsseldorf. (Foto: Bettina Stöß)

Ein Fest der noblen Töne und der durchgearbeiteten Details: Die Dirigentin Marie Jacquot hebt in luziden Klang, was Wolfgang Amadé Mozart in seine kurz vor der „Zauberflöte“ uraufgeführte Krönungsoper „La Clemenza di Tito“ an kompositorischen Kostbarkeiten eingeschrieben hat.

Trotz der Herkunft des Stoffs aus der Opera seria des Wiener Hofdichters Pietro Metastasio ist die alte Manier an vielen entscheidenden Stellen überschrieben. Äußerlich mag die Folge von Arien und Rezitativen noch an Althergebrachtes erinnern; innerlich haben es Librettist Caterino Mazzolà und Mozart mit seiner Kunst des Ensembles, aber auch mit der Aufwertung der Rolle des Orchesters gründlich hinter sich gelassen. Da ändern auch die Rezitative nichts, die vermutlich aus Zeitmangel von Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayr in Töne gesetzt wurden.

Die „Milde des Titus“ also. Zuletzt im Mozartjahr 2006 in Düsseldorf, diesmal unter dem so analytischen wie leidenschaftlichen Blick der jungen französischen Kapellmeisterin, die sich gerade an der Deutschen Oper am Rhein und bei einer Reihe von Gastdirigaten erfolgreich ihre Sporen verdient. Mit dem „Barbier von Sevilla“ war sie zu Beginn der Spielzeit schon mit viel Willen zu lockerer Beweglichkeit und witzig-spritziger Rossini-Verve unterwegs, ausgebremst freilich von einem nicht entsprechend alert reagierenden Orchester und einer wenig inspirierten Inszenierung von Maurice Lenhart.

Staatsaktion mit beseelten Menschen

Jetzt kommt ihr in diesem Lehrstück eines exemplarisch-idealen Regierungsstils die Regie von Michael Schulz ebenfalls nicht gerade entgegen. Aber die Düsseldorfer Symphoniker verstehen sich auf Mozart weit einfühlsamer als auf den trockenen Humor des Italieners. Und so wird der Abend in erster Linie ein musikalisches Erlebnis. Man mag sich den Kopf heiß reden über die Frage, ob das innere Pathos der Musik dem rückwärtsgewandten Auftragsstoff geschuldet ist – die böhmischen Stände als Auftraggeber wollten unbedingt einen „Titus“ haben –, oder ob Mozart nicht doch ein feines Ohr für die aus Frankreich kommende, neue musikalische Ausdruckssphäre hatte. Spannend auch zu hören, was Mozart seinen Zeitgenossen Christoph Willibald Gluck und Antonio Salieri an die Seite stellt, die beide auf ihre Weise bewegende Seelentöne trafen, ohne Mozart in seiner unendlich einfallsreich variativen musikalischen Sprache zu erreichen.

Marie Jacquot. (Foto: Werner Kmetitsch)

Marie Jacquot jedenfalls treibt das Pathos nicht auf die Spitze, entdeckt aber die Subtilität der Komposition, wie sie sich in der Ouvertüre nach der Dreiklangseröffnung und einem gekonnt gesteigerten Mannheimer Crescendo in der Verarbeitung des eigentlich simplen Themas mit seinen schreitenden, durch Pausen getrennten Achteln zeigt. Bei ihr klingen diese Momente nicht kühl poliert, sondern erfüllt mit lyrischer Wärme – denn es geht ja nicht (nur) um eine Staatsaktion oder ein Herrscherideal, sondern ebenso um beseelte Menschen. Jacquot lässt sie in sensibler Finesse und Liebe zum Detail vor unser musikalisches Ohr treten: Man hört das Fagott im Aufzugsmarsch des Kaisers, man folgt den Halbtonschritt-Sequenzen, die Titus als abgeklärten, in sich ruhenden Charakter in die Nähe Sarastros rücken. Wolfgang Esch mit seiner Bassettklarinette und Ege Banaz mit dem Bassetthorn haben den Raum, den Reiz des Instrumentalklangs wunderschön zu entfalten.

