Alle zehn Jahre neue Ortsbestimmungen durch die Kunst: Die immer wieder spannenden „Skulptur Projekte“ in Münster

Fürwahr, die Skulptur Projekte in Münster machen sich äußerst rar. Mit ihrem zehnjährigen Rhythmus (bislang: 1977, 1987, 1997, 2007) kommen sie an diesem Wochenende gerade mal in fünfter Auflage heraus. Damit verglichen, ist selbst die Kasseler documenta (die gleichfalls just jetzt startet) mit ihren Fünfjahres-Abständen eine nahezu inflationäre Veranstaltung.

Skulpturen verschiedener Art: Soll der von Cosima von Bonin aufgestellte Lastwagen etwa die Plastik von Henry Moore abholen? Die Antwort heißt: Nein! (Foto: Bernd Berke)

Skulpturen von grundsätzlich verschiedener Art: Soll der von Cosima von Bonin aufgestellte Lastwagen etwa die Plastik von Henry Moore (Teilansicht links) abholen? Die Antwort lautet, entgegen dem bedrohlichen Anschein: Nein! (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Scherz beiseite und dem Mann der ersten Stunde die Ehre: Seit Anbeginn ist der große Spritus rector der Skulptur Projekte, Prof. Kasper König, wegweisend dabei; ursprünglich im Verein mit dem Miterfinder Klaus Bußmann, diesmal flankiert von den beiden Kuratorinnen Britta Peters und Marianne Wagner.

Das Prinzip ist gleich geblieben: Künstler(innen) – anfangs waren es ausschließlich Männer – werden nach Münster eingeladen, wo sie sich mit Orten ihrer Wahl auseinandersetzen und Projektvorschläge einreichen. Damit beginnt ein langwieriger Prozess bis zur Realisierung. Rund drei Dutzend neue künstlerische Orts-Umschreibungen sind diesmal entstanden. Hinzu kommen etwa ebenso viele Skulpturen, die von früheren Projekten übrig geblieben sind. Mit anderen Worten: Es lagern sich von Mal zu Mal gleichsam immer neue Zeit-Schichten mit anderen ästhetischen Valeurs an. Daraus ergibt sich eine hochinteressante Historie.

Interventionen im Stadtbild

Auch 2017 stiften – unter gesellschaftlich veränderten Vorzeichen – die Künstler an einigen Orten der Stadt wieder erhellende Widersprüche, Einsprüche, Korrespondenzen, Assoziationen und was dergleichen Fühl- oder Denkanstöße mehr sind. Mal sind die Interventionen im Stadtbild erst allmählich wahrnehmbar, mal kommen sie mit weiter ausholenden Gesten oder überfallartig daher.

Man mag sich das alles, versehen mit einem speziellen Stadtplan oder per Navigations-App, in aller Ruhe erlaufen oder münstertypisch erradeln. Da kein Eintritt erhoben wird (man kann ja den Zugang zur Stadt schwerlich mit einer Gebühr belegen), sollte man getrost auch mehrmals wiederkommen. Und mit kundiger Führung hat man eventuell mehr von alledem.

Im Zeichen der digitalen Welt

Was ist mit den veränderten Vorzeichen gemeint? Selbstverständlich vor allem die seit 2007 noch einmal erheblich vorangeschrittene Digitalisierung und Globalisierung unseres Lebens. Auf solche umwälzenden Veränderungen, das war klar, mussten auch die Skulptur Projekte antworten und reagieren, wenn auch längst nicht immer explizit oder gar „eins zu eins“ abbildend. Das wäre denn doch zu simpel.

Im Münsteraner Hafen übers Wasser gehen: Ayse Erkmen, "On Water". (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

Im Münsteraner Hafen übers Wasser gehen: Ayse Erkmen, „On Water“. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

In der heißen Arbeitsphase, also seit etwa zweieinhalb Jahren, kristallisierten sich in zahllosen Diskussionen die Befragung von Ort, Zeit und Körperlichkeit im digitalen Zeitalter als Leitthemen heraus. So manches, was derzeit ringsumher geschieht, könnte ja auf eine Auflösung von Raum, Zeit und Leiblichkeit hinauslaufen. Und wenn schon der Körper in Spiel kommt, ist es nicht nur der unbewegte. Der Performance als Gattung an der Grenze zur darstellenden Kunst kommt diesmal besondere Bedeutung zu.

