Zwischen historischem Spektakel und modischer Revue: Händel-Festspiele und Premieren auf deutschen Bühnen

Georg Friedrich Händel. Stich von William Bromley nach einem Gemälde von Thomas Hudson.

Georg Friedrich Händel. Stich von William Bromley nach einem Gemälde von Thomas Hudson.

Intriganten und Tyrannen, Liebende und Leidende, Herrscher und Heroen: Georg Friedrich Händels Opern bringen ein Personal auf die Bühne, das denkbar weit von unseren Alltagserfahrungen entfernt ist. Ihre hochfahrenden Affekte, ihre extremen Leidenschaften wirken in einem Zeitalter, das sich – zumindest vordergründig – leidenschaftslosem Pragmatismus verschreibt, seltsam überspannt, die Beziehungen und Verflechtungen zwischen den Personen schematisch und vorhersehbar. Händel hat 42 Opern und 14 Pasticci, Bearbeitungen und fragmentarische Bühnenwerke hinterlassen: Nach seinem Tode wurden sie nicht mehr aufgeführt. Heute ist das anders.

2014 werden – so listet es die Website www.operabase.com auf – weltweit in 38 Städten 48 Händel-Produktionen in 201 Aufführungen gezeigt. Damit rangiert Händel zwar hinter Musiktheater-Giganten wie Verdi, Wagner oder Puccini, steht aber nahe vor dem Anschluss an die statistische Spitzengruppe der weltweiten Opernaufführungen.

Spätestens seit den Feiern zu Händels 300. Geburtstag 1985 gibt es ein neues Interesse an den Opern und für die Szene geeigneten Oratorien der musikalischen Leitfigur aus Halle an der Saale. Sicher, Händel-Opern wurden seit Ende des 19. Jahrhunderts hin und wieder ausgegraben, ehrfürchtig bewundert von den Zeitgenossen wie wiederentdeckte Artefakte aus längst vergangener Zeit: kunstfertig, aber fern und fremd. Und es gab auch die Händel-Festspiele in Göttingen seit 1920 und Halle seit 1922. Aber sie waren der Initiative einzelner Enthusiasten entsprungen und begannen erst allmählich auf die Theaterlandschaft auszustrahlen.

Händel-Renaissancen gab es einige: Nationalsozialistische Kulturpolitiker wollten in ihm einen deutsch-nationalen Komponisten erkennen, die DDR entdeckte in ihm den Aufklärer und Erzieher – nachzulesen in den Ergebnissen einer Forschungsgruppe, die sich seit 2010 in Halle mit der „Händel-Rezeption in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts“ beschäftigt hat. Doch als fester Bestandteil des Repertoires abseits spezialisierter Festivals oder individueller Interessen sind Händel-Opern erst seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts anzusprechen.

Woran liegt das? Entdeckt eine Zeit, in der postmoderne Beliebigkeit, kühle Kalkulation und pragmatische Selbstoptimierung den einsamen, leistungsorientierten Alltag bestimmen, die maßlosen Emotionen der Händel’schen Opernhelden wieder? Haben wir ein Gespür für die Grenzen der menschlichen Selbstbestimmung zurückgewonnen – sichtbar etwa in der Debatte um Willensfreiheit versus genetische oder biochemische Determination? Erkennen wir in den Personen auf der Bühne, die im Netz ihrer Affekte und Passionen verstrickt ihre Freiheit einbüßen, die an den unsichtbaren Fäden eines undurchschaubaren Schicksals hängen, unsere eigene Existenz wieder: ausgeliefert an anonyme Großstrukturen, eingebunden in unbeherrschbare Systeme, kontrolliert von dunklen Netzwerken, unterworfen modernen Götzen, getrieben von Beautywahn und Bankenkrise?

