Musikalisch lohnende Mozart-Rarität: „Ascanio in Alba“ an der Oper Frankfurt

Die künstliche Welt im Zentrum: „Ascanio in Alba“ mit Kateryna Kasper (Venus) und Cecelia Hall (Ascanio). (Foto: Monika Ritterhaus)

Glückliche Menschen, wenn das Sollen und das Wollen in so wunderbarer Übereinstimmung zueinander finden. Für die junge Silvia ist der vorher bestimmte Bräutigam zugleich der Mann ihrer Träume.

Ein Wunder ist das nicht, hat doch keine Geringere als die Göttin der Liebe, Venus höchstpersönlich, das Verhältnis für ihren Sohn Ascanio arrangiert und Amor losgeschickt, um die Träume des Mädchens zu manipulieren, das sich prompt in das Traumbild Ascanios verliebt.

Der Konflikt, der daraus in Wolfgang Amadeus Mozarts „Ascanio in Alba“ entsteht, ist ein milder. Nur kurz währt die Wehmut, als Silvia einen jungen Unbekannten kennenlernt, der dem Mann ihrer Träume gleicht. Aber sie ist ja „Ascanio“ versprochen, den sie nie gesehen hat. Dieser Verpflichtung bleibt sie, ihre Neigung unterdrückend, treu. Bald belohnt Göttin Venus die standhafte Braut und offenbart ihre sorgfältig eingefädelte Tugendprobe: Der Geliebte aus ihren Träumen ist niemand anderes als ihr Bräutigam! Silvia und Ascanio haben die Prüfung bestanden und werden verheiratet; Wonne und Jubel durchziehen das Ende der musikalisch erstaunlich avancierten Partitur des 15jährigen Mozart.

Eine Allegorie für die Gegenwart?

Bei der Frankfurter Erstaufführung der „festa teatrale“ (aus dem Jahr 1771) versucht Regisseurin Nina Barzier tapfer, die Allegorie auf die Hochzeit des Habsburgers Ferdinand Karl mit Maria Beatrice d’Este in die Gegenwart zu holen. Im Bockenheimer Depot baut Christoph Fischer dafür eine kugelförmige Bühne wie einen abgeschlossenen Globus, in dem alle gefangen sind. Eine Galerie bietet der Göttin Venus – im beziehungsreich ausgedachten Libretto von Giuseppe Parini ein Reflex auf die Mutter Ferdinands und Ehestifterin Kaiserin Maria Theresia – den passend erhobenen Auftrittsraum.

In Fenstern ist verschwommen eine Außenwelt zu ahnen, die aber keine Rolle spielen darf. Die Natur muss draußen bleiben. Auf einer halbierten Weltkugel rollt dagegen eine kristalline, magisch beleuchtete Skyline herein: Symbol der neuen Stadt Alba, die der mythische Gründer Ascanio errichten soll, aber auch eine Chiffre für die künstliche, selbst konstruierte Welt der Figuren. Denn Venus tritt bei Brazier auf wie eine coole Konzernchefin, die alles unter Kontrolle hat – eine mächtige Frau wie aus einem Science-fiction-Märchen, in dem es freien Willen oder wild wuchernde Emotionen nicht mehr gibt, die Menschen aber auch nicht mehr merken, wie sie manipuliert sind – oder es willig akzeptieren.

Ein Spiel mit komplementären Farben

Dieses luftige Spiel mit künstlichen Konflikten wird von einer raffinierten Farbwahl der Bühne Fischers und den Kostümen von Henriette Hübschmann sinnlich unterstützt. Jonathan Pickers flutet das Bühnen-Ei mit sattgelbem Licht, in dem das saftige Blau der Kostüme des Venus-Gefolges durch die komplementäre Farbwirkung umso kraftvoller wirkt. Die Pink-Schattierungen, in denen Ascanio und Silvia auftreten, beißen sich damit – aber wenn sich das Licht ins Lindgrüne verschiebt, ergibt sich auch mit dem Pink ein komplementärer Gegensatz. So spiegeln sich in den intensiven Farben die Beziehungen und die wirklichen Verhältnisse der Figuren wider. An so viel kluger Offensichtlichkeit hat man seine Freude.