Auch die hohe Kunst der Ensembleführung wird vom Dirigentenpult aus gepflegt. Ob im Finalquintett des ersten Akts, das Friedrich Rochlitz ein „großes Meisterstück“ nannte, oder in der erregten Hektik des Terzetts „Vengo! Aspettate …“: Marie Jacquot übertreibt die Ausdrucksmittel nicht, hält Tempi und Dynamik stets ausgewogen im Zaum, ergreift aber gerade dadurch die Chance, sie mit innerem Leben und mit eleganter Expressivität zu erfüllen. Da sie die Sänger diskret und rücksichtsvoll begleitet, haben sie die Chance, sich stimmlich ohne Druck zu entfalten.

Utopische Milde contra Zynismus der Macht

Das glückt nicht durchgängig: Immer wieder setzen sie sich unter Spannung, wo die Dirigentin eigentlich locker führen will. Aber Maria Kataeva singt sich schon nach dem ersten, noch etwas gehemmten Einstand frei und gestaltet vor allem ihre Arie „Parto, parto“ und das große, zum Finale überleitende Rezitativ „Oh Dei, che smania e questa“ mit dramatischem Gespür und flexibler Beweglichkeit. Das Freundschafts-Duettino mit Annio leidet unter der Manier von Anna Harvey, Töne zu „stoßen“ statt gleichmäßig auf dem Atem zu führen; in der Arie „Tu fosti tradito“ im zweiten Akt gelingt es Harvey besser, den Ton zu fokussieren und strömen zu lassen.

Als eine mit allen kriminellen Wassern gewaschene Zynikerin der Macht hat Titus‘ Gegenspielerin Vitellia ein breites Spektrum von Affekten vokal zu bewältigen, von zupackender Aggressivität über fiebrige Erregung bis hin zu – für die Figur erstaunlichen – Äußerungen weicher Empfindung. Dem strahlkräftigen, mit funkelndem Metall angereicherten Sopran von Sarah Ferede kommen die energischen und dunklen Seiten dieses Charakters eher entgegen; gleichwohl gelingt es ihr, ihre erste Arie („Deh, se piacer mi vuoi“) differenziert zu singen.

Jussi Myllys hat die undankbare Aufgabe, mit dem Kaiser eine Figur ohne innere Entwicklung und Handlungsmacht darzustellen. Der Edelmut des Herrschers – ganz im Gegensatz zum historischen Titus Flavius Vespasianus, wie ihn der römische Historiker Sueton sicher in tendenziöser Absicht schildert – ergießt sich in Betrachtungen etwa über die Rolle der Wahrheit vor Fürstenthronen, macht aber auch den Schmerz und die Enttäuschung deutlich, über die Titus dennoch seine „clemenza“ siegen lassen will. Die trocken-unbeteiligte Farbe des Tenors von Jussi Myllys und eine introvertierte, öfter belegt wirkende Tongebung mache die Rolle nicht eben interessanter. Auch Beniamin Pop als Publio kann – anders als Lavinia Dames als anmutige Servilia – keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Dirk Beckers Bühne zu Mozarts Oper. Foto: Bettina Stöß

Für seine Inszenierung hat der erstmals an der Rheinoper inszenierende Gelsenkirchener Generalintendant Michael Schulz genau eine Idee – und die stellt sich nach langen, umständlichen Auftritten und Abgängen in einem unspezifischen, für alle möglichen Werke recycelbaren Bühnenaufbau von Dirk Becker erst am Ende ein. Milde, Verzeihung, Menschlichkeit? Alles nur Show. Mit dieser Desavouierung von Mozarts hochgestimmtem Fürstenspiegel entlässt Schulz die Zuschauer in eine Realität, die leider allzu oft einen ähnlichen Eindruck nahelegt. Ob allerdings auf diese Weise „Macht, Güte, Milde und Weisheit als Korruption, Schmeichelei und devoter Untertanengeist“ enttarnt werden, wie Wolfgang Willaschek in einem provokanten Programmheftbeitrag meint, bleibe dahingestellt.