Das neue Interesse für Händel hat wohl nicht nur mit musikalischer Entdeckerfreude rund um die historisch informierte Aufführungspraxis, sondern auch mit unserer Befindlichkeit zu tun – wie unscharf solche Kategorien auch sein mögen. Die postmoderne Spaßgesellschaft ließ sich in den neunziger Jahren in München ihren Händel genießerisch und lasziv-ironisch zurichten. Das ist vorbei. Die Suche nach überzeugenden szenischen Lösungen führt über den Rückgriff auf barocke Affektdarstellung in Gestik und Bewegung über existenzielle Zuspitzung durch das Hässliche, das Fragmentarische, die Collage von Raum und Virtualität, etwa durch Video und Licht, bis hin zur beziehungsreichen, ironisch aufgebrochenen Revue, wie sie Stefan Herheim mit „Serse“ („Xerxes“) in Berlin und Düsseldorf überaus erfolgreich vorgeführt hat.

Das Karlsruher Staatstheater. Foto: Häußner

Das Karlsruher Staatstheater. Foto: Häußner

Das historische Ausdrucksrepertoire für eine zeitgenössische Expressivität fruchtbar zu machen, ist ein Ziel der Opernpremiere bei den Karlsruhe Händel-Festspielen 2014: Regisseur Benjamin Lazar will die Sprache der Barockbühne ins Jetzt transferieren. Er strebt keine Imitation an, sondern schöpft aus alten Wurzeln, aber mit dem Blick des 21. Jahrhunderts. Adeline Caron und Alain Blancot schaffen ihm dafür Bühne und Kostüme für „Riccardo Primo“. Händels erste Oper mit einem englischen Helden – König Richard Löwenherz – wird ab 21. Februar als deutsche Erstaufführung im Rahmen der Hallischen Händel-Ausgabe im Staatstheater Karlsruhe erklingen – in einem Raum, der wie vor 300 Jahren von Hunderten von Kerzen erleuchtet wird. Der international beachtete Countertenor Franco Fagioli übernimmt die Titelrolle, die bei der Uraufführung 1727 der legendäre Altkastrat Senesino gesungen hat.

Ab 1. März bringen die – seit 1978 bestehenden – Karlsruher Händel-Festspiele ein Gastspiel des Mailänder Marionettentheaters Carlo Colla & Figli: „Rinaldo“ ist wie „Riccardo“ ein Sujet aus der Kreuzritterzeit und enthält einige der populärsten Arien, die Händel je geschrieben hat. Leider ist es den Karlsruher Festspielen nicht möglich, mit Wiederaufnahmen ein Festspiel-Repertoire aufzubauen oder gar die Opernproduktion ins Repertoire des Staatstheaters aufzunehmen. Grund sind finanzielle Kürzungen, die schon einige Jahre zurückliegen – und deren Revision dem Land Baden-Württemberg, immerhin eines der reichsten Bundesländer – gut anstünde.

Laurence Cummings, Künstlerischer Leiter der Göttinger Händel Festspiele. Foto: Händel Festspiele Göttingen

Laurence Cummings, Künstlerischer Leiter der Göttinger Händel Festspiele. Foto: Händel Festspiele Göttingen

Unter dem Thema „Herrschaftszeiten!“ widmen sich die Göttinger Händel Festspiele 2014 dem 300-jährigen Jubiläum der Personalunion zwischen Großbritannien und „Kurhannover“: Georg Ludwig bestieg als George I. 1714 den britischen Thron. Im Zentrum der Festspiele in Göttingen steht die kaum gespielte Oper „Faramondo“ über den legendären Stammvater der Merowinger Faramund, die in Deutschland zuletzt 1976 in Halle zu sehen war. Göttingen bringt das Werk in einer Inszenierung von Paul Curran; am Pult steht der Künstlerische Leiter der Festspiele, Laurence Cummings. Der Premiere am 31. Mai folgen bis 10.Juni fünf weitere Vorstellungen.

Zum Jubiläum präsentieren die Händel-Festspiele Halle und Göttingen einen gemeinsamen Zyklus von Kompositionen für die britischen Monarchen aus dem Haus Hannover. Gleichzeitig werden damit auch die populären Krönungshymnen Georg Friedrich Händels in einen musikalischen Kontext gesetzt, das Spektrum der Musik reicht von Psalmenvertonungen Henry Purcells bis zu einer konzertanten Sinfonie von Johann Christian Bach. So erklingen am 30. Mai in der Jacobikirche Göttingen die Musik zur Krönung Georges I. und am 7. Juni in der Stadthalle die Coronation Anthems für George II.