Ein von jeher gültiges Thema stellt sich zudem in größerer Schärfe als ehedem: die Schaffung und Behauptung von öffentlichen, also nicht privat vereinnahmten Plätzen. Und zum Faktor Zeit: Manche Werke sind ganz bewusst darauf angelegt, nur temporär vorhanden zu sein, also allmählich zu vergehen oder schließlich abrupt zu verschwinden.

Mächtiger Truck und eine Wasserwaage am Museum

Jetzt aber endlich zu ein paar konkreten Beispielen, wie sie bei einer zweistündigen Presseführung vor der Eröffnung zu erleben waren:

Auf dem Vorplatz des LWL-Museums für Kunst und Kultur hat die Künstlerin Cosima von Bonin einen wahrhaft monumentalen Truck geparkt, auf dem sich ein großer schwarzer Container ihres Kollegen Tom Burr befindet, die ganze Chose heißt denn auch alliterierend „Benz Bonin Burr“. Es sieht ganz so aus, als solle mit dem Lastwagen demnächst die schon „klassische“ Skulptur von Henry Moore abtransportiert werden, die dort steht. Tatsächlich war es vor Ort ein Thema, ob Moores Arbeit während der Skulptur Projekte dort verbleiben dürfe.

Kein Bestandteil der Skulptur Projekte, aber skandalträchtiges Lokalgeschehen: Der LWL hat sein Buchstaben-Logo direkt auf eine Fassadenarbeit von Otto Piene aufgesetzt. (Foto: Bernd Berke)

Kein Bestandteil der Skulptur Projekte, aber umstrittenes Lokalgeschehen, auf das Bezug genommen wird: Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) hat sein Buchstaben-Logo am LWL-Museum für Kunst und Kultur direkt auf eine Fassadenarbeit von Otto Piene aufgesetzt. (Foto: Bernd Berke)

Zugleich verweist die riesige Truck-Installation indirekt auf ein Problem an der Fassade des Landesmuseums. Dort hat der Landschaftsverband LWL sein Dreibuchstaben-Logo direkt auf eine Arbeit von Otto Piene aufgesetzt, der dies wohl unter mehr oder weniger sanftem Zureden akzeptiert hat. Sein eigentlich urheberrechtlich geschütztes Werk ist jedenfalls am Rande verfälscht worden.

Auf der anderen Seite des Museums, am Domplatz, geht es unscheinbarer her. Dort hat John Knight eine Wasserwaage an das Gebäude angesetzt, als wolle er erneut Maß nehmen oder etwas ins Lot bringen. Ganz buchstäblich könnte man von einer künstlerischen „Maßnahme“ sprechen, die sich innig auf die Architektur bezieht.

Die Privatwohnung des Herrn N. Schmidt

Im Innern des öffentlichen Museums hat Gregor Schneider quasi eine Privatwohnung eingebaut, die man (jeweils höchstens zu zweit) durch einen Seiteneingang erreicht. In diesem Wohnraum ist ein gewisser „N. Schmidt“ daheim. Eine Kollegin versichert, ihr sei – nach eineinhalb Stunden Wartezeit in der Schlange – drinnen Gregor Schneider höchstselbst begegnet, aber eher wie ein Geist. Man lasse sich überraschen. Auch Enttäuschungen sind nicht ausgeschlossen.

Koki Tanaka hat in einem Gebäude der Johannisstraße seine „Provisional Studies“ aufgebaut. In unwirtlich gekachelten Räumen zeigt er Videos von einem Workshop, an dem acht Bewohner(innen) Münsters von ganz unterschiedlicher Herkunft teilgenommen haben. Ein „Dschungelcamp“ für Intellektuelle? Das nun doch beileibe nicht. Die intensive Begegnung stand unter der Frage „How to live together?“ Es geht also ums Zusammenleben an und für sich. Eine raumgreifende, begehbare „Skulptur“, die den ohenhin längst fließend gewordenen Gattungsbegriff beherzt erweitert.

Parodistisches Spiel mit der typischen Münsteraner Giebelform: "Sculpture" von Pelese Empire, wohinter sich Barbara Wolff und Katharina Stöver verbergen. (Foto: Bernd Berke)

Parodistisches Spiel mit der typischen Münsteraner Giebelform: begehbare Arbeit „Sculpture“ von Pelese Empire, wohinter sich Barbara Wolff und Katharina Stöver verbergen. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Anspielung auf die Giebelform

Schon eher der konventionellen Vorstellung von Skulptur bzw. Architektur enspricht die Arbeit von Pelese Empire (Barbara Wolff / Katharina Stöver). Sie heißt schlicht und einfach „Sculpture“ und greift parodierend und anverwandelnd die in Münster so häufige Giebelform auf, außerdem wurde das erschröcklich-bizarre rumänische Karpatenschloss Peles auf die Außenhaut projiziert. Auch diese Skulptur kann man betreten, sie enthält sogar eine Bar und kann zum Begegnungsort mutieren. Insgesamt kommt diese bauliche Skulptur auch als eine Art „Fake“ daher und greift somit ein politisch virulentes Thema der Internet-Ära auf.

