Sinn fürs Absurde: Staatstheater Kassel überzeugt mit Leonard Bernsteins utopischer Satire „Candide“

Die Ouvertüre ist wohlbekannt als funkelndes Konzertstück, die Arie der Kunigunde „Glitter and be gay“ dient mit ihren exaltierten Koloraturen als Schaustück für stimmversierte Soprane. Aber das Ursprungswerk dieser Evergreens, Leonard Bernsteins „Candide“, gehörte bisher eher in die B-Reihe der Repertoire-Lieblinge. Das änderte sich mit dem 100. Geburtstag Bernsteins 2018.

Bunt und absurd: Bernsteins „Candide“ in Kassel. Von links nach rechts: Lin Lin Fan (Kunigunde), Daniel Holzhauser (Maximilian), Philipp Basener (Dr. Pangloss), Belinda Williams (Paquette), Daniel Jenz (Candide). (Foto: N. Klinger)

Plötzlich war die zwischen Oper, Operette und Musical balancierende Voltaire-Vertonung in den Spielplänen präsent. Von Wien bis Weimar, von Berlin bis Bremen häuften sich die Versuche, der Satire mit dem irrwitzigen, messerscharfen Libretto von Hugh Wheeler (1974) oder der Voltaire-Adaption von John Wells (1988) beizukommen. So auch am Staatstheater Kassel, wo sich Regisseur Philipp Rosendahl und die Dramaturgen Maria Kuhn und Christian Steinbock für die Fassung von 1974 entschieden, die am Broadway erfolgreich war und mit Auszeichnungen (Tony Awards, Drama Desk Awards) überhäuft wurde.

Eine Reise durch die „beste aller Welten“

Zu erzählen ist die Reise durch die „beste aller Welten“ – bei Voltaire eine bissige Satire auf Gottfried Wilhelm Leibniz – nicht einfach linear. Denn die Unwahrscheinlichkeiten häufen sich: Candide, ein Provinzbürschlein aus Westfalen (!), gerät unter grausame bulgarische Angreifer, muss das berüchtigte Lissaboner Erdbeben miterleben. Er wird übers spanische Cadiz nach Montevideo geschleust, genießt das sagenhafte El Dorado, strandet auf einer einsamen Insel und dringt nach einem Intermezzo in Konstantinopel zum weisesten Mann der Welt vor. Der ist kein anderer als jener Doktor Pangloss, der ihm schon am Anfang seiner Irrfahrten die These von der „besten aller möglichen Welten“ verkündet hatte.

Bernstein und Wheeler stürzen sich in diesen abenteuerlichen Parcours und schöpfen ihn genüsslich-grotesk aus. Und Philipp Rosendahl macht mit seinem Co-Regisseur Volker Michl das einzig Richtige: Er lässt in einer nach vorne geöffneten, nach High-Tech aussehenden Kuppel auf der Bühne des Teams Daniel Roskamp/Brigitte Schima eine distanzierte, vielfach gebrochene Show ablaufen, die unweigerlich fragen lässt, ob wir es mit Menschen, Marionetten, Cyborgs oder einfach nur einem höheren Kasperltheater mit Kuh und Schafen zu tun haben.

Dass der naive Candide, von Daniel Jenz in köstlicher Mischung aus baritonalem Ernst und aufgedrehter Überzeichnung gesungen, erst einmal einen Schwan erlegt, legt den Rückgriff auf Wagners „reinen Tor“ nahe; dass im Hintergrund der Bühne auf einem runden Bildschirm rätselhafte, graphisch verbildlichte Operationen (Video: Daniel Hengst) ablaufen, deutet an, dass der transzendente Weltschöpfer längst durch undurchschaubare, alles bestimmende Programme abgelöst sein könnte: Garanten für die Sinnlosigkeit der Welt, die als einzige Antwort die ins Surreale gesteigerte Groteske zulässt?

Existenzielle Fragen zwischen Märchen und Groteske

Dabei stellt Candide durchaus die existenziellen Fragen: Ob das Leben nur „happyness“ und wozu die Welt erschaffen sei, was aus dem Schlechten resultiere, ob Güte nur Lüge sei und ob man nur lebt, um zu sterben. Die Antworten bleiben in den irrwitzigen Kurven der imaginären Lebensfahrt stecken, in denen vergewaltigt und gemordet wird, die aber auch wundersamste Errettungen und Wiederauferstehungen parat haben.

