Reales Drama: „Die Kinder von Opel“ am Schauspielhaus Bochum

OpoelEnde des Jahres schließt das Opel-Werk in Bochum für immer. Der Automobilhersteller kam Anfang der 1960er Jahre und läutete den Strukturwandel ein: Die ersten Zechen in Bochum hatten damals längst dicht gemacht, Opel war der Hoffnungsträger. Sein Ende hinterlässt ein Trauma.

Das Schauspiel Bochum, traditionell stark verwurzelt im Alltagsleben der Stadt, leistet schon seit einem Jahr kreative Traumatherapie mit seinem „Detroit-Projekt“. Einen Abschluss-Beitrag lieferte nun die Künstlergruppe „kainkollektiv“: Im Theater unter Tage, der kleinsten Spielstätte des Schauspielhauses, hatte „Die Kinder von Opel“ Premiere.

„kainkollektiv“, das sind Mirjam Schmuck und Fabian Lettow. Konzept, Regie und Text stammen von ihnen, und sie benötigen für ihren Abend keinen einzigen professionellen Schauspieler. Mit Mitteln des Theaters, der Performance, der Recherche holen sie das reale Drama auf die Bühne – und lassen keine „Typen“ zu Wort kommen – sondern echte Menschen. Den Großteil des 75-minütigen Abends verbringen die Zuschauer damit, sich die acht Stationen der Bühne zu erlaufen, in denen diese „Kinder von Opel“ ihre Geschichten erzählen.

Da ist die 12-Jährige, deren Opa Opelaner war. Sie sagt, dass sie sich einen Park auf der freiwerdenden Industriefläche wünscht, und dass sie den Anblick der schmutzigen Arbeiter beim Essen im Schnellrestaurant manchmal auch etwas ekelig fand.

Da ist der gelernte Zerspanungsmechaniker, der noch immer bei Opel am Band arbeitet. Im Live-Interview erzählt er, was in seinem Zwei-Minuten-Takt alles zu tun ist, berichtet von der Isolierung im Kotflügel, von Leitungen und Schläuchen, die im Motorraum verbunden werden müssen, von der Gasleitung im hinteren Radkasten rechts. Er braucht länger als zwei Minuten, um seine Arbeit zu beschreiben.

Da ist die Osteopathin, die die körperlichen und emotionalen Blockaden der Opelaner behandelt, und der Mann, der in Herne mit Leidenschaft ein Opel-Museum führt.

Eingebunden sind ihre Geschichten in eine aus dem Off gesprochene Erzählung, die Illustratorin Julia Zejn mit animierten, an die Wand projizierten Zeichnungen lebendig werden lässt: Kurz vor Ende der letzten Schicht ist das Opel-Werk einfach aus „Botown“ verschwunden. „Es war unser Werk, also haben wir es eingepackt und mitgenommen“, heißt es am Ende – „unsere eigene Transfergesellschaft“. Wieder aufgebaut wurde es bei General Motors im Zentrum von „Motown“ (Detroit), also „dort, wo es herkommt“.

Dass diese Verbindung einzelner Erzählungen kein ganz rundes Bild ergeben – geschenkt. Der Abend leistet einiges, bietet unbekannte Perspektiven auf ein zuende gehendes Stück Industriegeschichte, holt einmal mehr die Stadt ins Theater und bringt das Theater in die Stadt. Er bespielt eine künftige Leerstelle, und er holt ein Thema ganz nah heran, das für einen Gutteil des Theaterpublikums sonst ziemlich weit weg ist.

Die nächsten Termine stehen hier.




Kreativ aus der Krise: Eine ziemlich verrückte Theatertour durch Ruhrstadt

2014-09-13 11.29.37Vier Jahre nach Ende der Kulturhauptstadt reflektieren vier Künstlergruppen, was nach RUHR.2010 geworden ist. Der gemeinsame, sechseinhalbstündige Abend heißt „54. Stadt“, spielt in Mülheim und Oberhausen, und er gerät zu einer General-Abrechnung mit dem Konzept der Kulturhauptstadt, die Kreativwirtschaft als Identitätslückenfüller zu installieren. Produziert wurde die Tour von „Urbane Künste Ruhr“ – also ausgerechnet jener Organisation, die das Erbe von RUHR.2010 pflegen und die Kreativwirtschaft weiter befeuern soll.

So weit, so subversiv – und nicht nur das. Es ist ein ziemlich verrückter Abend, eine gezielte und produktive Überforderung der Zuschauer. Ich habe mit fremden Menschen getanzt, einen „Transgender-Cocktail“ kreiert, in einer Privatwohnung Dehnungsübungen absolviert, phasenweise nur einsilbig gesprochen, mir einen Schnurrbart malen lassen und in einem Waschsalon über mein Verhältnis zu Eigentum und Besitz diskutiert. Es ist ein Abend ohne lineare Erzählstruktur oder Abfolge; jeder Teilnehmer erlebt zwangsläufig etwas anderes.