Wenn man so will, ist das Projekt von Justin Matherly noch skulpturenförmiger. Er hat ein Gebilde geformt, das dem Nietzsche-Felsen im schweizerischen Sils Maria nachempfunden ist. Dieser Felsen soll den Philosophen zur Idee einer „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ angeregt haben. Eine Figuration mit Hintergedanken, die man kennen muss, um das Ganze zu würdigen. Der sehr brüchig wirkende „Fels“ ist übrigens innen hohl und steht auf seltsamen Stützen. Es handelt sich um medizinische Gehhilfen.

Wird nach der Ausstellung vernichtet: Lara Favarettos "Momentary Monument". (Foto: Bernd Berke)

Wird nach der Ausstellung vernichtet: Lara Favarettos „Momentary Monument“. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Rein äußerlich betrachtet, hat auch Lara Favaretto ein steinernes Monument nach herkömmlichem Verständnis geschaffen. Doch weit gefehlt. Wir unterliegen einer kunstvollen Täuschung. Auch dieses scheinbar so massive Werk ist innen hohl, es hat sogar einen Schlitz zum Geldeinwurf (der Erlös kommt Menschen in Abschiebhaft zugute). Das „Momentary Monument“ ist, wie der Titel ahnen lässt, nicht auf Dauer angelegt, sondern soll mit Ende der Skulptur Projekte geschreddert und recycelt werden. Einstweilen aber bezieht es sich als Gegenüber und kritischer Gegenentwurf auf ein kolonialistisches Ehrenmal vis-à-vis.

Subtile Geste vor dem Erbdrostenhof

Im berühmten Erbdrostenhof (barockes Palais) haben bei früheren Skultur Projekten Richard Serra und Andreas Siekmann ihre unübersehbaren Zeichen gesetzt, Letzterer mit einer Arbeit, die sich über städtische Tier-Maskottchen mokierte und bei Stadtwerbern nicht allzu gut ankam. Serras Arbeit hätten die Münsteraner hingegen liebend gern behalten, doch sie wurde zu ihrem Leidwesen für gutes Geld in die Schweiz verkauft.

Trotz der Größe ungeahnt feingliedrig: "Beliebte Stellen" von Nairy Baghramian vor dem Erbdrostenhof. (Foto: Bernd Berle)

Trotz der Größe ungeahnt feingliedrig: „Beliebte Stellen“ von Nairy Baghramian vor dem Erbdrostenhof. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Ein Platz mit alter und neuerer Vorgeschichte also, der beispielhaft zeigt, wie bestimmte Stätten insgeheim nachhaltig durch die Projekte geprägt werden, selbst dann, wenn die Einzelwerke nicht mehr am Ort sind. Genau hier findet sich nun die eher zurückhaltende Arbeit „Beliebte Stellen“ von Nairy Baghramian, die den Raum gleichwohl neu „besetzt“. Ihre Skulptur windet sich als große, doch feine und aparte Geste über den Platz, sie ist – ganz planvoll – „unfertig“ und müsste noch verschweißt werden, auch wirkt die stellenweise tropfenförmige Oberfläche ganz so, als sei sie noch im Werden (oder schon im Vergehen). Ein Beispiel dafür, wie man äußerlich „groß“ agieren und dennoch subtil bleiben kann.

Übers Wasser gehen und sich am „Lagerfeuer“ versammeln

Ein paar spektakuläre Ortsbezüge kenne ich (noch) nicht aus eigener Anschauung, man kann sich jedoch anhand der Beschreibungen schon Vorfreude bereiten: Für „On water“ (Auf dem Wasser) hat Ayse Erkmen am Münsteraner Hafen knapp unter der Wasseroberfläche einen Steg gebaut, auf dem Besucher sozusagen übers Wasser gehen können – jedenfalls beinahe. Wer jetzt an Christo und den Lago d’Iseo denkt, liegt vielleicht nicht völlig daneben.