Für den Abend des Pfingstmontag, 9. Juni, kündigen die Festspiele eine Uraufführung an: Das „Oratorium auf das Absterben des Königs von Großbritannien Georg I.“ des Händel-Zeitgenossen Johann Mattheson steht im Mittelpunkt eines Gastkonzertes des Händelfestspielorchesters Halle. Das Werk blieb zu Matthesons Lebzeiten auf Wunsch der königlichen Familie unaufgeführt. Mit dem Werk eröffnet Halle bereits am 5. Juni in der Marktkirche seine Händel-Festspiele. In Halle steht ab 6. Juni die Oper „Arminio“ – als Erstaufführung nach der Hallischen Händel-Ausgabe – auf dem Programm. Nigel Lowery inszeniert, Bernhard Forck dirigiert.

Das Opernhaus in Halle. Foto:  Häußner

Das Opernhaus in Halle. Foto: Häußner

In Bad Lauchstädt, dem reizvollen Goethe-Theater vor den Toren Halles, lässt sich die Karlsruher Version von „Riccardo Primo“ mit einer Inszenierung in einem kleinen, den Opern Händels akustisch entgegenkommenden Raum vergleichen: Elmar Fulda setzt die Oper in Szene, die LauttenCompagney Berlin spielt unter Wolfgang Katschner. Es singen Teilnehmer des Weimarer Meisterkurses für Barockoper 2014 der Musikhochschule Franz Liszt, Weimar. Auch die Oper „Almira“. Händels Erstling, wird wieder aufgenommen: Als Höhepunkt der Festspiele 2013 gedacht, die aufgrund des Hochwassers abgesagt wurden, hatte sie im Herbst ihr Premiere am Opernhaus Halle. Dort erklingt sie am 11. Juni unter Leitung von Andreas Spering.

Und ein unterhaltsames Pasticcio aus Händels Feder – eine Zusammenstellung vorhandener Musikstücke zu einem neuen Inhalt – gibt es drei Mal in Bad Lauchstädt zu sehen: „Giove in Argo“ behandelt die amourösen Abenteuer des Göttervaters Jupiter. Das Barockensemble l’arte del mondo unter Leitung von Werner Ehrhardt bringt diese Rarität am 13., 14. und 15. Juni zu Gehör; die Inszenierung besorgt Kay Link.

Einige Schlaglichter auf das Händel-Repertoire der Opernhäuser zeigen, dass der Opernfreund inzwischen aus einer reichen Auswahl schöpfen  kann: beginnend in Aachen, wo am 6. April der Klassiker „Alcina“ Premiere hat, über Essen, wo ab 19. April in „Ariodante“ der Belcanto triumphiert, bis Hamburg, wo ab 25. Mai „Almira“ unter Alessandro de Marchi an den Ort ihrer Uraufführung (1705) zurückkehrt. In Magdeburg inszeniert am 15. März Arila Siegert eine Oper mit Lokalbezug: „Ottone“. Ihr Titelheld ist der mittelalterliche deutsche Kaiser Otto II., bearbeitet hat das Werk kein Geringerer als Georg Philipp Telemann. Und in Ulm hat am 8. Mai ein anderer Händel-Klassiker Premiere: „Serse“. 1924 in Göttingen wiederentdeckt, ist sie eine der meistgespielten Bühnenwerke Händels – nicht zuletzt wegen des Arioso „Ombra mai fú“, das als „Largo“ fernab seiner musikdramatischen Funktion ein Eigenleben als Wunschkonzert-Stück entwickelt hat.




Der herrliche Kosmos des Abkupferns

Kunsthalle Karlsruhe: “Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube”

Kaum ein Thema spaltet derzeit die Intelligenzija hierzulande nachhaltiger, als die Frage nach dem Wesen und Unwesen der Kopie und des Kopierens von Kulturerzeugnissen in Zeiten des Internets. Unversöhnlich scheinen sich diejenigen gegenüberzustehen, die einerseits Angst um den Ertrag aus ihrer Musik oder ihren Texte haben, andererseits diejenigen, die für weit reichende Freiheiten des Kopierens stehen. Angefeuert nicht zuletzt durch die Erfolge der Piratenpartei.