Ein Ort für böse Träume – „Schade, dass sie eine Hure war“ von Anno Schreier an der Rheinoper uraufgeführt

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Märchenland oder Traumfrabrik? Auf jeden Fall ist es ein Ort für böse Träume, in die uns die Uraufführung „Schade, dass sie eine Hure war“ von Anno Schreier an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf versetzt.

Die Bühne (Jo Schramm) ist mit wie zufällig zusammengeschobenen Filmkulissen vollgestellt, wie Hänsel und Gretel turnen die Geschwister Annabella (Lavinia Dames) und Giovanni (Jussi Myllys) auf einem überdimensionalen Fliegenpilz herum. Dabei sind sie selber in rote Kostüme mit weißen Punkten gewandet, als würden sie gleich am Set eines Disney-Films gebraucht (Kostüme: Michaela Barth).

Doch es spielen offenbar nicht alle im selben Film mit (Inszenierung: David Hermann): In Moden unterschiedlicher Zeiten gewandete Herren tauchen auf und beginnen um Kinderstar Annabella zu werben. Aber sie will keinen von ihnen heiraten, obwohl Vater Florio (Günes Gürle) sehr den Edelmann Soranzo (Richard Sveda) favorisiert, der ganz passabel aussieht und ein schickes Loft bewohnt.

Aber das Mädchen kann keiner begeistern. Weder er noch Grimaldi (Sergej Khomov), ein wildgewordener Degenkämpfer, und schon gar nicht der geckenhafte Bergetto (Florian Simson), ein Bürger von Parma, der die Schöne durch Sangeskünste zu erringen hofft. Denn sie hat ein unerhörtes Geheimnis: Geschwisterliebe. Die Fliegenpilzkinder sind in inzestuöser Leidenschaft verstrickt, niemand darf es wissen und niemand kann sie trennen. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf.

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Die Story geht zurück auf John Fords Schauerstück „’Tis Pity She’s a Whore“ von 1633, aus dem Kerstin Maria Pöhler das Libretto geformt hat. Musikalisch ist die Komposition eine Art Potpourrri mit dramatischer Zuspitzung: Man hört Anklänge an die verschiedensten Komponisten aus unterschiedlichen Epochen von Rossini über Wagner bis hin zu Strauss, auch Musicalklänge und Filmmusik gehören dazu.

Trotzdem wirkt die Oper wie aus einem Guss und packt einen sowohl von der musikalischen als auch von der emotionalen Seite, nicht zuletzt wegen der großartigen Solisten der Rheinoper, die mitsamt dem Chor eine gute Ensembleleistung vollbringen. Doch eines ist die Musik von „Schade, dass sie eine Hure war“ nicht: originell. Doch vielleicht ist das auch gar nicht ihre Absicht?

Ebenso unterhaltsam wie schockierend geht es nun weiter, als würde man sich eine Art Gewaltkrimi mit tödlichem Ausgang reinziehen. Annabella wird schwanger und willigt deswegen in die Ehe mit Soranzo ein, den man inzwischen als üblen Chauvi kennengelernt hat. Erst spannt er einem anderen Mann die Frau aus (Hippolita, gesungen von Sarah Ferede), dann lässt er sie fallen und muss das vermeintlich unschuldige Mädchen haben. Im Prinzip benimmt er sich wie ein Studioboss in Hollywood – #MeToo lässt grüßen.

Der betrogene Ehemann Hippolitas fährt derweil mit der Kutsche aus Tarantinos Film „Django Unchainend“ über die Bühne (daran erinnert sie jedenfalls) und sorgt mit shakespearehaften Spaß-Einlagen dafür, dass sein Rachefeldzug nicht allzu fad gerät. Doch hier kommt der Inzest-Bruder als tickende Zeitbombe ins Spiel. Seiner Schwester Kind ist von ihm, da bleibt nur ein Doppel-Selbstmord, den er auf die denkbar drastischste Weise vollzieht: Er reisst seiner Schwester das Herz aus dem Leibe, bevor er zugrunde geht.