Am "Lagerfeuer" des digitalen Zeitalters: Aram Bartholl, "5 V" (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

Am „Lagerfeuer“ des digitalen Zeitalters: Aram Bartholl, „5 V“ (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

Auf andere Art staunenswert ist der Beitrag von Aram Bartholl, der geheimnisvolle thermoelektrische Apparaturen ersonnen hat, so dass man an einer Art Lagerfeuer wirklich und wahrhaftig den Akku seines Smartphones aufladen kann. Dieser Vorgang soll zwar ziemlich lange dauern, erzeugt aber sicherlich ein besonderes Gemeinschaftserlebnis und verknüpft älteste mit neuesten Erfahrungen der Menschheit.

Dependance in der Revierstadt Marl

Mit dem Ruhrgebiet hat all das aber nichts zu tun, oder? Wie man’s nimmt. Die Skulptur Projekte haben diesmal unter dem Titel „The Hot Wire“ (Der heiße Draht) einen „Ableger“ in Marl, wo rund ums Skulpturenmuseum Glaskasten schon seit langer Zeit Kunst im öffentlichen Raum eine wichtige Rolle spielt.

Im Austausch aus Marl nach Münster gelangt: Ludger Gerdes' vielsagender Fassaden-Schriftzug. (Foto: Bernd Berke)

Im Austausch von Marl nach Münster gelangt: Ludger Gerdes‘ vielsagender, sparsam „illustrierter“ Schriftzug. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Marl ist ein harsches Gegenstück zu Münster, nach dem Krieg entstand hier ein künstliches Stadtzentrum in teilweise brutal anmutender Moderne, während man im eher lieblichen Münster bekanntlich Teile der Altstadt rund um den Prinzipalmarkt wieder aufgebaut hat.

Folglich haben Skulpturen in Marl auch eine ganz andere Funktion. Dort gilt es jedenfalls nicht in erster Linie, womöglich konservative Strukturen aufzubrechen. Aber inzwischen sind ja auch viele Leute in Münster mental weiter.

Die Autonomie und der touristische Faktor

Zurück nach Münster. Längst sind die dortigen Skulptur Projekte auch zum touristischen Magneten geworden. Bei der Eröffnungspressekonferenz, zu der mehrere Hundertschaften von Medienvertretern angerückt waren, schwärmte denn auch Münsters OB Markus Lewe geradezu euphorisch, man sehe sich nunmehr wieder in einer Reihe mit Kassel (documenta) und Venedig (Biennale), gern auch in einer Abfolge mit Münster an der Spitze…

Gegen derlei wohlmeinende, doch auch begehrliche Vereinnahmung müsste man sich fast schon wieder wehren und auf künstlerische Autonomie, wenn nicht gar Sperrigkeit pochen. Doch die allermeisten Objekte und Installationen der Skulptur Projekte entziehen sich auch so schon der bloßen „Eventisierung“ und erst recht der schnöden Indienstnahme.

Gleichwohl sind die Skulptur Projekte nach etlichen Skandalen und Skandälchen der frühen Jahre (als sich die bürgerlich geprägte Stadt über vieles erregte, was heute selbstverständlich anmutet) etabliert und in gewisser Weise auch populär – freilich alles andere als „populistisch“. Inzwischen finden sich, neben den Hauptträgern (Stadt Münster und Landschaftsverband Westfalen-Lippe / LWL), etliche potente Sponsoren, die das Budget heuer nahe an die Acht-Millionen-Grenze hieven.

Skulptur Projekte Münster. Vom 10. Juni bis zum 1. Oktober 2017.

Offizielle Öffnungszeiten Mo bis So 10-20, Fr 10-22 Uhr. Freier Eintritt. Katalogbuch (430 Seiten) 15 Euro.

Allgemeine Infos:
www.skulptur-projekte.de
Tel. 0251 / 5907 500

Infos zu Touren und Workshops (auch Online-Buchung möglich unter www.skulptur-projekte.de): 0251 / 2031 8200, Mail: service@skulptur-projekte.de

Navigations-App zu den Werken: apps.skulptur-projekte.de




Auf irgendeine Art naiv – „Der Schatten der Avantgarde“ im Essener Folkwang-Museum

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„Mädchen im Spiegel“ (1940) von Morris Hirshfield, 102×57 cm groß (Foto: VG Bild-Kunst/Museum Folkwang)

Als er sich 2012 vom Kölner Museum Ludwig verabschiedete, durchwehte ein Hauch von Schwermut die Räume. „Ein Wunsch bleibt immer übrig. Kasper König zieht Bilanz“, war die Ausstellung betitelt, mit der sich der prominente Kurator und bekennende Westfale nach 12 Jahren Leitungstätigkeit verabschiedete. Und das geneigte Publikum fragte sich, wie der Ausstellungstitel denn wohl zu verstehen sei: Bleibt der letzte Wunsch nun ein für alle Mal unerfüllt, oder wird er in den folgenden Jahren noch verwirklicht?