Man hört von Filmern, Literaten und Musikern, die sich in groß angelegten Kampagnen gegen Diebstähle an geistigem Gut richten, als ob der Untergang des globalen Dorfs kurz bevor stünde. Bildende Künstler sind in dieser verzerrenden Schein-Schlacht allerdings eher in der Unterzahl. Indes spiegelt sich gerade in der Geschichte von Malerei, Plastik, Grafik etc. geradezu beispielhaft, wie die Kopie unsere visuelle Kultur von Beginn an geprägt und bereichert hat.

Es ist das Verdienst einer hervorragend strukturierten und aufbereiteten Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, den aktuell etwas einseitigen Blick zu korrigieren. Eingängig und aufregend, historisch fundiert bietet die Schau Gelegenheit, den Horizont mit Blick auf das anregende Erbe künstlerischen Kopierens anhand von 120 Werken aus dem Spätmittelalter bis heute zu erweitern. “Déjà-vu. Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube” grenzt hierbei schöpferische Aneignungsverfahren vom vermeintlichen Verbrechertum der bösen “Raubkopierer” ab.

Johann Geminger: Ritter, Tod und Teufel (nach Dürer, um 1600), (c) Kunsthalle Karlsruhe

Johann Geminger: Ritter, Tod und Teufel (nach Dürer, um 1600), Öl/Holz, (c) Kunsthalle Karlsruhe

Die Ausstellung hebt an mit einer wunderbar sinnigen Fotoarbeit von Claudia Angelmaier. Das zwei Meter breite Tableau “Das große Rasenstück, 2004/2008″ zeigt Albrecht Dürers ikonenhaftes Aquarell auf ganz besondere Weise. Die 1972 geborene Künstlerin hat sich ein Dutzend Kunstbücher, in denen das legendäre Blatt abgedruckt ist, vorgeknöpft und diese zu einer kleinen Schausammlung in zwei Reihen zu sechs Buchdoppelseiten arrangiert und abgelichtet. Die Bücher überlappen einander derart, dass die Abbildungen, recht nahe beieinander liegend, zum Vergleich anregen. Mit dem Ergebnis deutlich sichtbarer Unterschiede nicht nur im Format, sondern vor allem hinsichtlich der Druckfarben. Das mahnt die Unmöglichkeit eines Ersatzes von Originalen mit Reproduktionen an und verweist gleichfalls auf den aktuellen Schwachsinnsstreit, den sich GEMA und YouTube liefern: Die kleinen Flash-Filmchen sind Surrogate fürs Kino beispielsweise – und nicht mehr. Ihre Qualität ist relativ und gibt den Eindruck des Originals kaum hinreichend wieder.

Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel, Kupferstich, 1513, (c) Kunsthalle Karlsruhe

Das Original: Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel, Kupferstich, 1513, (c) Kunsthalle Karlsruhe

 

A propos Dürer. Das Werk des fränkischen Superstars der deutschen Renaissance durchzieht beinahe die gesamte Ausstellung. Nicht ohne Grund, denn er markiert die neuzeitliche Auffassung eines Originalitätsbegriffs, der merkantile Faktoren und die Genese des Künstlersubjekts als Schöpfer impliziert und zum Vorschein bringt. Im Mittelalter sah das ganz anders aus. Kopien firmierten zu dieser Zeit als Garanten für stimmige Ikonografien. Außerdem tradierten Musterbücher gelungene Werke und gewährleisteten auf diese Weise ästhetische Orientierung. Die Kopie war demgemäß nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Sie diente eben nicht der monetären Bereicherung. Sie fungierte als Medium der Überlieferung von Qualität und Ehrerbietung gleichermaßen.

Das ändert sich in Dürers Zeit. Er selbst, dessen vor allem druckgrafisches Werk in der Ausstellung mit wunderbaren Beispielen von Medientransfers Auskunft über je unterschiedliche Formen der ästhetischen Wertschätzung gibt, lobte das Kopieren als Mittel zur Erkenntnis von Güte. Andererseits verwehrte er sich dem Ideenklau. 1511 beschimpfte er Kopisten als Diebe und Betrüger. Der Nürnberger Rat ging 1512 gegen das unerlaubte Verwenden seines Monogramms vor. In der zweiten Abteilung hängen zwei Ölgemälde eines bekannten Motivs: “Ritter, Tod und Teufel”, ein Kupferstich aus dem Jahr 1513. Übertragen hat es einerseits ein anonymer Meister, andererseits ein Johann Geminger. Beide Bilder entstanden um 1600 und sind letztlich Interpretationen. Geminger vergrößerte die Darstellung ins Tafelbildformat. Und es bereitet schlicht Freude, die drei Bilder auch hinsichtlich der verschiedenen Wirkungen von Grafik und Malerei miteinander zu vergleichen.