Uff! Was lehrt uns diese Uraufführung nun über unsere Zeit? Hollywood ist verkommen und Geschwisterliebe nimmt kein gutes Ende? Alte Schauerstücke können immer noch schocken? Unterhaltung muss keinen tieferen Sinn haben? Bald ist ja auch Karneval…

Karten und Termine: www.operamrhein.de




Verborgener Schatz – Frederick Delius‘ „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ in Frankfurt

Zeitenthobene Seelen-Räume: Christian Schmidts Bühne für Delius`"Romeo und Julia auf dem Dorfe" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Zeitenthobene Seelen-Räume: Christian Schmidts Bühne für Delius`“Romeo und Julia auf dem Dorfe“ an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Es gibt Kunstwerke, die Jahre, ja Jahrzehnte unbeachtet bleiben, und plötzlich eine erstaunliche Gegenwärtigkeit gewinnen. Frederick Delius‘ „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ gehört dazu.

Diese Oper war ein verborgener Schatz für Liebhaber, hin und wieder ans Tageslicht gehoben und liebevoll betrachtet, dann wieder auf Jahre hin vergraben. Arila Siegert (Regie) und Justin Brown (Dirigat) scheinen mit ihrer gelungenen Karlsruher Produktion 2012 das Interesse an der Oper des deutschstämmigen englischen Komponisten wieder geweckt zu haben. Am entdeckerfreudigen Frankfurter Haus Bernd Loebes feierte „A Village Romeo and Juliet“ eine beeindruckende Premiere; in der nächsten Spielzeit steht Delius‘ vieldeutiges Werke in Bielefeld – der Heimat von Delius‘ Familie – im Spielplan.

Die Geschichte zweier junger Menschen, die gemeinsam in einen Liebestod gehen, ließe sich aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Gottfried Keller, aus dessen „Die Leute von Seldwyla“ der Stoff genommen ist, hatte sich von einer Zeitungsmeldung über den Suizid zweier Jugendlicher anregen lassen und hartnäckig auf dem sozialkritischen Aspekt beharrt: ein Schicksal armer Leut‘. Nicht ohne Basis wäre auch eine Lesart im Sinne des Fin de Siècle, zu dem Delius‘ Musik unüberhörbar tendiert: als eine psychologisch-symbolistische Studie über die innere Reifung zwischen Kindheit und Adoleszenz in einer als feindlich wahrgenommenen Umwelt.

Eva-Maria Höckmayr und ihr Bühnenteam Christian Schmidt, Saskia Rettig (Kostüme) und Olaf Winter (Licht) halten die Geschichte von allzu eindeutiger Konkretion fern, lassen sie in einem zeit- und ortlosen Seelen-Raum spielen, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander schieben. Schmidt nutzt die Frankfurter Doppel-Drehbühne aus: Die Küche eine ländlich-einfachen Hauses mit Sprossenfenster und Kaninchenstall, wiederholt als rein-weißer, reduzierter Raum (Weiß ist, so erfahren wir im Programmheft, in Japan die Farbe des Todes); ein hohes Treppenhaus; ein Fleck grüner Natur und ein Baum, umgeben von bühnenhohen Wänden.

Ahnung und Erinnerung sind präsent in Eva-Maria Höckmayrs Regie in der Frankfurter Erstaufführung von "Romeo und Julia auf dem Dorfe". Foto: Barbara Aumüller

Ahnung und Erinnerung sind präsent in Eva-Maria Höckmayrs Regie in der Frankfurter Erstaufführung von „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. Foto: Barbara Aumüller

Die Schauplätze schieben sich ineinander, wandeln sich rasch. Szenische Augenblicke wiederholen sich oder werden kontrastiert. Sali und Vreli, die beiden Liebenden, vervielfältigen sich: zwei Kinder als Braut und Bräutigam; ein altes Paar, ebenfalls in Hochzeitskleidung; zwei paradiesisch nackte Menschen auf dem Kulminationspunkt der liebenden Verschmelzung.