Lin Lin Fan als Kunidgunde. (Foto: N, Klinger)

Die Kasseler Inszenierung findet dafür zwischen Märchen und Groteske einen sicheren Pfad, verfremdet die Personen mit hoffmannesker Mechanik, dick aufgetragenen Posen oder ironisch überladenen Show-Gesten.

Dass es für alles unter der Sonne einen Grund gebe, diese Annahme wird mit leichter Hand zur Absurdität erklärt. Zwischen Willkür und Ignoranz, Dummheit und Zufall gibt es keine Spur von Sinn. Auch der Schluss mit seinem naiv hintersinnigen Rekurs auf arkadisch-friedliches Landleben oder Paradiesgärtlein-Visionen unterstreicht nur, dass es diesen Figuren nicht gelingen dürfte, dem Chaos der Welt zu entgehen. Das alles absolut nicht ernst zu nehmen, bleibt die einzige Methode, die Verzweiflung zu vermeiden.

Dank des fabelhaft spielfreudigen Kasseler Ensembles gelingt es, im Unernst die Spannung zu halten und das Absurde unterhaltsam zu präsentieren, ohne in schwere Ernsthaftigkeit abzudriften. Philipp Basener als mal zynisch, mal kokett schnarrender Erzähler – zugleich Pangloss und weisester Mann der Welt – manövriert sich in Leibchen, Corsage und dekonstruiertem Reifrock durch die verrückte Welt. Lin Lin Fan tiriliert sich mit feiner Stimme durch die überdreht kichernden Koloraturen der Kunigunde.

Wandlungsfähige Sänger-Darsteller

Daniel Holzhauer ist als Maximilian ein selbstgefälliger blonder Strahlemann und Belinda Williams kehrt als Paquette ihren abgebrühten Sarkasmus noch mehr heraus als die allfälligen weiblichen Reize. Als alte Dame hat Inna Kalinina mit ihrem Assimilations-Song einen grandiosen Auftritt. Bassem Alkhouri schlüpft in nicht weniger als sieben Rollen, von denen die eindrücklichste wohl die des Königs ist – ein karikiert aufgeblasener Donald Trump. Cozmin Sime als wollüstiger, aber glaubensstrenger Großinquisitor sowie Marc-Olivier Oetterli, Michael Boley und Bernhard Modes in vielfältigen Rollen – alle rücksichtlos quietschfidel kostümiert – halten wandlungsfähig die Spannung auf stets gleicher Höhe.

Ihre ganze Brillanz versprüht die Musik: Alexander Hannemann hat in der Ouvertüre noch Mühe, die Balance zwischen den kräftig besetzten Bläsern und der zu dünnen Streichergruppe herzustellen; das Orchester aus 16 Solisten artikuliert noch weich. Aber die markanten Pointen in Bernsteins Instrumentation brechen sich bald ihre Bahn und die vielfältigen Tanzrhythmen, die herrlich sentimentale Melodie des Duetts Candide-Kunigunde, die krachenden „Carmen“-Anklänge bei der Abfahrt nach Cadiz und der Neue-Welt-Tanzsound für die Südamerika-Szenen fetzen und zünden.

Allein um dieser Musik willen lohnt es sich, dieses Stück auf die Bühne zu bringen; für eine überzeugende Inszenierung braucht es – wie in Kassel zu erleben – den entsprechenden Sinn fürs Absurde und eine von kluger Ironie gewürzte, humorvolle Distanz zum Drang des Erzählens.

Weitere Vorstellungen: 9., 14., 22. Februar; 15., 29., 31. März; 12., 24. April; 2., 24., 29. Mai; 7.,13., 28. Juni 2020. Karten: (0561) 1094 222. Info: www.staatstheater-kassel.de




Selbstbestimmte Erdbeeren: Meine erste dOCUMENTA

Weltgeschichte auf Schilfgras: Für den "Zeitstrahl" von Geoffrey Farmer bilden sich auf der dOCUMENTA Warteschlangen (Copyright: Anders Sune Berg)

Spottet nur, ihr Daheimgebliebenen. Fragt ruhig ironisch, ob schon ein paar selbstbestimmte Erdbeeren oder herrschaftsfreie Hunde aufgetaucht seien, die von der dOCUMENTA-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev als Beispiele für einen Themenschwerpunkt der diesjährigen Ausstellung genannt wurden – was prompt einen kleinen Medienwirbel verursachte. Eure Häme kümmert mich nicht. Mich treibt das dringende Bedürfnis nach intellektueller Herausforderung nach Kassel.