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Diskussion über Eigentum und Besitz im Waschsalon. Foto: Katrin Pinetzki

Der Beginn versetzt zunächst alle in die gleiche Ausgangslage: Wir befinden uns im Jahr 2044, lauschen im Mülheimer Ringlokschuppen einem Live-Konzert der Frauenband „Die Planung“. Vor 30 Jahren, 2014, seien sie zum letzten Mal aufgetreten. Dann schaltet sich eine Nachrichtensprecherin zu. Offenbar gibt es Unruhen da draußen. Nach und nach wird klar: Im Jahr 2014 wurde aus den 53 Städten des Ruhrgebiets die „Ruhrstadt“, die 54. Stadt, eine zentral verwaltete Metropole des Kreativsozialismus. Jeder musste plötzlich Künstler sein, und jede Stadt eine Sparte: Dortmund wurde Modestadt, in Wesel lebten nun Literaten, in Oberhausen Transvestiten. Doch jetzt haben die Menschen genug. Es brodelt, Anarchie bricht aus.

Den ersten Teil des Abends konzipierte „kainkollektiv“ (Fabian Lettow, Mirjam Schmuck). Sie inszenierten eine „performative Installation“, eine von Chor- und Soprangesang (Kerstin Pohle) begleitete Reflexion übers Fallen, Verfallen, Zerbrechen: Häufig offenbart sich erst im Moment des Verlustes der Wert. „Was, wenn das Beste an den Dingen die Reste wären?“ In der Ruhrstadt leben wir, „wo die Reste sich versammeln“. Aber: „Alles, was gut ist, kommt wieder – und alles, was gut vermarktbar ist, kommt immer immer immer wieder.“ Heute sind die Körper der Kreativen die Ressource, die abgebaut wird wie früher die Kohle, so die These – Bewältigung der Krise mit Kreativität? Oder nur auf Kosten der Kreativen?

Einige Denkanstöße für die Besucher, die sich im Saal des Ringlokschuppens frei bewegen und das multimediale Geschehen aus Foto und Film, Performance, Gesang und Percussion-Klängen verfolgen, mit den Augen ständig verwirrt nach Halt suchend.

Doch wie geht es weiter? Wie wollen wir in Zukunft leben? Darüber nachzudenken werden die Teilnehmer an „54. Stadt“ nicht nur aufgefordert, sie werden selbst zu Anarchisten, die auf den Straße und in den Häusern um die Zukunft der Stadt kämpfen müssen. Darum geht es im zweiten Teil. Man entscheidet vorab, ob man mit der Gruppe „LIGNA“ in Mülheim einen „Audiowalk“ unternehmen oder mit „Invisible Playground“ an einem interaktiven Spiel in Oberhausen teilnehmen will.

Wer nach Oberhausen fährt, sucht sich vier anarchische Mitstreiter, bekommt eine Spielkarte, Energieriegel und die Aufgabe, die fünf „Säulen der Demokratie“ zu retten. Dazu müssen die Anarchisten wie bei einer Schnitzeljagd (oder einem Computerspiel?) skurrile Aufgaben in Wohnungen, Bars und, Geschäften erledigen, während herumlungernde Banden versuchen, sie daran zu hindern. Ein großer Spaß, der die Sicht auf die Stadt erweitert und einen eigenen Abend verdient und getragen hätte.

Einweisung in den Anarchismus. Foto: Katrin Pinetzki

Einweisung in den Anarchismus. Foto: Katrin Pinetzki

Doch es ging noch weiter, zum Finale im kooperierenden Theater Oberhausen. Dort zeigten „copy & waste“, eine Gruppe um Autor Jörg Albrecht und Regisseur Steffen Klewar mit dem Oberhausener Ensemble, den Showdown zwischen Kreativarbeitern und „echten Menschen“ ganz konventionell auf der Bühne, erzählt als Liebesgeschichte, verpackt in eine schrille Reality Show: Julieta und Rick wurden schon als Kinder im Namen der Kreativität missbraucht, wollen gemeinsam aus Ruhrstadt fliehen und setzen dabei auf Authentizität.

Jörg Albrechts gerade erschienener Roman „Anarchie in Ruhrstadt“ liefert die gemeinsame Erzählung, die Matrix für alle vier Produktionen. So gibt es zwar ein erkennbares Konzept, doch den roten Faden müssen die Zuschauer immer wieder selbst suchen. Das  ist anstrengend, an- und aufregend.