Es passiert viel, aber Höckmayr wehrt der Versuchung üppigen, beziehungslosen Bildertheaters. Sie bezieht die Szenen virtuos und stets inhaltlich abgesichert aufeinander, meidet aber zu eindeutige Festlegungen, die leicht ins lehrhaft Erklärende abrutschen würden. Der Ahnungsraum bleibt intakt, die Zeichen versuchen nicht vorschnell zu sprechen. Die Szene zeigt weniger „Handlung“ als Sehnsüchte, Wünsche, Imaginationen. Die atmosphärische Faszination der Bilder ist jedoch kein Selbstzweck, erschöpft sich nicht im Ästhetischen: Sie wahrt den letzten, unaufklärbaren Raum der Psyche, in dem sich Erträumtes und Erlebtes zu inneren Impulsen verbinden.

Bote der Freiheit und des Todes: der "schwarze Geiger" (Johannes Martin Kränzle). Foto: Barbara Aumüller

Bote der Freiheit und des Todes: der „schwarze Geiger“ (Johannes Martin Kränzle). Foto: Barbara Aumüller

So führt Höckmayr die Personen des Stücks ruhig und bestimmt durch die Raum gewordenen Labyrinthe ihrer Seelen – konzentriert auf das Paar Sali und Vreli und den „schwarzen Geiger“, eine ambivalente Figur, anziehend und unheimlich. Ihm wurde das Stück Natur vererbt, auf dem er beiden Kinder spielen lässt – aber die dumpf und stumm agierenden „Leute“ verdrängen ihn, weil er, der „Bastard“, auf das Brachland keinen Rechtsanspruch hat. Er öffnet den jungen Menschen die „Natur“ als Raum der inneren Freiheit, der Distanz zu den Regeln der Gesellschaft – aber wie ein „geigender Tod“ auch die Gefahr einer Abkoppelung vom Leben: Seinen Vorschlag, in sorgenfreier Anarchie mit ihm umherzuziehen, lehnen die Jugendlichen ab. Dem roten Mohn im Revers bläst der Fiedler die Blütenblätter ab: ein behutsames Zeichen für vergängliches Leben – und noch ein Hinweis, wie sorgfältig Höckmayr mit szenischen Details ihre Deutung ausarbeitet. Für Johannes Martin Kränzle ist diese vielschichtige Figur wie geschaffen: Er konkretisiert sie im körperlichen Gebaren wie im gestischen Reichtum seines Singens.

Die Bedrohung geht von den Vätern aus. Manz und Marti, wenn auch mit Sense und Bauernkluft ihrer musikalisch handfest-konkreten Zeichnung entsprechend, sind mehr als die auf Land gierigen Streithanseln, die sich prozessierend ruinieren: Sie hindern ihre Kinder an der Selbstwerdung, die sich Sali in einem Akt des Aufbegehrens erstreitet: Er schlägt dem aggressiven Marti, Salis Vater, einen Stein auf den Kopf – und es ist ein Stein, wie ihn der „schwarze Geiger“ scheinbar absichtslos hat fallen lassen, als er Verhängnis prophezeite, „wenn der Pflug das Land berührt“. Dietrich Volle ist ein ungewöhnlich strapaziert klingender Manz, der seine Höhe nicht frei, sondern erkämpft erreicht; Magnús Baldvinsson ein Marti mit passend rautonigem Bass.