Wie es aussieht, trifft Letzteres zu. Kasper König hat (unter anderem in St. Petersburg) munter weiter kuratiert, hat bei Anke Engelke in der Talkshow gesessen und jetzt im Essener Folkwang-Museum eine Kunstschau realisiert, die doch Fragen aufwirft: „Der Schatten der Avantgarde – Rousseau und die vergessenen Meister“. Eine Ausstellung, von der man auch sagen könnte, daß sie typisch für König ist.

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Dieses „Untitled (Blue Man on Red Object)“ des ehemaligen Sklaven Bill Traylor entstand ca. zwischen 1939 und 1942. (Foto: Mike Jensen/Museum Folkwang)

Wo gehören sie hin?

Natürlich soll nicht verschwiegen sein, daß ein zweiter Kurator mit im Boot sitzt, eine gute Generation jünger als König und aus Dortmund gebürtig: Falk Wolf, der unter anderem auf eine mehrjährige Tätigkeit im Hagener Osthaus-Museum zurückblickt. Die beiden sind für das verantwortlich, was im großen, überaus flexibel gestaltbaren Saal des Folkwang-Museums nun zu sehen ist:

Acht Dschungelbilder des berühmten Zöllners Henri Rousseau, drum herum gruppiert Arbeiten von 12 Künstlerinnen und Künstlern, denen gemein ist, daß sie anders als Rousseau im etablierten Kunstbetrieb so recht keinen Platz zugewiesen bekommen haben: Camille Bombois, Adalbert Trillhaase, William Edmondson, Morris Hirshfield, Martín Ramírez, Séraphine Louis, Alfred Wallis, um einige zu nennen. Den einen oder anderen Namen hat man wohl schon einmal gehört, sicherlich den von André Bauchant, dessen eigentümliche Historienbilder einen der Präsentationsräume füllen.

Erich Bödekers Betonfiguren

Auch ein guter Bekannter aus dem Revier ist in die Auswahl geraten: Erich Bödeker, Bergmann aus Recklinghausen, der Figuren aus Beton schuf und sie anmalte. In Essen stehen Tiere aus einem Zoo, bekannt ist aber vor allem auch seine (in Essen nicht gezeigte) englische Königsfamilie, und Beton wählte Bödeker als Material, weil es ihm am haltbarsten zu sein schien. Da lag er leider falsch, und seine schlicht-feierlichen Gestalten mit ihrer geradlinigen Aura dauerhaft zu erhalten, ist ein großes kuratorisches Problem. Aber dies nur am Rande. Mehr oder weniger sind sie alle Autodidakten, kann das Etikett „naiv“ für ihre Arbeiten verwendet werden, und schließlich ist etlichen eigen, daß sie zeitlebens still vor sich hinbosselten, ohne aktiv den Austausch mit Gleichgesinnten zu suchen, sich gar als Avantgarde zu begreifen.

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Ein Esel des Recklinghäuser Bergmanns und Künstlers Erich Bödeker (Foto: Lothar Schnepf/Kolumba/Museum Folkwang)

Der malende Sklave

Der Tscheche Miroslav Tichý, der leicht bekleidete Frauen in Schwarzweiß fotografierte und dies wohl meistens unbemerkt tat, hat es in die Ausstellung geschafft, gleichermaßen Bill Traylor, 1853 in Benton, Alabama geboren und Sklave auf einer Baumwollplantage. Dort blieb er auch noch lange nach dem offiziellen Ende der Sklaverei. Seine chiffrenhaften, kargen Zeichnungen lassen an Höhlenmalerei denken, lassen dunkle Ahnungen von Gewalt und Unterdrückung aufsteigen und gehören in ihrer diffusen Bedrohlichkeit zu den stärksten Bildern der Ausstellung.