Viel zu gewinnen für heute ist aus diesem Jugendwerk ansonsten nicht, auch wenn Nina Brazier versucht, die Problematik der arrangierten, politisch motivierten Ehe in die Gegenwart ´zu übertragen. Aber die klassische Konfliktsituation zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Erwartungen findet sich in anderen Opern des 18. Jahrhunderts eindrücklicher und emotional-musikalisch bewegender gestaltet. Was über die Zeit hinaus spannend wäre, der Konflikt zwischen dem Traumbild eines Menschen und seiner realen Existenz, bleibt in Braziers Inszenierung ein Nebenthema. Da sich die Regie aber auf die Personen einlässt, ihnen Profil gibt und die Bezüge szenisch intensiv gestaltet, kommen keine Längen auf. Die knapp zweieinhalb Stunden ziehen sich nicht.

Souveräne Musik eines 15-Jährigen

Das ist auch Verdienst der Musik, die letztlich rechtfertigt, das aus der Zeit gefallene, stark an seinen Zweck gebundene Stück zu spielen. Mozarts formale Souveränität, seine melodische Erfindungskraft, seine Instrumentation – die Bläser sind markant, aber noch nicht so selbständig wie später – tragen den Abend. Alden Gatt, seit dieser Spielzeit Kapellmeister und Assistent des GMD an der Frankfurter Oper, leitet das Frankfurter Opern- und Museumsorchester zu straffen, aber nie überzogenen Tempi an, sucht einen eher strahlend kompakten statt transparenten Klang, lässt den Sängern Raum, sich zu entfalten…

…und die nutzen ihre Chance fabelhaft. Wieder einmal ist zu hören, wie erfolgreich sich Bernd Loebes beharrliche Ensemblepflege auswirkt. Die Rollen sind nach Typen besetzt, aber die jungen Leute auf der Bühne bringen auch technisch ungetrübt ausgebildete Stimmen mit und setzen ihr Potenzial erfrischend musikalisch gestaltend ein. Kateryna Kasper ist die erfahrenste unter den Solistinnen und bereits seit zehn Jahren im Ensemble. Ihre Venus changiert mit Autorität zwischen den mütterlichen und den herrscherlichen Zügen der Figur, die nach dem Vorbild Maria Theresias durchaus die umfassende Kontrollgewalt über ihre „Kinder“ beansprucht.

Cecelia Hall als Ascanio. (Foto: Monika Ritterhaus)

Karolina Bengtsson, seit dieser Spielzeit im festen Ensemble, hat das passende Timbre und die bezaubernde Finesse für die Rolle der jugendlichen Braut Silvia. Ascanio, mit sanftem Sentiment und runden Tönen gesungen von Mezzo Cecelia Hall, ist der wohlerzogene Bräutigam, ganz so fügsam wie das historische Vorbild, der zur Zeit seiner Hochzeit 17jährige Ferdinand. Ein formidabler Tenor aus dem Opernstudio, Andrew Kim, ist eigentlich als Priester Aceste ein williger Helfer der Venus auf Erden – in Braziers Deutung mutiert er zu einer Art Assistent. Kim singt mit unbekümmerter Verve, glänzendem Material und ein wenig zu jugendlich riskanter technischer Brillanz.

Ähnlich Anna Nekhames als Fauno mit dekorativen virtuosen Koloraturen und anspruchsvollen, mit technischen Kunststückchen gespickten Läufen: Die junge Sopranistin, 2022 dem Opernstudio entflattert und gleich zur „Königin der Nacht“ avanciert, lässt es nicht an der „geläufigen Gurgel“ mangeln, darf aber in der Kontrolle des Stimmsitzes noch zulegen, um ihre künftige Entwicklung gefährdungsfrei weiterzuführen. Auch Sekretärin (Aijan Ryskulova), Bodyguard (Stefan Biaesch) und die beiden als liebreizrosa Hostessen ausstaffierten Freundinnen Silvias (Valentina Ziegler, Isabel Casás Rama) fügen sich bruchlos in das visuelle und vokale Konzept der Aufführung ein. „Ascanio in Alba“ wird allein wegen seiner Thematik eine Mozart-Rarität auf der Bühne bleiben, musikalisch lohnt sich die Begegnung jedoch allemal.

Vorstellungen noch am 30. Dezember, 1. und 3. Januar. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/ascanio-in-alba/?id_datum=3576




Das „Opernhaus des Jahres“ Frankfurt zeigt „Le Nozze di Figaro“ als schwerelose Komödie

Danylo Matviienko (Graf Almaviva) und Elena Villalón (Susanna) in der Frankfurter Neuinszenierung von Mozarts „Hochzeit des Figaro“. Foto: Barbara Aumüller

Im Frankfurter Opernhaus atmet alles Leichtigkeit. Thomas Guggeis, neuer GMD als Nachfolger von Sebastian Weigle dirigiert zum Einstand Wolfgang Amadeus Mozarts so leichtfüßiges wie gewichtiges Meisterwerk „Le Nozze di Figaro“.