Dumpfer Druck des Dorfes: In dieser Gesellschaft haben die Liebenden keine Chance. Foto: Barbara Aumüller

Dumpfer Druck des Dorfes: In dieser Gesellschaft haben die Liebenden keine Chance. Foto: Barbara Aumüller

Auch das Paar Sali (Jussi Myllys) und Vreli (Amanda Majeski) zeichnet sich durch intensive Darstellung aus: kontrolliert in den statischen Momenten, aus denen sich der Bewegungsimpuls nur langsam löst; berührend sensibel in den wenigen innigen Momenten der Zweisamkeit. Die amerikanische Sopranistin hat in Frankfurt schon die „Gänsemagd“ in Humperdincks „Königskindern“ gesungen, geht im März 2015 für Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ nach Chicago und kehrt im Mai 2015 als Feldmarschallin in den neuen Frankfurter „Rosenkavalier“ zurück. Darauf wird man gespannt sein dürfen, denn Majeski zeigt einen klar fokussierten Sopran mit gläserner Brillanz, aber wenig Farbenspiel. Jussi Myllys – 2015 als Tamino, Don Ottavio und als „Rosenkavalier“-Sänger an der Deutschen Oper am Rhein – ist vor allem als jungenhafter Typ eine passende Besetzung; klanglich lässt sein lyrischer Tenor ein wenig Schliff vermissen, aber der Nachdruck für die intensiv erfüllte Linie und der leidenschaftlichen Phrasierung ist da.

In besten Händen entfaltet sich die klangliche Schönheit, mit der das Frankfurter Orchester immer wieder überzeugen kann: Dirigent Paul Daniel nimmt den Anfang wohl bewusst kantig, um die Entwicklung zu den fließend-impressionistischen Klangströmen zu pointieren, mit denen Delius die Grenze zwischen Realität und Imagination, Traum und Wirklichkeit musikalisch aufweicht. Da mögen Wagner und Debussy durchklingen, da mag manches auf die Raffinesse von Schreker und Korngold hinweisen – Delius hat in Leipzig studiert und war mit Edvard Grieg eng befreundet –, aber die persönliche Handschrift des Briten geht nicht in Vorbildern auf: Delius findet, formal unbekümmert, zu eigen geprägter klanglicher Sensibilität und agogischer Geschmeidigkeit, zu oszillierenden Mikroklängen wie zu breiter lyrischer Emphase, die sich in ihrem Strömen nur unwillig eindämmen lässt.

Daniel lenkt diesen Fluss mit gestaltender Hand und gibt ihm mit den en détail aufmerksamen Musikern die klanglichen Licht- und Schattenspiele, die wie die im Licht bewegte Oberfläche eines Flusses zwischen zitterndem Verharren und schimmerndem Entgleiten changieren. – Frankfurt hat in den letzten Jahren ein schönes Repertoire aus der Zeit zwischen Gründerzeit und Zweitem Weltkrieg präsentiert. Es wird 2014/15 mit Humperdincks „Hänsel und Gretel“ und Martinůs „Julietta“ weitergeführt, und man darf hoffen, dass die nächsten Jahre der Intendanz Loebe noch einige sehenswerte Trouvaillen an den Tag bringen.




Verzichtbar: Giuseppe Verdis „La Traviata“, aufgewärmt in Duisburg

Strahlend schön und elend einsam: Violetta (Brigitta Kele) in Andreas Homokis "Traviata" in Duisburg. Foto Hans Jörg Michel

Strahlend schön und elend einsam: Violetta (Brigitta Kele) in Andreas Homokis „Traviata“ in Duisburg. Foto Hans Jörg Michel

Ist das Hauptstadtoper? Ist das die Deutsche Oper am Rhein, einst ein viel gepriesenes und beachtetes Institut, das über Deutschland hinaus künstlerische Akzente gesetzt hat? Nach der Premiere einer nun zum dritten Mal aufgewärmten „La Traviata“ am Opernhaus Duisburg stellen sich solche Fragen noch drängender als sonst.