Den vorgefertigten Meinungen vieler Medien, die ihre Leser zunehmend für dumm verkaufen, will ich mich lustvoll widersetzen. Ich will mich Neuem öffnen, und wenn dies dazu gehört, gerne auch ratlos vor Installationen stehen, deren Bedeutung sich mir nicht erschließt. Ich will mich wehren gegen das feiste Grinsen, mit denen die Feinde von Kunst und Kultur auf die Fettecke von Joseph Beuys deuten, um dann mit perfider Grobheit zu fragen: „Is dat Kunst, oder kann dat wech…?“

Ganz alleine scheine ich mit solchen Wünschen nicht zu stehen. Bereits zur Halbzeit konnte die dOCUMENTA (13), diese 100 Tage währende Weltausstellung der Kunst, einen Besucherrekord vermelden. Genaue Zahlen sollen erst zum Abschluss am 16. September verraten werden. Indes wurde bekannt, dass die Verantwortlichen mit rund 750.000 Kunsthungrigen rechnen.

An diesem ersten Samstag im August, der sich trefflich auch im Freibad oder im heimischen Garten verbringen ließe, schwärmen die Menschen vom gesichtslosen Areal rund um den Hauptbahnhof aus in die Stadt. Bald schon bewege ich mich im Kielwasser kleiner Gruppen. Im Laufe des Tages wird der Besucherstrom anschwellen, wird mich zum Hugenottenhaus, zum Brüder Grimm Museum, zur Neuen Galerie, in die Karlsaue, zur barocken Orangerie, zur Documenta-Halle, zum Fridericianum und zum Hauptbahnhof führen. Er wird mich treppauf und treppab laufen lassen, das Verlangen nach Essen und Trinken auf später verschiebend, weil das Angebot bei 300 Künstlern so verlockend groß und vielfältig ist, mein Besuch aber leider auf diesen einen Tag beschränkt.

Neugierde, Spannung, aber auch einige Zweifel begleiten die erste Kontaktaufnahme. Wie werden wir miteinander zurechtkommen, die zeitgenössische Kunst und ich? Die erste Tuchfühlung erfolgt im Hugenottenhaus, einem kleineren Veranstaltungsort der diesjährigen dOCUMENTA. Das historische Gebäude zeigt sich von einer gewöhnungsbedürftigen Seite, befindet es sich doch in einem stark fortgeschrittenen Stadium des Verfalls. Leitungen liegen frei, vergilbte Tapeten schälen sich von den Wänden. Große Löcher in Decke und Wänden legen Schichten aus Stroh, Lehm und alten Balken frei, die dem Blick sonst verborgen bleiben. Das Haus zeigt seine Eingeweide her. Aber es gibt hier mehr zu sehen als Spuren vergangenen Lebens. Der 1973 in Chicago geborene Theaster Gates hat das Gebäude mit einer Gruppe von Auszubildenden aus Kassel und Chicago in Besitz genommen. Sie haben primitive Möbel geschreinert, eine Küche eingerichtet, in einem Freiraum neben der Diele sogar eine große Hollywoodschaukel aufgehängt. Die Schlafzimmer sind für Besucher nicht begehbar, stehen ihren Blicken aber offen. Wie kann man leben in dieser „sozialen Skulptur“, wie die Künstler diese Begegnungsstätte nennen? Gibt es eine Ästhetik des Schäbigen? Wo mögen sich die Künstler und Künstlerinnen tagsüber aufhalten? Der Zufall will es, dass eine von ihnen gerade auf ihrem Bett sitzt. Sie kehrt den Besuchern den Rücken zu, wird aber trotzdem fotografiert, als sei sie ein seltenes Tier in einem Zoo.

Schlafstatt und Ausstellungsraum: Theaster Gates und eine Gruppe von Auszubildenden machten aus dem Hugenottenhaus eine "soziale Skulptur" (Copyright: Nils Klinger)