Dürers Papierarbeiten als Schnitzwerk, Glasmalerei oder schlicht in der druckgrafischen Reproduktion mehrerer Stecher im direkten Vergleich beobachten zu können, mag nach übertriebener Pädagogik klingen. Jedoch ist die Argumentation der Ausstellung und die historische Aufarbeitung des Begriffswandels zwingend und den Werken direkt anzusehen. Endlich einmal eine Schau, die nicht nur plausibel und deutlich ihre Inhalte in den Ausstellungsräumen organisiert und mit knappen wie pointierten Saaltexten das Verstehen der je verschiedenen Konnotationen von Kopie in den Zeitläuften erlaubt, sondern überdies noch eine, die einen umfassenden Beitrag zur bislang nur partiell geschriebenen Kunstgeschichte des Kopierens offeriert.

Diesen entbergenden und Augen öffnenden Kosmos an Werken durchhaucht der Geist der Etymologie, denn das lateinische “copia” meint “Fülle”, “Mittel”, “Wohlstand”, “Vermögen”, “Fähigkeit”, “Möglichkeit”, “Gelegenheit” oder “Vorrat” und nicht etwa “Verbrechen” oder “Diebstahl”. Nachvollziehbar wird jene Auffassung im Werkstattbild. Pieter Breugel d. J. kopierte mehrfach das Gemälde “Anbetung der Könige im Schnee”, das aus der Hand seines Vaters stammte. Drei seiner Repliken sind in Karlsruhe zu sehen. Mal fehlt der Schnee, dann sieht man beispielsweise die unbeholfene Umsetzung des Eislochs im Kanal. Das alles sind Einladungen zum vergleichenden Sehen. Und es wird erkennbar, dass bestimmte Motive einfach Hits zu ihrer jeweiligen Zeit waren und gerade in den sehr spezifizierten bürgerlichen Märkten der Niederlande ganz unbedarfterweise kommerziellen Erfolg garantierten.

Von Rubens, der das Kopieren streng überwachte und auch Reproduktionsstiche nur an ausgewählte Grafiker übertrug, weiß man, dass eine eigenhändige Kopie ein Drittel bis maximal 50 Prozent des Originalbildes erbrachte. Und nicht jeder, der eine wollte, bekam eine. Erst der Adel, dann der Rest. Selbst im Falle einer abgekupferten Komposition.

In der großen Zeit der Akademien, ging es darum, dem Original so nahe zu kommen, dass man als Schüler die Meisterschaft eines kanonisierten Juwels quasi durch die eigenen Hände nachvollziehen lernte. Amüsante Petitessen bietet die Ausstellung ferner auf. Beispielsweise einen Teil des “Prehnschen Kabinetts” von 1780 bis 1824, ein Holzkasten mit 24 Miniaturen. Diese Minimuseen zeigen zumeist keine direkten Kopien von originalen Meisterwerken, sondern entstanden oft nach Druckgrafiken. Außerdem interpretierten die beteiligten Maler stilistische Eindrücke auf dieses puppenstubenhafte Medium hin. Der gesamte Umfang beträgt 32 Kästen mit 800 Miniaturen, die Themen und Motive aus verschiedenen Jahrhunderten und Geografien wiedergeben: Eine einzigartige Kunstliebhaberei bringt sich zum Ausdruck.