Ein Blick auf den Premierenplan der Deutschen Oper am Rhein: „Luisa Miller“ in Düsseldorf – eine Inszenierung aus der vergangenen Saison. „La Traviata“ als zweiter, denkbar unorigineller Beitrag zum Verdi-Jahr 2013 – eine Inszenierung aus dem letzten Jahrhundert von Andreas Homoki, seit 1996 in Leipzig im Repertoire, 2006 und wieder im Frühjahr 2013 in Bonn gezeigt. Die „Csárdásfürstin“ – ebenfalls aus der letzten Spielzeit. „Die Zauberflöte“ – ein Import aus Berlin. Und so heißt die erste kreative Neu-Tat „Lohengrin“ – im Januar 2014! Im Klartext: Die erste Hälfte der Spielzeit am Institut des bis 2019 verlängerten Intendanten Christoph Meyer bringt keine einzige tatsächliche Neuproduktion. Und die Auswahl der gezeigten Opern könnte biederer nicht sein.

Der wirkliche „Skandal“ ist nicht der missglückte „Tannhäuser“ im Mai, denn Risiken gehören zum Theater und Flops auch. Es ist die schleichende Entkernung eines einst wegweisenden Hauses, das sich offenbar davon verabschiedet, Opernkunst mit einem eigenen, klar konturierten Profil anbieten zu wollen und sich auf ein massen- und kassenkompatibles Repertoire zurückzieht. Wären da nicht die drei Wiederaufnahmen der hochkarätigen Britten-Inszenierungen von Immo Karaman im Oktober/November, der Spielplan könnte nicht austauschbarer sein.

Schnell verblüht: Kamelien umgeben Violetta (Brigitta Kele) auf Frank Philipp Schlößmanns Bühne zu "La Traviata". Drohend im Hintergrund: der alte Germont (Laimonas Pautienius). Foto: Hans Jörg Michel

Schnell verblüht: Kamelien umgeben Violetta (Brigitta Kele) auf Frank Philipp Schlößmanns Bühne zu „La Traviata“. Drohend im Hintergrund: der alte Germont (Laimonas Pautienius). Foto: Hans Jörg Michel

Über Andreas Homokis Inszenierung ist in den letzten beiden Jahrzehnten genug gesagt worden; sie zeigt sich in ihrer konzeptionellen Stringenz ungebrochen. Konzentriert auf eine Traviata, die eher eine „vom Weg gestoßene“ als eine „vom Weg abgekommene“ Frau ist, von der Masse bedroht und ausgespuckt in die Einsamkeit einer kalten, spiegelglatten, blauschimmernden Fläche.

Frank Philipp Schlößmanns Bühne, sinnig ausgeleuchtet von Volker Weinhart, lässt alles weg, was von den Menschen ablenken könnte, die ihre Beziehungen auf immer zerstören. Nicht nur diejenige zwischen Violetta, dem gesellschaftlichen Geschöpf des cholerischen Barons Douphol, und dem linkischen, aufgeregten Bürschchen aus der Provinz. Sondern auch zwischen dem mit seinen Ehrbegriffen gepanzerten Germont und seinem Sohn. Der Blick, den Alfredo über die tote Violetta hinweg seinem Vater zuwirft, lässt für die Zukunft dieser Familie nichts mehr hoffen.

Mit solchen Momenten hat Co-Regisseur Mark Daniel Hirsch die alte Homoki-Inszenierung merklich aufgefrischt. Er kann auf das präzise Spiel der Protagonisten setzen, das bis in die kleinen, dennoch wichtigen Rollen hinein trägt: Auf Cornel Frey, der dem Gastone etwas von einem schmierigen Varieté-Conferencier gibt. Auf die Flora Sarah Feredes, die leuchtend singt, sich aber dem hilfesuchenden Arm ihrer Freundin Violetta wie alle anderen entzieht. Oder auf Bruno Balmelli als Douphol, der Violetta schon Scheine ins Decolleté stopft, bevor Alfredo seinen schüchternen Auftritt hat. Dass der Baron im zweiten Akt wie ein Duisburger Vorstadtschläger gebändigt werden muss, verzeichnet den latenten Zynismus dieser Figur ins Grobe: Ein Mann wie Douphol würde sich wegen einer Kurtisane nie die Hände schmutzig machen.

