Eher das böse Grinsen: Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ zeigt in Essen überraschend aktuelle Seiten

Für eine fröhliche Faschingsunterhaltung taugt „Das Land des Lächelns“ sowieso nicht. Aber Sabine Hartmannshenns ehrgeizige Regie-Bearbeitung macht Franz Lehárs Operette in Essen eher zum Land des bösen Grinsens.

Atmosphärisch dicht: Die erste Szene von Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ am Aalto-Theater Essen. Die Bühne ist von Lukas Kretschmer. (Foto: Bettina Stöß)

Während draußen unverdrossene Närrinnen und Narren den Stürmen trotzten, brauten sich drinnen auf der Bühne des Aalto-Theaters vor der Fassade eines Zwanziger-Jahre-Etablissements die braunen Stürme zusammen, die vier Jahre nach der Uraufführung von Franz Lehárs „romantischer Operette“ zahllose Künstler aus Deutschland wegfegen und der abgedreht-ironischen Gattung die kritischen Zähne glattschleifen sollten.

Die Inszenierung von Hartmannshenn, die im Dezember am Aalto Premiere hatte, schafft zunächst mit einer sorgfältig durchgestalteten Eingangsszene einen atmosphärischen Hintergrund: eilige Passanten, Zeitungsjungen, Straßenkehrer, eine etwas zu aufdringlich gestylte Schönheit und ein Flugblatt-Verteiler in SA-Uniform. Man bewundert die atmosphärische Treffsicherheit von Lukas Kretschmers Bühne. Dem Theater strebt nobel gekleidetes Publikum zu: Gegeben wird „Die gelbe Jacke“, jene China-Operette, die Lehár 1923 herausbrachte. Wenig erfolgreich, sollte sie sechs Jahre später dem Welterfolg „Land des Lächelns“ als Grundlage dienen.

Jessica Muirhead als Lea (Lisa). (Foto: Bettina Stöß)

So alltäglich das Treiben anmutet: die Atmosphäre ist lastend. Unterschwellige Aggressivität wird manifest, als ein Radfahrer einen älteren Herrn anfährt. Der Star der Abendvorstellung naht und wird vor dem Bühneneingang gefeiert. Die Menge verläuft sich, ein Herr bleibt zurück. Es ist der Darsteller des Leutnant Gustl, und er ahnt, dass seine bittersüße Sehnsucht bei der Diva nicht erfüllt wird: „Freunderl, mach dir nix draus‘“ ist ihr wohlgemeinter Rat an ihren „besten Freund“. Später, auf der Seitenbühne, als Lea, die im Stück die Lisa spielt, mit dem Gasttenor „bei einem Tee á deux“ flirtet, wird der abgeblitzte, eifersüchtig spähende Kollege beziehungsvoll eines der Flugblätter von draußen auf den Schminktisch legen: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen…

Neuer Rahmen für die Erzählung

Es sind solche vielsagenden Gesten, Zeichen und Signale, die Sabine Hartmannshenns „Land des Lächelns“ zu einem dicht gewebten, virtuos konstruierten Theater-Ereignis machen. Details, über denen nie das Ganze aus dem Blick gerät, sondern die immer schlüssig auf den großen Bogen der Erzählung hingeordnet sind. Und die Regie zertrümmert nicht, sondern erzählt, aber in einem neuen, aus der Geschichte des Stücks und seiner Zeit entwickelten Rahmen. Nicht mehr das noble Wiener Aristokratenhaus, sondern das Theater ist der Schauplatz. Die exotische Pracht des Fantasie-Chinas aus dem zweiten Akt wird nicht dekonstruiert, sondern zitiert: als glamouröse Bühnenshow in einem Varieté, dicht an der Unterhaltungskunst der Zwanziger Jahre und näher an Lehárs originaler „Gelber Jacke“.

Im Gegensatz zu Verfremdungsversuchen und Subtextlektüren, die in der Operette nicht selten desaströs ausgehen, schafft es die Essener Inszenierung, die Liebesgeschichte nicht als trivial zu denunzieren, sondern im Gegenteil in berührenden Szenen zu unterstreichen. Die Frage nach der Maske, die Menschen tragen, spielt dabei eine entscheidende Rolle, aber auch die Fremdheit, allerdings anders gefasst als von den Librettisten Ludwig Herzer und Fritz Löhner-Beda: Der Darsteller des Sou-Chong ist nicht nur Konkurrent in amourösen Dingen, sondern gerät als Fremder („Lernt erst mal richtig Deutsch“ schallt es vom Balkon) ins Fadenkreuz eines Bühnen-Publikums, das vom „Gauleiter“ bis zur graumausigen Mamsell, die sich ihr Bier selbst mitgebracht hat, durch Susana Mendozas Kostüme liebevoll charakterisiert wird.