Kurz darauf tappe ich ins Dunkel. Der Raum, in dem eine Performance des deutsch-britischen Künstlers Tino Sehgal stattfinden soll, ist aber nur auf den ersten Blick stockfinster. Wer vorsichtig voran geht, bemerkt bald einen schwachen Schein von einer indirekten Deckenbeleuchtung, die ein Minimum an Sicht erlaubt. Staunend und langsam bewegen sich Menschen durch diesen Raum, der von einem leisen Summton erfüllt ist. Er stammt unverkennbar aus menschlichen Kehlen. Sind es vielleicht die anderen Besucher, die hier leise vor sich hin summen? Oder vielmehr: Sind die Menschen um mich herum denn überhaupt Besucher? Kaum taucht der Gedanke auf, da bricht auch schon die Hölle los: Die vermeintlichen „Besucher“ beginnen laut zu singen und rhythmische Texte zu skandieren. Dazu tanzen sie im Dunkeln nach einer ausgefeilte Choreographie. Plötzlich wälzt sich ein Tänzer auf dem Boden. Die anderen stampfen und toben rhythmisch durch den Raum. Ich fürchte eine Kollision, werde aber nicht einmal gestreift. Ein Sprecher sinniert verwundert über die existenzielle Unzufriedenheit vieler wohlhabender Menschen in den westlichen Gesellschaften. Und plötzlich ist der Spuk vorbei. Die Tänzer schwanken leise wie Rohre im Wind. Nichts bleibt als das Dunkel und der geheimnisvolle Summton.

Verzaubert kehre ich zurück ins Tageslicht. Wie Atréju aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ habe ich ein Orakel besucht, einer geheimnisvollen Stimme gelauscht und eine Botschaft empfangen, die ich nur halb verstehe. Ich fühle mich zurückversetzt in Kindheitstage, erinnere mich an aufregende Spiele im dunklen Flur des Kellers, die zur Abendzeit nur durch ein Machtwort der Erwachsenen beendet werden konnten. Um einen Kindheitstraum dreht sich auch die Ausstellung „Knights (and other dreams)“ im Brüder Grimm Museum. Dort beleuchtet der Bulgare Nedko Solakov seine kindliche Faszination für Ritter von denkbar vielen Seiten. Das ist erwartungsgemäß verspielt und auch hübsch anzusehen. Gleichwohl resümiert der Künstler hellsichtig: „Ich hätte sie in meinem Kopf behalten sollen, diese Träume. Dort hätten sie wohl glücklich bis an das Ende ihrer Tage gelebt. Vielleicht.“

Ein erster Höhepunkt ist die Neue Galerie. Hier bewundere ich die teils fragilen, teils kraftvoll-bewegten Bronzeskulpturen von Maria Martins und die fröhliche Farbintensität der Bilder von Gordon Bennett, die Muster und Zitate aus der Kunst der australischen Ureinwohner (Aborigines) aufgreift. Eine leuchtend bunte Jukebox hat die US-amerikanische Künstlerin Susan Hiller aufgestellt: In 100 verschiedenen Sprachen und Varianten bietet sie das Lied „Die Gedanken sind frei“ zur Auswahl an. Die dazugehörigen Texte zieren die Wände bis unter die Decke. Eine lange Warteschlange bildet sich im zweiten Stock vor dem spektakulären „Zeitstrahl“ des kanadischen Künstlers Geoffrey Farmer. Es handelt sich dabei um eine 44 Meter lange Collage aus Ausschnitten des amerikanischen „Life“ Magazins, die von 90 Mitarbeitern in filigranster Arbeit ausgeschnitten und auf Schilfgras geklebt wurden. Bilder von Figuren, Menschen und Gegenständen, 50 Jahrgängen des Heftes entnommen, erzählen die Geschichte der Jahre 1935 – 1985 auf ihre ganz eigene Art und Weise.

Skulpturen von Maria Martins sind in der Neuen Galerie zu sehen (Copyright: Anders Sune Berg)

Nur selten stehe ich an diesem Tag vollkommen ratlos vor einem Kunstwerk. Sogar das auf den ersten Blick Lächerliche ergibt bei näherer Betrachtung Sinn, lädt ein zum Nachdenken über die Vergangenheit oder über den Alltag in fernen Kulturen. Zum Beispiel gibt die 1949 in Zagreb geborene Sanja Ivekovic einer Sammlung von Stoff-Eseln in einer Glasvitrine den Titel „The Disobedient“ (Die Ungehorsamen). Namensschilder weisen die Plüschtierchen als berühmte Personen der Zeitgeschichte aus: Rosa Luxemburg, Martin Luther King und die Geschwister Scholl sind hier versammelt. Ein historisches Foto aus Kassel im Jahre 1944 bildet den Schlüssel zu dieser vermeintlich niedlich-belanglosen Installation: Es zeigt einen Esel, den die Nationalsozialisten in der Stadtmitte von Kassel in Stacheldraht eingezäunt haben, verbunden mit einer Warntafel, dies sei „ein KZ für alle widerspenstigen Staatsbürger“, die nach wie vor bei Juden kauften. Die zwei toten Fliegen, die der thailändische Künstler Pratchaya Pinthong in einer Vitrine ausstellt, verweisen auf den erbitterten Kampf, den die Menschen in seiner Heimat gegen die Tsetsefliege und die von ihr übertragene tückische Schlafkrankheit führen.