In Bildern nach Frans Hals sieht man die Entwicklung der schmackhaften Pinselführung Lovis Corinths. Hier und auch bei Max Beckmann mutiert die Kopie zum Beschleuniger und Medium der künstlerischen Innovation. Bis dann im späten 20. Jahrhundert die Kopie als künstlerisches Prinzip zu einer oft verwendeten Ausdrucksform wurde. In den Jahren der Appropriation Art, die konzeptuell die Kopie zur Schleifung der Bastion namens Genie einsetzte, entwickelten Künstler die Entgrenzung des Bildes bei Entwertung materieller Faktoren wie Leinwand, Farbe oder Form. Elaine Sturtevant, die beispielhaft für diesen Modus der Aneignung gelten kann, sagte einmal über ihre Arbeit: “Es ist eine Kunst, welche die Verführung der Oberfläche wiederholt und im Prozess der Wiederholung auflöst, um dem wirklich Wichtigen Platz zu machen, dem Denken.” Sturtevants Interpretation von Andy Warhols “Flowers” (1969/70) ist demgemäß in Karlsruhe präsent. Und es ist erstaunlich, dass Mr. All is Pretty die Wiederverwendung seiner Originalsiebe durch die 1930 geborene Künstlerin gestattete. Ob das heute noch denkbar wäre?

Aber auch diese Weise der Erweiterung des künstlerischen Potenzials der Kopie stellt nicht das Ende dar. Erstaunlich ist die Vielfalt, die heutzutage möglich ist. Klaus Mosettigs Bleistiftzeichnungen des Action-Paintings “Lavender Mist” von Jackson Pollock sind mehr als nur akribische Nachahmungen. Sie verlagern den Blick auf Prozessualität und Zeit. Dass auf YouTube oder Flickr künstlerische Laien etwa Cindy Sherman imitieren, rückt nach der Faszination an der Geschichte der Kopie wieder den Alltag von heute in den Blick.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist es für viele Bürger schließlich schwer nachzuvollziehen, was erlaubt und was verboten ist. Die Gesellschaft steht vielleicht vor einem Paradigmenwechsel. Bei der Einschätzung dessen, was als Kopie verstanden werden soll, bereichert die Karlsruher Schau den Diskurs erheblich. Sicher ist nicht das massenhafte, illegale Brennen von CDs, Software oder Hollywood-Streifen gemeint, ein Verfahren, auf das bestverdienende Unterhaltungskünstler wie Mario Adorf, Sven Regener oder Charlotte Roche das Spektrum der Kopie verengen wollen. Interessanterweise kaprizieren sich die halbwegs intelligenten Aneignungen von Laien auf recht komplexe Arbeiten. Siehe Cindy Sherman und ihre “Untitled Film Stills”. Das schärft auch den Blick auf tatsächliche intellektuelle Güte und entlarvt so manchen, der sich als “Künstler” gegen das Kopieren verwehrt, lediglich als Schacherer. Diesen Kandidaten kann man nur die Ausstellung ans Herz legen, damit sich vielleicht ein kontrollierterer Sprachgebrauch in Sachen Kopie durchsetzt.

Begleitet wird das Projekt, das in Kooperation mit der Hochschule für Gestaltung entstand, von einem exzellenten Katalog, der neben einer eingängigen Einführung von Ariane Mensger (S. 30-45) auch mit den derzeit rechtlichen Fragestellungen (Thomas Dreier: Original und Kopie im rechtlichen Bildregime, S. 146-155)) auseinander setzt. Außerdem kann sich der Interessent umfangreich in der Ausstellung “Hirschfaktor – Die Kunst des Zitierens” im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM, bis 10.2.2013) über die vielfältigen künstlerischen Verwendungsweisen von Zitat und Kopie informieren. Übrigens gibt es aufgrund der Zusammenarbeit beider Häuser bis zum 5.8. jeweils einen ermäßigten Eintritt bei Erwerb eines Kombitickets.

Kunsthalle Karlsruhe: “Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube”, bis 5. August 2012, Eintritt 8 Euro, 6 Euro erm., 2 Euro Schüler, 16 Euro Familien, Di-Fr 10 – 17 Uhr, Sa, So, feiertags 10 – 18 Uhr, www.kunsthalle-karlsruhe.de, Hans-Thoma-Straße 2-6, 76133 Karlsruhe




Zehn Städte wollen ins große Finale – Vorentscheid um die Europäische Kulturhauptstadt

Von Bernd Berke

Die Spannung wächst: Welche zwei bis vier Bewerber um die Europäische Kulturhauptstadt 2010 wird die Jury ins Finale lassen? Seit gestern tagt die Kultusministerkonferenz in Berlin, hier soll heute das Votum verkündet werden. Die WR hat nachgeschaut, wie die zehn Kandidaten ihre Vorzüge im Internet darstellen. Verschiedene Gewichtungen fallen auf.