Die China-Welt bleibt glamouröse Show: Jessica Muirhead (Lisa) und Tänzerinnen. (Foto: Bettina Stöß)

Das Klischee-China ist bunte Show, aber die Menschen, die in einer zunehmend feindlichen Gesellschaft Fremde werden, sind bitter real: Der Conférencier (im Original der chinesische Obereunuch), beschimpft als „Judenbengel“, wird hinausgeschleppt und kehrt schmerzverkrümmt zurück; der fremde Tenor schafft es gerade noch, zum Ausgang hinauszuhuschen – in Hut, Schal und Mantel wie einst der strahlende Uraufführungs-Chinaprinz Richard Tauber, den die Nazis ins Exil getrieben haben. Und wer denkt nicht an Fritz Löhner-Beda? Lehár verdankt seinem loyalen Freund fünf Libretti und hat (nach allem, was wir inzwischen wissen) nichts für ihn getan, als ihn die Nazis 1938 verhafteten, in Buchenwald erniedrigten und 1942 in Auschwitz erschlugen.

Fremd und einsam: Carlos Cardoso als Darsteller des Prinz Sou-Chong. (Foto: Bettina Stöß)

Der dritte Akt nimmt „eine neue Wendung“ nicht nur im China der Showbühne: Die frauenverachtenden Worte Sou-Chongs („Du bist hier nichts als eine Sache“) treffen mit ungedämpfter Wucht. Die Feststellung, ein Chinese könne sogar „sein Weib köpfen lassen“, quittiert der Uniformierte auf dem Balkon mit Beifall. Beim „Zig, zig, zig“-Duett reicht es den Damen im Bühnen-Publikum, viele verlassen türenknallend den Raum, während Chinamädels am Lederhalsband vorgeführt und herumgetrieben werden – Objekte der Gewalt-Geilheit, die an die Shows mit Josephine Baker in den Zwanzigern erinnern. Lisa allerdings, die beklemmend beziehungsreich in der Dirndl-Anmutung ihres Kleids von Sehnsucht nach der „Heimat“ singt, findet ihren Frieden mit dem zuprostenden Obernazi und dem in prächtigem österreichischem Rot-Weiß-Rot aufgetakelten Gustl: Auf sie wartet ein weißer Pelz. Als die Fassade des Theaters wieder auftaucht, prangen dort Hakenkreuzfahnen und ein Plakat, das „Land des Lächelns“ ankündigt…

Überraschend aktuelle Seiten

So verwebt Sabine Hartmannshenn die Geschichte der Lehár-Operette und die Zeitgeschichte ihrer Entstehungsstationen virtuos mit einem politischen Kommentar, der dem Stück keine Gewalt antut, sondern aus genau ausgearbeiteter Distanz befragt und seine überraschend aktuellen Seiten herausstellt. Dass sie dabei an die Grenzen der Gattung geht, schadet nicht, sondern lässt neu erleben, wie relevant Operette jenseits nostalgischer Unterhaltung sein kann.

Wenn dann auch die musikalische Umsetzung stimmt, wird ein spannender, berührender Abend daraus: Stefan Klingele am Pult weiß, wie weich und flexibel Lehárs Geigen geführt werden, wie sich die Bläser auf samtigem Streicherklang tragen lassen sollten statt ihn aufzureißen, wie die Balance zwischen der feinen Süße des Operetten-Sentiments und den auftrumpfend dramatischen Opern-Reminiszenzen herzustellen ist: Lehár, der Freund Puccinis, hat die China-Atmosphäre der „Turandot“ vorweggenommen. Anfangs schleppen die Tempi noch, aber in „Von Apfelblüten einen Kranz“ schaltet Klingele das Orchester auf höchste Schmeichelstufe.

Sorgfältig charakterisierte Figuren

Das Arioso inspiriert Carlos Cardoso zu berückenden Lyrismen, der in der Rolle des Sou-Chong überzeugend das Fremde einfängt, musikalisch aber gern die gestemmte Höhe italienischer Provinz-Provenienz einsetzt, statt den Ton elegant in die Linie einzubinden. „Dein ist mein ganzes Herz“ also eher á la „Turandot“. Frisch genesen, mit noch etwas schnupfigen Nebenhöhlen, strahlt die Stimme von Jessica Muirhead weitgehend frei, badet in den geschmeidigen Phrasierungen, charakterisiert  die sonst oft blässlich gezeichnete Lisa mit den Mikro-Färbungen expressiver vokaler Gesten.