Kühne und zugleich kühle Visionen von Technik und Fortschritt beherrschen die große Documenta-Halle. Der deutsche Künstler Thomas Bayrle zeigt dort ein acht Meter hohes und über 13 Meter breites Schwarz-Weiß-Bild eines Flugzeugs, das aus unzähligen kleinen Flugzeug-Bildern zusammengesetzt ist. Am Eingang steht die „Monstranz“, ein feingliedriger Sternmotor, der einst ein tschechisches Saatflugzeug antrieb. Er ist längs durchgeschnitten, sein Inneres ist bloßgelegt, zusammen mit Lautsprechern ist er auf einen stählernen Fuß montiert. Die Maschine läuft, wenn das Stromkabel angeschlossen ist: Gleich wird ihr gleichförmig arbeitender Originalton mit einer vielkehligen Rosenkranzandacht aus dem Kölner Dom zusammenklingen. Der Motor „betet“.

Technik als Religion: Arbeiten von Thomas Bayrle in der Documenta-Halle (Copyright: Anders Sune Berg)

Vermutlich in dem Versuch, möglichst viele Orte in die dOCUMENTA einzubeziehen, werden die Künstler in der Orangerie in der Karlsaue recht lieblos präsentiert. Ihre Arbeiten drücken sich schamhaft in eine Ecke, werden von den ständigen Exponaten nachgerade erschlagen. Die Weiten der Karlsaue zu durchmessen, ist an diesem einen Tag natürlich ganz unmöglich. So entgeht mir der Hundespielplatz für vierbeinige Documenta-Besucher. Die Hunde, die ich an diesem Tag zu Gesicht bekomme, sind erkennbar nicht „herrschaftsfrei“. Auch die glücklichen Himbeeren und Tomaten an einem „Fair Trade“-Stand machen keinen sonderlich politischen oder selbstbestimmten Eindruck. Was im Vorfeld so viel Anlass zum Spott gab, kann andererseits als der durchaus ehrbare Versuch gesehen werden, von einem Weltbild abzurücken, das den Menschen als Maß aller Dinge sieht.

Nach neun Stunden dOCUMENTA bin ich müde, glücklich, voller neuer Eindrücke. Ein Versäumnis fällt mir auf der Heimfahrt plötzlich doch noch ein: Ich habe Hitlers Badewanne nicht gesehen! Diese wurde von der Fotografin Lee Miller aufgenommen, die im April 1945 als Kriegsberichterstatterin mit den amerikanischen Truppen in München eingezogen war und einige Tage in Hitlers Wohnung am Prinzregentenplatz wohnte. Am Tag seines Selbstmords badete sie dort. Nun ja, es muss ja nicht immer Hitler sein. Und was die dOCUMENTA betrifft: In fünf Jahren treffen wir uns bestimmt wieder. Ganz selbstbestimmt und herrschaftsfrei.




Preis für grotesken Humor: Ulrich Holbein ausgezeichnet

Loriot hat ihn erhalten. Ernst Jandl, Robert Gernhardt, Hanns Dieter Hüsch, Ingomar von Kieseritzky, Ror Wolf, Katja Lange-Müller, Gerhard Polt, F. W. Bernstein, Peter Rühmkorf, Herbert Achternbusch und fünfzehn weitere um ihre Vertrautheit mit dem Grotesken oft beneidete Persönlichkeiten ebenfalls. An diesem Wochenende geht der Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor an Ulrich Holbein. Sollte Ihnen der Name unbekannt sein? Verwechseln Sie ihn gar mit einem anderen Herrn Holbein? Das wäre betrüblich.