Fast alle Kommunen führen nicht nur ihre kulturellen Schätze, sondern auch ihr wissenschaftliches oder wirtschaftliches Potenzial ins Feld. Sie hegen vielfach die Hoffnung auf Geldsegen und neue Arbeitsplätze, falls sie das Rennen gewinnen. Zuerst aber muss investiert werden. Wir bleiben neutral und gehen streng alphabetisch vor:

Braunschweig bezieht bewusst die Region mit ein, darunter Wolfsburg mit dem Kunstmuseum und VW als Sponsor. Die Stadt rühmt sich ihrer Baudenkmäler, will zudem ihr (1960 abgerissenes) Residenzschloss neu errichten. Die Kunstakademie, das Festival „Theaterformen“ und Forschungsstätten gelten als Pluspunkte.

Bremen kann gewachsene Kultureinrichtungen vorweisen. Man empfiehlt sich außerdem mit dem bereits errungenen Titel „Stadt der Wissenschaft“, nennt Rathaus und Roland als Weltkulturerbe und plant eine weitläufige „Neuerfindung der Stadt“, sozusagen im kulturell geleiteten Laborversuch.

Historisches Erbe ist nicht alles

Essen hat im Gegensatz zu vielen Mitbewerbern keine historische Silhouette. Es ist folgerichtig, dass man sagt: Wir haben unsere Kultur nicht geerbt, sondern sie uns erarbeitet. Aalto-Oper, Philharmonie, Folkwang-Museum und Zeche Zollverein sind Flaggschiffe, Industriekultur und Einbeziehung der Migranten setzen spezielle Akzente. Die anderen Revierstädte (Ausnahme Bochum) gehen den Weg offenbar noch nicht so recht mit. Das mag sich ändern, falls Essen in die Endrunde kommt.

Görlitz ist mit 60 000 Einwohncni die kleinste Bewerberstadt, preist sich aber selbstbewusst als schönste Gemeinde Deutschlands an. Schwerpunkt ist der Brückenschlag in die polnische Nachbarkommune Zgorzelec. Dies soll der EU in Brüssel, wo 2006 die endgültige Entscheidung fallen wird, als „europäische Vision“ einleuchten.

Halle will die Neugestaltung einer Stadt, die sich in einem Schrumpfungsprozess befindet, beispielhaft vorführen. Garten-Landschaften sollen wachsen, Plattenbauten menschenwürdig umgebaut werden. Kunst soll vor allem den Flusslauf der Saale zieren.

Karlsruhe wirbt für sich als Standort der Medienkunst, vor allem aber als Sitz desBundesverfassungsgerichts und somit Stadt des Rechts. Ob diese Setzung eine kulturell orientierte Jury überzeugt, wird sich zeigen.

Kassel stellt die alle fünf Jahre hier zelebrierte Weltkunstschau documenta insZentrum (deren Konzept man „weiterdenken“ will) und möchte Dialoge der Religionen stiften. Von Migrations-Themen bis zu den Gebrüdern Grimm reicht das durchdachte Spektrum der Projekte.

Lübeck beruft sich aufs schmucke Stadtbild sowie auf „seine“ Nobelpreisträger Thomas Mann, Willy Brandt und Günter Grass. Zudem will man den Ostseeraum bis zum Baltikum ins Bewusstsein riicken. Auch hier eine weite (ost)europäische Perspektive.

Potsdam kommt gar nicht umhin, mit Schloss und Parkanlagen zu prunken. Auch die Nähe Berlins wird in die Waagschale gelegt.

Regensburg, das Spott mit Christoph Schlingensiefs Anti-Werbung und einer Brezel-Abwurfakttion auf sich zog, wirbt liebenswert bescheiden, u. d. mit Studententheater und Altstadt-Szene.

 

 

Keine leichte Aufgabe für die Jury! Bleibt zu hoffen, dass auch die ausgeschiedenen Städte ihre einmal gefassten Ideen vorantreiben werden.