Sein blonder Schopf hebt sich über die Brüstung des Grabens. Rötlich schimmern die Haare, rucken im Rhythmus eines Körpers, der dem Orchester Signale setzt. Eine Hand erscheint, dreht sich, winkt, zeigt, kommandiert, schlängelt sich um ein scheinbar ohne Widerstand bewegliches Gelenk. Das diskret alle Nuancen ausspielende Orchester zieht so federnd und flexibel mit, als würde Rossini den Musikern Bögen, Tasten, Klappen, Ventile und Schlägel führen.

Und Tilmann Köhlers Regie kleidet Beaumarchais‘ und da Pontes untergründig aufgeladene Komödie entsprechend in gewichtslose Beweglichkeit, bei der die jungen Darsteller mit Freude und Witz dabei sind. Bedeutung wird nicht vorgezeigt, nicht aufgesetzt, sondern ergibt sich wie von selbst aus der Bewegung eines Augenblicks, einem betonten Gang, einer kräftiger nuancierten Geste. Nichts wirkt schwer, wir blicken auf keine Atlanten, die das Gewölbe einer Deutung zu tragen hätten. Sogar das Finale lässt einen „glücklichen“ Ausgang offen: Der fast schon genetische Pessimismus heutigen Post-Regietheaters ist lustvoll mit leichter Hand gebannt. Das tut, gerade bei Mozarts quirliger, nervöser, manchmal hyperaktiver Musik richtig gut!

Schmerz in luftigem Gewand

Die sich beißenden Farben der Kostüme zeigen: keine Harmonie zwischen Graf und Gräfin (Adriana González). Foto: Barbara Aumüller

Das heißt nun nicht, dass Köhler die verschattete Seite der Medaille gnadenlos trivial wegleuchtet. Die kindlich-feine Verzweiflung der – reizend gesungenen – Barbarina Karolina Bengtssons lässt ahnen, wie sich Schmerz in luftiges Gewand hüllen kann. Und wenn die Gräfin in sattem Rot ihrer Robe auftritt, weht Melancholie durch den Saal. Thomas Guggeis wandelt dann die musikalischen Haltung hin zu einem träumerischen Impressionismus, den Adriana González auch vokal verströmt, wenn sie ihre Piano-Phrasen korrekt auf den Atem legt und sich nicht, wie manches Mal im Ensemble, auf zweifelhaft gelagerte Töne verlässt.

Aber auch dieser Hauch der anderen, der seelenmörderischen Welt strömt schwerelos: Die Qual enttäuschter Liebe trägt ja für die Außenwelt oft komische Züge; das Weh der bitteren Erkenntnis einer verdorbenen Lebenschance muss nicht zwangsläufig Betroffenheit oder Empathie auslösen. Das ordnet die Figur der Gräfin Rosina in die Komödie ein, macht aber ganz behutsam auch ihre endlose Einsamkeit spürbar. Wenn sich solche feinsten Charakter-Schattierungen vermitteln, ist Regie – auch ohne spektakulären Zugriff – gelungen.

Auch Thomas Guggeis kann im Graben getrost auf Spektakel verzichten. Er versteht die endlosen Achtelketten Mozarts als den dynamischen Triebimpuls der Musik, die vorwärts strebt, keine Pause einlegen will. Das passt zum Tempo der Musik, die ja „presto“ drängt und drängt und selbst im Innehalten den nächsten Impuls zum Lospreschen kaum zurückhalten kann. Guggeis macht aber auch deutlich, wo dieser hurtige Fluss auf Klippen stößt und scharfe Kanten umspülen muss: Die Bläser grätschen scharf dazwischen, wenn sich Figaro und Susanna in die Wolle kriegen, und die Dissonanzen im Umgang der Personen hallen nicht nur in Kostümen von Susanne Uhl, sondern auch im Orchester deutlich wider.

Ungeduldige Energie hat ihren Preis

Bei all der luftigen Präzision, dem ziselierten Tempo, das die Streicher des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters vorlegen, den lichtvollen Bläserakkorden und den sanft, aber mit Kontur getupften Staccati ist es kein Wunder, dass Guggeis nach dreieinhalb Stunden herzlich gefeiert wird. Aber man hört auch, dass der jugendliche Überschwang und die ungeduldige Energie einen Preis haben: Die Ouvertüre gerät überraschend flach, das Wechselspiel von Flöten und Klarinetten auf der einen aufsteigenden, Oboe und Horn auf der anderen absteigenden Seite bleibt beiläufig, die Doppelachtel der Bläser in Takt 16 und 17 sind nicht deutlich artikuliert, so wie zuvor die Violinen ihre Mini-Verzierungen nicht ausformen können.