Seit seiner Kindheit trägt der 1953 geborene Ulrich Holbein zur Weltverschönerung bei. Davon kann man sich beispielsweise in dem wundervollen Buch Bitte umblättern! überzeugen, das 2010 im Elfenbein Verlag erschienen ist. In diese Reihung verheißungsvoller Textanfänge gehört auch ein netter Kinderbrief an den Uropa, säuberlich auf Linienpapier geschrieben und mit Buntstiftzeichnungen am Blattrand. Leider erfahren wir nichts über die Uroma, denn der Brief bricht wie jedes Dokument dieser „Einhundertelf Appetithäppchen“ nach der ersten Seite ab – oftmals mitten im Satz oder Wort. Beim Umblättern tut sich ein neuer Text auf, oder eine Zeichnung oder eine Collage. In einem anderen Text des Bandes wird Satz für Satz die persönliche Entwicklungsgeschichte des Autors der Entwicklung der Menschheit gegenüberstellt. Überzeugend.

Im gleichen Verlag war zuvor Isis entschleiert erschienen, eine Geschichte, die sich ausschließlich aus Zitaten zusammensetzt. Das liest sich etwa so:

Ekkehard Wiederholz: Wenngleich es auch für den Angler appetitlicher sein mag, nur mit sauber gewaschenen Därmen zu arbeiten, würden sie jedoch mit einer gründlichen Säuberung im Wasser ihrer gesamten Duftstoffe und damit ihrer ganzen Anziehungskraft als guter Köder beraubt. Jegliche Därme dürfen daher nur leicht ausgedrückt, das heißt zwischen zwei zusammengepreßten Fingern hindurchgestreift, nicht aber gewaschen werden.
Leonardo da Vinci: Viele werden sich ein Haus aus Därmen bauen und sogar in ihren eigenen Därmen wohnen.
Ulrich Holbein (seinem Vater die Wurst wegreißend): Vorsicht! Du fügst ihr lebensgefährliche Bißwunden zu!
Walter Holbein (die Wurst sofort zurückerobernd): Gib das Ding her!
Ulrich Holbein: Die Wurst war damals schon mein Opa – spürst du das nicht beim Reinbeißen, wie er »Aua!« ruft?
Herta Müller: Der Fuchs war damals schon der Jäger.
Wilhelm Busch: Die Strafe bleibt nicht aus. Jeder Jäger wird mal ein Hase, früher oder später, denn die Ewigkeit ist lang.
Bishma: Geschöpfe, deren Fleisch ich in dieser Welt esse, essen das meinige in der nächsten Welt.
Elias Canetti: Das Tier, das man gegessen hat, merkt sich, wer es war. Seine Seele lebt weiter und wird im Jenseits zu einem Menschen. Dieser wartet geduldig auf den Tod seines Verzehrers. Sobald er im Jenseits ankommt, findet das Opfer ihn, packt ihn, zerschneidet ihn und ißt ihn auf.“
Und so weiter.

Aus lauter Zitaten besteht auch eine „Love Story“ in Ulrich Holbeins Weltverschönerung (2008). Die Textmontage aus Werken von 162 Autoren beschreibt der Menschheit liebste Beschäftigung, die – so dargestellt – in ihrer Austauschbarkeit ziemlich lächerlich erscheint. Aber ob die im gleichen Band veröffentlichten zwölf Thesen und elf praxisorientierten Tipps zum Thema „Wer raffiniert onaniert, rettet die Welt“ den Leser aus dem Dilemma befreien?

In der 13. Ausgabe der Zeitschrift Oya (anders denken. anders leben) erscheint im März/April 2012 der Anfang von Holbeins neuestem „Liebesroman“ Traumpaar ohne Notbremse – wieder nur eine einzige Seite. Klingt ein Liebesroman so? „Sie knallte mir alles mögliche vor Latz und Kopf. Sie ging mir auf den Geist, auf Keks und Wecker und Sack und Gemüt. Es hagelte Blöff und Jux und Sex und Peng und Tschüs.“ Bei Ulrich Holbein schon – neben zarteren Tönen des vorerst letzten Romantikers.

Ein ausgeprägter Individualist ist der an diesem Wochenende geehrte Ulrich Holbein allemal – in seiner literarischen Stilvielfalt, in seiner extravaganten Selbstgestaltung, der Eremitage im Knüllgebirge, den Lektüre- und intellektuellen Präferenzen. 23 Bücher und 892 Einzelpublikationen hatte der Autor bereits bis zum Abbruch seines Netztagebuchs „ulyversum“ im Jahr 2008 vorzuweisen. Einer breiteren Leserschaft ist er durch die Kolumnen „Sprachlupe“ in Die Zeit und „Standardsituationen“ in der Süddeutschen Zeitung bekannt geworden. Als einen Vielschreiber kann man ihn jedoch allenfalls in quantitativer Hinsicht bezeichnen. Holbein ist, wie er selbst sagt, „anders als alle, die anders als andere sind.“