Der 1864 geborene Amerikaner Louis Michel Eilshemius hingegen liebte es, nackte pralle Frauen in freier Natur zu malen, und wenn ihm in einigen dieser Bilder die richtige Perspektive auf groteske Art entgleitet, wenn Köpfe wirken wie schief aufgeklebt, dann könnte man glatt eine Absicht dahinter vermuten. Aber sind „naive“ Maler absichtsvoll naiv? In jedem Fall machen schon die Arbeiten dieser drei Künstler deutlich, daß hier von den Kuratoren gerade nicht das Einende gesucht wurde, sondern die bunte Vielfalt.

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Den hungrigen Löwen, der sich auf eine Antilope wirft, malte Henri Rousseau zwischen 1898 und 1905. Foto: Fondation Beyeler/Robert Bayer/Museum Folkwang)

Räume im Raum

Einen inhaltlichen, formalen Bezug zu Rousseaus schlicht-schöner Weltsicht zu konstruieren, fällt trotzdem bei keinem der zwölf Ausgestellten (plus einigen Referenz-Gemälden von Delaunay, Modersohn-Becker, Picasso uns so fort) schwer. Dies ist zu einem großen Teil dem dritten Mann zu danken, der am Zustandekommen dieser Schau beteiligt war und den zu preisen Kasper König im Termin nicht müde wurde: Hermann Czech, Ausstellungsarchitekt, der auf der riesigen Fläche drei schräg stehende Raumgebilde verteilt hat, die Containern ähneln, das Werk jeweils eines Künstlers, einer Künstlerin präsentieren und die gesamte Schau räumlich sinnhaft strukturieren. Zudem gibt es durch Stellwände abgetrennte Bereiche, und alle so entstandenen Zonen haben einen Blickachsenbezug zu den berühmten Bilder des Meisters Rousseau. Ist wirklich nicht schlecht gemacht.

Kaspar König und Falk Wolf Museum Folkwang 2015 "Im schatten der Avantgarde"

Kaspar König (links) und Falk Wolf kuratierten die Ausstellung „Der Schatten der Avantgarde“ im Essener Folkwang-Museum. (Foto: Jens Nober/Museum Folkwang)

„Kuratorische Ratlosigkeit“

Man muß wohl ein alter Hase im Ausstellungsgeschäft sein, wenn man, wie Kasper König, freimütig von „kuratorischer Ratlosigkeit“ als Konzept spricht. Oder vielleicht eben auch als Nicht-Konzept, was aber auch wieder ein Konzept wäre.

Gefragt hatte man ihn, warum nicht auch Jean Dubuffet mit seiner „Art brut“ in der Ausstellung vertreten sei, oder Kunst von psychisch Kranken, oder „Tribal Art“ aus Asien, Afrika, Ozeanien. Hätte man alles machen können, hat man eben nicht (zumal Dubuffet Rousseau dann möglicherweise die Schau gestohlen hätte).

Sicherlich ist der Titel etwas schönfärberisch; der Begriff Avantgarde geht bei den meisten Gezeigten schlichtweg in Leere, und Meister kann man sie auch nicht alle nennen. In jedem Fall jedoch schafft diese Ausstellung eine Vielzahl von sinnvollen schöpferischen Bezügen, die in Ruhe noch bedacht sein wollen. Und zu Recht wirft sie die Frage auf, warum sich der etablierte Kunst- und Museumsbetrieb bei einigen der gezeigten Künstler mit deren systematischer Einordnung so schwer tut.

Kasper König 2017 in Münster 

Übrigens werden wir Kasper König spätestens im Sommer 2017 in Münster wiederbegegnen. Er arbeitet, wie er sagt, schon intensiv an der alle 10 Jahre stattfindenden Ausstellung „Skulptur.Projekte“ , die er jetzt zum dritten Mal plant.

  • „Der Schatten der Avantgarde – Rousseau und die vergessenen Meister“. Museum Folkwang, Essen, Goethestraße.
  • Bis 10. Januar 2016
  • 96 Gemälde, 65 Grafiken, 21 Fotografien, 2 Installationen, 20 Skulpturen = 204 Kunstwerke auf 1400 Quadratmetern.
  • Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do+Fr 10-20 Uhr.
  • Eintritt 8,00 €
  • Katalog 25,00 €
  • www.museum-folkwang.de



„Skulptur-Projekte“ in Münster: Klaus Barbie an der Haltestelle, riesige Kirschen über dem Parkplatz

Von Bernd Berke

Münster. Zwei überdimensionale Kirschen schweben über einem Parkplatz; an der Bushaltestelle leuchten abends Fotos des NS-Verbrechers Klaus Barbie auf; hoch oben an der Lamberti-Kirche flackern drei Irrlichter in den historischen Wiedertäufer-Käfigen – drei von rund fünfzig Objekt-Situationen, die, als großes Freiluft-Ereignis namens „Skulptur-Projekte“, Gänge und Fahrten durch Münster jetzt zum – mal verstörenden, mal erhellenden – Abenteuer machen.