Exemplarisch deutlich wird das im Tonfall, mit dem sie den enttäuschten Gustl beschwichtigen will. Ein erfahrener Darsteller wie Albrecht Kludszuweit füllt diese Rolle über Buffo-Tenor-Klischees weit hinaus, rückt den scheinbar so harmlosen österreichischen Leutnant an frustrierte, verschlagene Figuren heran, wie sie bei Hans Fallada oder in Heinrich Manns „Der Untertan“ auftauchen. Christina Clark erinnert als Mi fatal an die Showgirls, wie sie in den Vergnügungszentren von Berlin damals – etwa im „Haus Vaterland“ – materiell und sexuell ausgebeutet wurden. Karel Martin Ludvik gibt den „Gauleiter“ mit der stoischen Gewissheit, dass seine „neue“ Zeit kommen wird; Rainer Maria Röhr zeichnet – mit einem Intermezzo als Eunuch – sensibel den Conferencier, der die Frage nach der Menschlichkeit der Unmenschen herausschreit, bevor er von der Menge einfach überrollt wird.

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit: 1. März, 12. April, 10. Mai, 17. Juni. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/aaltomusiktheater/das-land-des-laechelns/3818/




Das Eis der Adria: Winterliche „Nacht in Venedig“ als konsequente Erneuerung der Operette am Aalto-Theater Essen

Wie nähert man sich, nach einer Generation langsamen Erstickens der Operetten-Tradition, diesem Genre des Musiktheaters heute? Noch dazu einer „Nacht in Venedig“ von Johann Strauß, die mit ihren harmlos-heiteren Verwechslungsmaskeraden nicht zu den besten Libretti von Friedrich Zell und Richard Genée gehört?

Auf dünnem Eis: Elbenita Kajtazi (Annina) und Caramello (Albrecht Kludszuweit) im winterlichen Venedig im Aalto-Theater. Foto: Jörg Landsberg

Auf dünnem Eis: Elbenita Kajtazi (Annina) und Caramello (Albrecht Kludszuweit) im winterlichen Venedig im Aalto-Theater. Foto: Jörg Landsberg

Das Aalto-Theater hat sich nach verflixten sieben Jahren der Enthaltsamkeit entschlossen, für die erste Operetten-Neuproduktion der Intendanz Hein Mulders auf einen local hero zu setzen. Man verpflichtete Bruno Klimek, Professor für szenische Ausbildung im Studiengang Gesang/Musiktheater an der Folkwang Universität der Künste.

Das Ergebnis war zu erwarten: Klimek macht mit seinem Bühnenbildner Jens Kilian und der kreativen Kostümfrau Tanja Liebermann die gute alte Operette nackt. Er streift ihr den bunten Karnevalsdress ab, reißt ihr die mondänen Ballroben vom Leibe und schält sie aus den folkloristischen Fischermädchenkleidchen. Aber mehr noch: Er entblößt sie von den veralteten Sentenzen Zells und Genées, schreibt die Dialoge quasi alle neu, greift vereinzelt auch in die Gesangstexte ein. Manchmal verfehlt er den Stil: Dass Herrn Delaqua, seines Zeichens Senator der Serenissima, etwas „glatt am Arsch vorbei“ geht, ist ein gutes Stück zu pöbelhaft als Ersatz für Wiener Wortwitz.

Niente Carnevale!

Die Entscheidung greift tief ein, ist aber gut begründbar: Klimeks gereimte Pointen sind – wie die alten Albernheiten auch – Geschmackssache, aber sie sitzen und sie kommen auch an. Das Publikum bricht selten in offene Heiterkeit aus, schmunzelt aber doch über manche Pointe. Vor allem kann Klimek so die Konstellation der Figuren schärfen: Die Mädels Annina und Ciboletta sind nicht mehr die koketten Dummchen, sondern profilieren sich über die überlebenswichtige Fischhandels- und Zofen-Schläue hinaus als selbstbewusste weibliche Wesen. Sie lassen sich von den Herren der Schöpfung nichts sagen. Sie spielen ihr eigenes Spiel und schauen auf ihr eigenes Vergnügen.