Subjektiv zusammengefasste Lebensläufe von 255 Exzentrikern, Eigenbrötlern, komischen Käuzen und Aposteln aller Art hat Ulrich Holbein in seinem dickleibigen Lexikon Narratorium (2008) vereint, von denen insgesamt 48 in diesem Jahr in den beiden Bänden Heilige Narren und Heilige Närrinnen im Marixverlag neu herausgebracht werden. Doch umfasste das Narratorium bei weitem nicht nur Gurus und Glückssucher, vermeintliche oder echte Heilige im engeren religiösen Sinne, sondern auch von Holbein verehrte Großliteraten wie Jean Paul oder Arno Schmidt.

Ulrich Holbein würde perfekt in sein eigenes Narratorium passen und wird zu Recht mit dem Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet, den die Stiftung Brückner-Kühner alljährlich in Kassel vergibt. Die Lobworte am Samstagabend im Kasseler Rathaus sprachen Harry Rowohlt (für den Förderpreisträger Tino Hanekamp) und Bazon Brock (für Ulrich Holbein). Holbeins langjährige Partnerin, die Komponistin Viera Janárčeková, komponierte für den Abend “Tangomutanten für Quetschkommode und kleine Bassgeige”.

Daneben wurde im Kasseler Rathaus die Ausstellung “Lieber eine falsche Weltsicht als gar keine Flügel! Seufzer, Statements, Appelle” mit emblematischen Fotocollagen von Ulrich Holbein eröffnet. Denn Holbein ist nicht nur ein Wortkünstler. Auf Buchmessen trifft man ihn meistens mit einer handlichen Kamera an. Er knipst, er montiert, er collagiert und textet Sprechblasen.

Der Glückwunsch aus dem Ruhrrevier erscheint im Netz mit einem Tag Verspätung. Der Gratulant hat sich gestern einmal mehr in Ulrich Holbeins Büchern festgelesen und fand die Lektüre vergnüglicher, als seinerseits einen Artikel zu schreiben.

Letzte Buchveröffentlichungen von Ulrich Holbein u.a.:

Heilige Narren. 22 Lebensbilder. Wiesbaden: Marixverlag 2012.
Heilige Närrinnen. 22 + 4 Lebensbilder. Wiesbaden: Marixverlag 2012.
Bitte umblättern! Einhundertelf Appetithäppchen. Berlin: Elfenbein 2010
Narratorium. Zürich: Ammann 2008.
Ulrich Holbeins Weltverschönerung. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2008.
Januskopfweh. Glossen, Quickes und Grotesken. Berlin: Elfenbein 2003.
Isis entschleiert. Heidelberg: Elfenbein 2000.

Ulrich Holbein auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2011 / Aufnahme: W. Cz.




Konzeptlos in die documenta

Die documenta ist in vielerlei Hinsicht ein sehr, sehr merkwürdiges Unterfangen. Sie will Weltausstellung der Bildenden Kunst sein und liegt doch in der Hand nur eines Direktors. Sicher wird der seine Adlaten und Faktoten treiben, an ihm allein, so zeigt’s die Geschichte, bleibt aber der Ruhm oder Unruhm kleben. Und überdies: Eine „Weltkunst“ gibt es nicht. Niemand kann die Übersicht haben, und uns zu geben vermag sie auch keiner. Was sicher auch damit zutun hat, dass der Mensch, gemessen an den Zeitläuften, nur ein relativ enges Fenster bewusst mitbekommen kann. Steht man beispielsweise im Saft seines Lebens, das Grünzeugs hinter den Ohren ist fortgeschnippelt, und haben einen Mami und Papi nicht gerade im Buggy durch jede Ausstellung und die Kasseler Auen geschoben, startet man gegebenen- oder äußerstenfalls in der kunstleistungskursvertrödelten Oberstufe mit der ersten ernsthaften Beschäftigung in Sachen zeitgenössischer Kunst. Man schaut fünf Jahre später eine Ausgabe während des Studiums und, gesetzt den Fall man ist recht flott bei der Sache: Schon findet man sich im Berufsleben (nicht mehr) wieder, möglicherweise als Kritiker, und soll über eine solche Veranstaltung auch noch fundierte Aussagen verfassen.