Intensiver als gewohnt, tritt hier Kunst mit städtischem Raum, Baugeschichte und Rest-Natur in spannende Dialoge. 64 Künstler, darunter zahlreiche hochrenommierte, sind beteiligt! Allein 19 von ihnen sind auch bei der morgen beginnenden documenta 8 in Kassel dabei, was auf hohe Qualität hindeutet.

Die Liste der 64 Künstler reicht von Carl Andre über Per Kirkeby und Mario Merz bis zu Ulrich Rückriem und Richard Tuttle. Die internationale Crème der Skulpturen- und Objektemacher kam nach Münster, weil ein Skulpturenprojekt anno 1977 einschlägige Reklame für die Stadt gemacht hatte. Schließlich konnte man mit Prof. Kasper König („von hier aus“) einen AusstelIungs-Manager von anerkanntem Format gewinnen, der das Projekt gemeinsam mit dem Direktor des Westfälischen Landesmuseums, Prof. Klaus Bußmann, leitet.

Zwei Tendenzen zeichnen sich in der Kunstaktion, deren jetziger Zustand quasi nur die Zwischenbilanz eines offenen Prozesses darstellt, ab: Zum einen versteckt man sich nicht mehr im Kunstbetrieb, sondern geht selbstbewußt in den „öffentlichen Raum“, zum zweiten begnügen sich die Künstler längst nicht mehr mit der leidigen „Kunst am Bau“, die eh nur für belanglose Schnörkel an betonierten Sünden stand, und auch nicht mit einer ästhetischen „Möblierung der Stadt“. Vielmehr lassen sie sich auf die Stadt ein, nehmen Maß an ihr und machen sie auf unterschiedlichste Weise zum Untersuchungsgegenstand.

Und tatsächlich: Im Widerspiel mit den Kunstobjekten werden bauliche und planerische Details sinnfällig, die man sonst übersehen würde. Paradefall ist Ulrich Rückriems Skulptur „Dolomit zugeschnitten“, die auf subtile Weise die Formsprache der Petrichkirche aufnimmt, ja eigentlich erst verdeutlicht. Der Reiz des Konkreten, die Herausforderung durch eine bestimmte Umgebung, veranlaßte manchen Künstler, sich intensiv mit der Geschichte des jeweiligen Standortes zu befassen. Der konkrete Stadtbezug, so Kasper König, sei ein Faktor, der den Zugang erleichtere. Das Münsteraner Projekt werde daher wohl keinen Volkszorn auslösen wie jüngst der Skulpturen-Boulevard auf dem Berliner Ku’damm.

An öffentlichen Mitteln für das Projekt, das – mit Schwerpunkt in der City – das ganze Stadtgebiet umfaßt, standen nur 900.000 DM zur Verfügung. Sponsoren sorgten für eine Aufstockung des Etats. Dennoch bekam jeder Künstler nur 3000 DM Honorar. Über eventuelle Ankäufe einzelner Skulpturen soll 1989 entschieden werden.

Im Fußmarsch ist zwar das Kunstpotential der Innenstadt, kaum aber das ganze Projekt zu bewältigen. Typisch münster’sche Lösung: Es wurde ein Extra-Fahrradverleih eingerichtet. Die Fahrradleidenschaft der Stadt ist auch Thema eines Objekts im Innenhof des Landesmuseums. Reiner Ruthenbeck verhängte einige Dutzend Fahrräder (nicht abgeholte Exemplare aus dem Fundbüro) mit einer Fahne aus Lodenstoff – laut Kasper König eine Anspielung auf Kleidersitten von Möchtegern-Landedelleuten des Münsterlands.

„Skulptur-Projekte“. Offiziell 14. Juni bis 4. Oktober. Katalog (erst in etwa zehn Tagen fertig) 35 DM; Kurzführer 10 DM, erhältlich im Landesmuseum, Domplatz 10. Kostenlose Führungen: 0251/591-32 25.