„Presto“ ist, das ist den Mozart-Tempolimitgegnern á la Currentzis immer wieder vorzuhalten, eben eine Musizierhaltung, und keine Anweisung, sich das „Blaue Band“ der Orchesterrennen zu holen. Ein organischer Atem lässt selbst bei raschestem Puls Zeit, Melodie zu formen und Details zu modellieren. Schnappatmung verbreitet nur Hektik. Und das ist keine Frage der Virtuosität des Orchesters, dessen Mitglieder wohl in allen Taktschnellen den Kopf über Wasser halten können. Guggeis vergibt sich so manche Chance, den Klang plastisch zu gestalten, die Haltung zu wechseln, mit der Varietät des Tempos Ausdruck zu gestalten. Aber so, wie er dirigiert, wie er dann wieder den Sinn von Ensembles, von ariosen Momenten, von Rhythmus-Coups Mozarts erfasst, mag man getrost sagen: Kommt noch!

Was Guggeis als glückliche Wahl für die Oper Frankfurt qualifiziert, ist seine Expertise im Umgang mit den Sängern. Es ist ein Vergnügen zu beobachten, wie klar er durch komplexe Ensembles führt, wie er den Menschen auf der Bühne hilft, wie er dadurch Präzision und souveräne Leichtigkeit erreicht, auch, wie er selbst am Flügel die Rezitative mit witzigen Erinnerungsmotiven verziert. So kann Kihwan Sim seinen klangvollen Bassbariton frei entfalten und seinem Konkurrenten, dem Grafen von Danylo Matviienko Paroli bieten. „Non piu andrai“, von ausnehmend aparten Bläsern veredelt, vertrüge deutlicher ironische Farben in der Stimme. Matviienko hebt dagegen mit seiner stimmlichen Eleganz hervor, dass er das Spiel der Geschlechter durchaus als solches verstehen will, manchmal vordergründig gefasst, aber nie harmlos.

Vollendete Studie eines Zwischenwesens

Ganz zeitgenössisch, auch im Kostüm: Kelsey Lauritano (links) mit der Gräfin (Adriana González) als Cherubino – ein Wesen ohne festgelegte Geschlechtssignale. Foto: Barbara Aumüller

Kelsey Lauritanos Cherubino ist eine vollendete Studie eines Zwischenwesens, das sich im Labyrinth der Geschlechter erst orientieren muss. Die Sängerin gestaltet eher hell und brillant als mit sanften Mezzorundungen; ihr „Non so piu cosa son …“ huscht wie ein Irrwisch vorbei, ein rastloser Spuk ohne die Chance, auf differenzierte Artikulation. Auch „Voi che sapete“ könnte Lauritano sicher bewusster ausformen, würde ihr der Dirigent eine Spur mehr Zeit geben. Elena Villalón brilliert als Susanna in den Ensembles mit einer fabelhaften Sprach-Musik-Sensibilität. Zwischendurch will es ihr nicht gelingen, die Stimme im Körper zu halten – die Töne werden spitz und kopfig. Aber ihre Arie im vierten Akt ist ein Musterbeispiel bewussten, makellosen Singens.

Dass Frankfurt nicht umsonst zum wiederholten Mal den Titel „Opernhaus des Jahres“ eingeheimst hat, ist nicht nur der exquisiten Spielplanpolitik von Intendant Bernd Loebe zu verdanken, sondern auch seiner Ensemblepflege. Die zeigt sich in diesem „Figaro“ von ihrer besten Seite: Die kleineren, dennoch wichtigen Rollen sind mit der leuchtenden Cecilia Hall als Marcellina, dem wunderbar diskret polternden Donato di Stefano als Bartolo, dem fast zu schönstimmigen jungen Tenor Magnus Dietrich als Basilio und dem bewährten Franz Mayer als Antonio durchweg vorzüglich besetzt. Sie alle nutzen die Chance des neutralen Bühnenkastens von Karoly Risz, der sich mit raumhohen Drehlamellen durchlässig oder verschlossen geben kann: Hier triumphieren nicht die Szenerie, nicht die Atmosphäre, sondern die Darsteller.

Weitere Vorstellungen: 12., 14., 21. Oktober; 28., 30. Dezember 2023; 5., 7., 18., 21. Januar 2024. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/le-nozze-di-figaro_3/