Gesungen wird – und das steht symptomatisch für die Verdi-Interpretation heute – weder technisch noch stilistisch einwandfrei. Da mag der Beifall noch so herzlich rauschen: Auch Laimonas Pautienius, der Publikumsliebling des Abends, hat als bedrohlich als schwarzer Schatten auftauchender Vater Germont nicht den rund und ausgeglichen geformten Bariton, den diese Partie fordert. Zwar singt er sich im Lauf des Abends von seinen verfärbten Mundhöhlen-Tönen frei, aber die Stimme schwingt nicht ebenmäßig, klingt nicht natürlich: ein angespannt-flackriger Ton, keine schmiegsame Phrasierung. „Di Provenza …“, die belcantistische Nagelprobe für jeden Verdi-Bariton, klingt unstet, im Vibrato manchmal holprig, auch nicht elegisch abgetönt.

"Als Zeugen rufe ich euch - hier habe ich sie bezahlt!" Jussi Myllys (Alfredo) und Brigitta Kele (Violetta). Foto: Hans Jörg Michel

„Als Zeugen rufe ich euch – hier habe ich sie bezahlt!“ Jussi Myllys (Alfredo) und Brigitta Kele (Violetta). Foto: Hans Jörg Michel

Der Alfredo des Abends, der Finne Jussi Myllys, kämpft sich durch die Partie, dass man Erbarmen haben möchte. Schon im ersten Duett mit Violetta wird der dünne, jammernde Klang seines Tenors abgeschlagen. In „De‘ miei bollenti spriti“ zu Beginn des zweiten Akts zwingt er die Phrasen vergeblich auf den Atem, verliert an den heiklen hohen Stellen den Kontakt mit der Stütze und bildet fragil-heisere Töne. Für Verdi hat diese Stimme keine Fülle, keinen Kern, keine expansive Kraft und keine Reserve – von Farben oder stilistischen Finessen ganz zu schweigen. Wer ist für eine solche Besetzung verantwortlich?

Und Brigitta Kele ist vor allem eine Besetzung für’s Auge. Eine glanzvolle Erscheinung, wie sie im Vorspiel schlank, hochgewachsen und schön, in der edlen weißen Robe der Kostümbildnerin Gabriele Jaenecke alleine mit ihren Juwelen auf der Bühne wartet. Nervosität beim Debüt in einer so prominenten Rolle ist natürlich; so muss nicht jeder Ton auf der Goldwaage gewichtet werden. Aber wenn in der großen Szene „È strano ….“ die Stimme immer wieder nach hinten rutscht, wenn die Koloraturen mit aufgerissener, gerade noch erreichter Höhe unschön erzwungen werden, die Töne merklich gezwungen klingen, muss doch ein Fragezeichen gesetzt werden.

Der zweite und dritte Akt kommen Kele merklich entgegen; im Duett mit dem fordernd, fast aggressiv auftretenden Germont kann sie mit damenhafter Noblesse, aber auch todesbewusster Resignation überzeugen. Nur wenn sie im dritten Akt immer wieder gaumige Töne produziert, zeigt sich, dass an der Partie technisch noch einiges zu arbeiten wäre. Vom Chor der Deutschen Oper am Rhein hört man zuverlässige Solidität, von den Duisburger Philharmonikern viel Willen zur Gestaltung und zur Formung expressiver Details, aber auch unschön schrille Violinen und grob-lautstarke Momente.

Lukas Beikircher sucht nicht nur die ätherische Schönheit der Verdi’schen Kantilenen und die sanfte Pianissimo-Verzauberung, sondern will die Musik am dramatischen Geschehen orientieren und folgt damit Verdis Intentionen. Das Legato bekommt bei ihm Gewicht, die Phrasierung wird beredt. Das Tempo unterstreicht die untergründige Spannung, das Getriebensein der Menschen auf der Bühne. Auch wenn der Dirigent damit manchmal den großen Bogen opfert: sein Konzept hat gute Argumente für sich. Das alles ändert nichts daran, dass diese „Traviata“ als Beitrag zum Verdi-Gedenkjahr und als Ergänzung des Rheinopern-Repertoires verzichtbar ist.