„Von hier aus“: Kunst-Stadt auf dem Düsseldorfer Messegelände soll Kölner erbleichen lassen

Von Bernd Berke

Auch Unschlüssige soll die 60 Meter lange Rampe zur Kunst fiihren. Wer oben anlangt und sich einen groben Überblick über 14.000 Quadratmeter voller neuer deutscher Kunst verschafft, kann noch entschieden, ob er/sie für 8 DM die Halle 13 des Messegeländes betritt. Der Eintrittspreis wird erst hinter der Rampe fällig.

„Von hier aus“ heißt das wohl größte bundesdeutsche Ausstellungsprojekt dieses Jahres (29. September bis 2. Dezember, Katalog 40 DM). Witzbolde haben den Titel achselzuckend parodiert: „Von m i r aus“… Der Originaltitel aber verweist nicht zuletzt auf die stete Rivalität zwischen den rheinischen Kunstmetropolen Köln und Düsseldorf. „Von hier aus“, so behaupten nun bis zum Beweis des Gegenteils die Düsseldorfer, gehen derzeit die magnetischen Kraftlinien der Kunstentwicklung aus.

Besonders der Beschluß des Bundesverbandes Deutscher Galerien, Köln zur alleinigen Kunstmessenmetropole zu erklären, hatte vor Jahresfrist Düsseldorfs Galeristen auf die Palme gebracht. Mit einem noch nicht zum Abschluß gebrachten Kraftakt hat vor allem die örtliche Finanzwelt 3 Mio. DM für die gigantische Schau aufgebracht.

Kasper König als Ausstellungsmacher gewonnen

Kasper König (40), seit der 1981er „Westkunst“ in Köln zur ersten Garde der freien Ausstellungsmacher gestoßen, wurde von den Sponsoren (Rang eins: Stadtsparkasse Düueldorf mit 1 Mio. DM) angeheuert. König schuf, wenn auch wohl nicht der Kunst-Weisheit höchsten Gipfel, so doch eine Ausstellung, deren purer Ereignisrang hoch veranschlagt werden muß.

Hermann Czech, Wiener Stararchitekt, verbaute etwa ein Drittel des Gesamtetats für eine regelrechte Kunststadt, in deren Winkeln, Gassen, Arkaden, Tempelchen, Rotunden und Hinterhöfen König die Kunst so großzügig inszenieren konnte, daß dem einzelnen Kunstwerk beinahe eine Art „Majestät“ zurückgewonnen wird. Nach über 200 Atelierbesuchen konnte König etwa 70 Künstlern zusagen. Joseph Beuys ist, da es die Weltläufigkeit der Düsseldorfer zu belegen gilt, natürlich dabei.

Man geht nicht einfach durch diese Ausstellung – man schlängelt sich durch überraschende Türen und Öffnungen, wandelt zwischendurch auf breiteren Pfaden, betritt treppauf majestätische Bauten oder intimere Gelasse – kurz: In der Kunststadt wird jeder Schritt zum Abenteuer.

100 Video-Bildschirme flimmern unterm Hallendach

Dominierende Erscheinungen sind eine glockenförmig vom Hallendach hängende Installation mit etwa 100 Video-Bildschirmen (flimmerndes Werk des renommierten Koreaners Nam June Paik) und ein Ziegelsteinturm des Dänen Per Kirkeby, der – ebenso wie Paik – kurzerhand der deutschen Szene zugeschlagen wurde. Hernach gerät man zum Beispiel in einen Raum, in dem Dieter Roth 42 Fimprojektoren mit verschiedenen Fümea losschnurren äßt – Bewußtmachung beispiellosen Medientenors. Von Manfred Stumpf gibt’a das zeichnerische Gesamtwerk, abrufbereit auf einem Momtor. Der Besucher tippt dazu einfach eine dreistellige Zahl ein.

Malerei steht dennoch im Mittelpunkt. Keine Überraschund: Die meistens Stars der neudeutschen Szene, zum nicht geringen Teil Beuys-Schüler, sind dabei, u. a. Anselm Kiefer mit seinen Bildem der verbrannten Erde, Biennale-Teilnehmer A.R. Penck mit an die Schriftzeichen vorzeitlicher Kulturen erinnernden Riesenfromaten, Jörg Inmendorffs monumentaIe Meditations-Comics zur deutschen Geschichte, und auch „Wilde“ wie Salome (Porno-Szenen im heftigen Gestus) oder Rainer Fetting.

Dies ist vielleicht eine der hervorragendsten Leistungen der Mammutschau: Daß sie den bislang überschätzten Strömungen keinen übermäßigen Platz einräumt und behutsam verschiedene Tendenzen sichtbar macht.