"Frutti di Mare!" bietet Elbenita Kajtazi alias Annina feil. Foto: Jörg Landsberg

„Frutti di Mare!“ bietet Elbenita Kajtazi alias Annina feil. Foto: Jörg Landsberg

Niente Commedia dell’arte, niente Carnevale: Tanja Liebermann verordnet der Schaulust Askese, wo sie das Historisch-Dekorative suchen will. Schon als Christina Clark, alias Ciboletta, aufgeregt vor dem geschlossenen Vorhang herumstöckelt, wissen wir: Ihr gelbes Ölzeug eignet sich vor allem zum Schutz, wenn sich ostfriesische Himmelsfluten nach südlich der Alpen verlagern und „aqua alta“ droht. Öffnet sich der Vorhang, erleben wir, dass auch in Venedig zur Karnevalszeit Winter herrscht: Es schneit, die Menschen haben Mäntel an, zittern, frieren, rutschen auf Glatteis aus.

Dass es dabei schmerzhafte Stürze geben kann, macht Martijn Cornet als Pappacoda bewusst. Der Arme ist Neapolitaner und mit venezianischen Klimafallen nicht vertraut. Und je mehr billigen Korbflaschenwein er in sich hineinschüttet, desto heftiger kommt er zu Fall. Liebermann hat ihn mit fischgrätengemusterter Hose, Sakko, Schal, Scheiter und Brille ausstaffiert wie einen Dramaturgen der siebziger Jahre – wäre da nicht der Riesentopf mit, nun ja, Spaghetti drin. Klimek lässt die Figur immer weiter in Slapstick abgleiten. Das funktioniert nicht; auch das Publikum nimmt die traurige Show regungslos hin.

Lustvoll ausgestellte Klischees

Dekor spielt in Klimeks Inszenierung eine Rolle, wenn er nämlich ganz Venedig dazu erklärt: Jens Kilian hat in den Hintergrund der weiträumigen Aalto-Bühne ein Spielzeug-Venedig gebaut, an dem sich in regelmäßigen Abständen riesige Kreuzfahrtschiffe vorbeischieben. Dass die Miniatur-Palazzi wackeln und von einem Bühnenarbeiter (Hans-Günter Papirnik) immer wieder zurechtgerückt werden müssen, dass sie schließlich komplett zusammenstürzen, ist mehr als eine Anspielung auf die aktuelle Debatte um die Schäden, die diese Riesenpötte an der historischen Bausubstanz verursachen. Klimek entlarvt, dass es gar nicht um Venedig geht – die Stadt ist für die geschätzt 30 Millionen jährlicher Touristen eben vor allem eine Dekoration für schöne Tage.

So stellt die Regie Klischees in Frage – oder stellt sie lustvoll aus, bis sie überdreht in sich zusammenbrechen. In der fast schon mathematisch choreografierten Exposition des ersten Akts rast regelmäßig eine kreischende Weiberhorde über die Bühne: „Er“ wird erwartet, der Herzog, der Macho, dem alle weiblichen Wesen gern und willig zu Füßen liegen. Teenie-Starkult mit reifen Damen, das ist erst witzig, dann nervig. Aber so ist es kalkuliert.

Natürlich werden die Erwartungen enttäuscht: Eine riesige Gangway herab schreitet nicht der Herzog, sondern stolpern die ganz „normalen“ Männer, etwa Caramello, der Leibbarbier des Herzogs. Albrecht Kludszuweit gestaltet diese Rolle mit dem Hintergrund eines operettenerfahrenen Sängers und Darstellers, der noch dazu die Höhenbrillanz und den Sinn für Phrasierung hat, um Schlager wie „Komm in die Gondel“ zu blitzenden musikalischen Sternen zu veredeln.

Die Herrlichkeit des Gockels ist in wenigen Sekunden vorbei

Als dann der tolle Mann endlich eintrifft, ist der Auftritt eine unspektakuläre Enttäuschung für die Ladies. Dennoch reißen sie Dmitry Ivanchey erst mal die Kleider vom Leib, so dass aus der schillernden Adriano-Celentano-Figur ein Normalo in biedern Boxershorts wird, raffen ihre Beute und eilen von hinnen. Die Dekonstruktion der „Gockelherrlichkeit“, wie es Klimek im Programmheft nennt, vollzieht sich in wenigen Sekunden. Ivanchey singt sein „Der Mond hat schwere Klag‘ erhoben“ zwar dynamisch differenziert, aber ohne Charme und Schmelz – da fehlt die Erfahrung mit dem Idiom der Operette.