Der Text entstand für den Westfälischen Anzeiger, Hamm




Die Gespenster, die Lessing rief

Das Stück Lessings Gespenster im Schauspiel Dortmund, inszeniert vom kainkollektiv. Foto: Birgit Hupfeld

Das Stück Lessings Gespenster im Schauspiel Dortmund, inszeniert vom kainkollektiv. Foto: Birgit Hupfeld

Lessings Nathan der Weise ist ein Klassiker, gefeiert als Versöhnungsdrama der Toleranz zwischen den Weltreligionen. Die Künstlergruppe „kainkollektiv“ sperrt sich allerdings gegen diese Lesart – und sucht in „Lessings Gespenster – Eine Heimsuchung nach Nathan der Weise“ die anarchistische Seite des Aufklärers. Die Stückentwicklung feierte jetzt ihre Uraufführung im Dortmunder Schauspiel als On Stage Produktion.

Die Zuschauer stehen in langer Schlange am Hintereingang des Schauspiels, laufen durch die Katakomben des Theaters, lesen ein Schild mit den Worten „Lessings Gespenster. Rumlaufen erforderlich“, um dann mitten auf der Bühne zu landen, ohne Stühle, nur mit Raum, der erobert werden will. Alles anders als gewohnt. Ein sinnstiftender Einstieg, wenn es darum geht, einen Klassiker deutscher Literatur gegen den Strich zu bürsten oder ihm zumindest Geheimnisse zu entlocken.

Die Bühne ist zweigeteilt durch eine riesige Holzwand. Auf der einen Seite sitzt eine junge Frau (Merle Wasmuth) im barocken Kostüm in einem Glaskasten, auf der anderen liegt schlafend der fast 60köpfige Dortmunder Sprechchor in Tüllröcken (Ausstattung Oliver Helf). Ein Bär mit Deutschlandbinde umarmt die Zuschauer, drei Musiker spielen Haydn. Ein Hauch von Spannung, auch von Melancholie liegt in der Luft. Das Tor zu einem Traum, einem Zauberschloss, einer seltsam schönen Reise.

Es gibt keine Handlung, keine Geschichte, sondern nur den Sturz in Gedanken und Emotionen. Das „kainkollektiv“, bestehend aus Mirjam Schmuck, Alexander Kerlin und Fabian Lettow, verweigert sich der Eindeutigkeit. Den Weg, den der Zuschauer an diesem Abend einschlägt, muss er selbst wählen. Der Flyer immerhin verrät: Lessings Frauenfiguren stehen im Zentrum, die jung, schön und am Ende doch immer Opfer sind. So wird Merle Wasmuth mal zu Emilia Galotti, mal zu Sara Sampson und immer wieder zu Recha, der Tochter von Nathan, die am Ende, wenn alle sich in den Armen liegen, alles verloren haben wird: ihren Liebhaber, ihren Vater, ihren Glauben. Die junge Frau, egal in welcher Gestalt, ist gefangen in der Rolle, die die Gesellschaft ihr auferlegt hat, erdrückt von Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann – das gilt für die Figuren, aber auch für die Schauspielerin, für den heutigen Menschen. Verzweiflung und die Sehnsucht nach Freiheit und Ausbruch sprechen aus ihren Worten. „Das ist nicht zu verkraften, dass da immer schon Etwas im Raum ist, wenn wir erscheinen.“

Diesen Konflikt von Bild und Ich setzt das kainkollektiv beeindruckend um: Immer wieder treffen die Schauspielerin und ihre riesige Videoprojektion aufeinander, ist sie plötzlich umringt von dem auf sie einredenden Sprechchor oder erschlagen von dem riesenhaften Bild ihres Erziehers Nathan. Die Künstlergruppe greift aber auch das Paradoxon von Lessing selbst auf: Gefeiert als Vater der Toleranz und Versöhnung, hat er gelebt als saufender, spielsüchtiger Sozialfall.

Das Publikum kann sich mit diebischer Freude auf das Gebräu von Zitaten (von Joseph Beuys über Walter Benjamin bis zu Richard Wagner) stürzen. Oder aber es lässt sich fallen in den Sog dieses Abends, in die rauschhaften Bilder, Klänge und Emotionen – der vor allem getragen wird durch die großartige, charismatisch und zwingend spielende Merle Wasmuth, die in jeder Minute Zentrum der Inszenierung ist. Ein Stück, das mal heiter, mal verzweifelt und traurig, die Zuschauer mit vielen Fragen entlässt.

Die nächsten Termine: 22. April (18 Uhr), 6. Mai (18 Uhr)

P.S.: Kurzer Nachtrag zu dieser Besprechung (die so auch in der Westfälischen Rundschau erschienen ist): Während ich die Offenheit des Stücks durchaus mochte, habe ich im Nachhinhein gehört, dass es bei der Premiere auch Zuschauer gab, die von der Bühne geflüchtet sind.