Auf der weiten, klar strukturierten und mit stimmungsvollen Symbolbildern gestalteten Bühne treibt die muntere Handlung immer weiter ins Absurde. Am Ende des zweiten Aktes schiebt sich der Chor des Aalto-Theaters – dem es spürbar schwer fällt, die Leichtigkeit der Darstellung, wie sie die Operette braucht, zu realisieren – in verblichenen Ballkleidern und aufgetürmten Frisuren aus der Zeit des Endes der Serenissima aus dem Hintergrund. „Karneval ruft zum Ball, der ist Souverän“ wird zum Totentanz, die Gesellschaft bricht auf dünnem Eis ein und versinkt.

Gespenster-Karneval der Vergangenheit: Der Opernchor des Aalto-Theaters. Foto: Jörg Landsberg

Gespenster-Karneval der Vergangenheit: Der Opernchor des Aalto-Theaters. Foto: Jörg Landsberg

Der dritte Akt verschärft die Groteske, wenn im Nebel nur noch Namen gerufen werden und Karel Martin Ludvik, der während der zweidreiviertel Stunden ständig seine Frau sucht, vollends zum wiedergängerischen Gespenst wird. Der zügel- und regellose Karneval wird zum verwirrten Endspiel, in dem einsame Menschen im Dunkel jede Orientierung verlieren. Und die Lösung? Die ist so angeklebt wie (fast) jedes Operetten-Happy-End: Man verabredet sich zum nächsten Karneval!

Luxus-Besetzung in der Fassung von Erich Wolfgang Korngold

Liebestraum im Winter: Liliana de Sousa (Barbara) und Carl Bruchhäuser (Enrico Piselli). Foto: Jörg Landsberg

Liebestraum im Winter: Liliana de Sousa (Barbara) und Carl Bruchhäuser (Enrico Piselli). Foto: Jörg Landsberg

Das Aalto-Theater Essen spielt die Fassung von Erich Wolfgang Korngold. Kapellmeister Johannes Witt lässt mit den Essener Philharmonikern die farbige, klangsinnliche Instrumentierung leuchten und zeigt sich – als versierter Dirigent im Ballett – vor allem mit Gespür für rhythmische Finessen. Wo Strauß auf Marschmusik setzt, ist Witt in seinem Element, wo er die flexible Agogik des Walzers freilassen sollte, reagiert er zu akkurat. Die Streicher sind in der Balance des Klangbilds leicht unterbelichtet, das Schlagzeug trumpft zu sehr auf. Aber Strauß‘ Operette ist ja auch in Berlin uraufgeführt worden – so ist ein preußisch-zackig aufgeputztes Venedig, das ein wenig nach Paul Lincke klingt, vielleicht gar nicht so unangebracht.

Die Besetzung am Aalto ist luxuriös – es zahlt sich eben aus, wenn ein Theater sorgfältige Ensemblepflege betreibt. Elbenita Kajtazi (Annina) turnt mit Luftballons in Fisch- und Krustentierform durch den Zuschauerraum auf die Bühne und preist ihre „frutti di mare“ mit einem Sopran an, der so frisch ist, wie der Meeresfang sein sollte. Die hoffnungsvolle Sängerin wechselt im Sommer an die Hamburgische Staatsoper, wo sie in Robert Schumanns Faust-Szenen debütiert. Kürzlich hat die gebürtige Kosovarin den Publikums- und den Dritten Preis im ersten Glyndebourne Opera Cup gewonnen

Christina Clarks Silberstimme ist seit Jahren eine Stütze des Musiktheaters, auch als Ciboletta setzt sie kratzbürstigen Charme und gewitzte Schläue als Lockmittel und Waffe ein. Liliana de Sousa hat eine wunderschöne Einlage zu singen und wertet mit ihrer cremigen Stimme die Rolle der Barbara auf, die sonst nur mit ihrem „Neffen“ Enrico, dem jungenhaften Carl Bruchhäuser, auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen für eine Liebesnacht ist. Peter Holthausen und Karl-Ludwig Wissmann bilden mit Karel Martin Ludvik das Trio der soignierten Senatoren, die vergeblich versuchen, ihre Frauen im Zaum zu halten – keine Chance: Marie-Helen Joël und Susanne Stotmeister wissen ihnen zu entkommen.

Die Frage, wie man heute Operette macht, hat das Aalto-Theater jedenfalls mit einer mutigen Inszenierung für sich entschieden: Keine billige Aktualisierung, sondern konsequente Erneuerung.

Die nächsten Vorstellungen: 7./10./16./21./29. Juni, 11./13. Juli, Wiederaufnahme am 14. September. Info: www.theater-essen.de