Der Zeitpunkt, zu dem wir’s allerdings wirklich können, weil wir genügend Ausgaben gesehen haben, liegt immer schon in der fernen Zukunft. Sind wir jedoch dort erst einmal angelangt, verstehen wir den Betrieb nicht mehr, geschweige denn die Künstler und ihre Werke. Ein Blick in die Altherrentexte gewisser Autoren, vorzugsweise publiziert vom frakturierten Oberkopf am Main, reicht. Wie muss es erst sein und sich anfühlen, wenn man eine solche Veranstaltung als Curator in Chief auf die Beine zu stellen hat? Allein die historische Belastung, das Erbe der Großen seit den Fünfzigern, ist eine Qual für sich! Kein normaler Mensche möchte mit Carolyn Christov-Bakargiev (CCB) tauschen, die ihre Ausgabe für 2012 vorbereitet. Was alles ist zur vergangenen Veranstaltung gegen die Buergelmaschine in Stellung gebracht worden. Nun, geschadet hat ihm das mediale Debakel nicht. Heute ist er ganz professoral. Vielleicht kann man dem nur entkommen, indem man nicht einfach nur Unsinn macht bzw. viel dummes Zeugs präsentiert, daherredet, proklamiert und nebenbei auch noch Künstler düpiert, vielleicht muss es genau so sein, wie CCB es jetzt zelebriert: Ein Feuerwerk des reflektierten Schwachsinns. Denn so dämlich wie die jetzigen Beiträge der Kuratorin in der Öffentlichkeit sind, so geplant irrsinnig muss das sein. Ein Interview mit Noemi Smolik in Frieze d/e, Heft 1, Sommer 2011, offenbarte die pathologisierende Wirkung des Jobs auf diese kunstsinnige Multiplikatorin.

Was für ein Dialog! Der beginnt mit dem Zauber der Dialektik. Nordpol. „Die Welt sieht ein bisschen anders aus, wenn man den Blickwinkel derart verlagert“, kratzt die Chefin ihre Miles and more im Hirn zusammen und präsentiert den Humbug der Öffentlichkeit, die scheint’s für jeden Pup als Mülleimer herzuhalten hat. Denn für eine derartige Erkenntnis benötigt niemand Polarluft und muss sicher nicht tonnenweise CO2 qua Flugzeugabgas in den Himmel pumpen. Es ist nicht ganz klar, was kuratorische Arbeit mit CCBs Nordfahrten zutun hat. Aber das muss es auch nicht, denn sie ist ja irgendwie selbst die Künstlerin, diejenige, welche ein großes Werk namens documenta 13 zu realisieren, aufzuführen hat. Begleitet sie Künstler bei ihren Recherchen? Frau Smolik fragt leider nicht danach. Oder ist derartiges Geplänkel mittlerweile das verbale Initialritual für ubiquitäres Bullshit-Bingo im „kritischen“ Sektor des Kunstbetriebs? Jedenfalls formiert sich am Pol ein großes Experiment mit unbekanntem Ausgang. Die documenta. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2011, und die Verantwortung sei Segen und Bürde zugleich, sagt CCB. Dabei ist es doch vollkommen gleichgültig, was sie präsentiert: Dass die Besucherzahlen jedoch kontinuierlich gestiegen sind, lässt eigentlich vermuten, dass die Beschwernis nicht allzu groß ist. Es wird schon, liebe CCB, keine Bange. Der Kunstrubel rollt weiter. Na ja, und irgendwie wird vor diesem Hintergrund auch verständlich – gewissermaßen –, warum Du so viel Murks erzählst. Etwa über das Konzept.

Denn nach diesem eiskalten Vorgeplänkel kommt sie wirklich zur Sache. Besser: Sie kommt natürlich nicht zur Sache, sondern nur zum Konzept, und die d13 soll keines übergestülpt bekommen. Denn Konzepte überschatteten heute die „Arbeit der Kultur“. Was aber ist die? Seit wann geht die Kultur auf Arbeit? Und wenn ja, wo? Eine Ausstellung konzeptlos zu gestalten hieße für sie, möglicherweise „in einer sehr guten Kunstmesse zu enden“. Ist das so? Ist eine Messe tatsächlich konzeptlos? Das wird Herrn Hug oder wen auch immer doch extrem ärgern, und es ist beinahe schon verwunderlich, dass die Macher der Frieze solch unreflektierte Hirnsoße gestatten. Zum Glück tun sie das, nicht nur der Pressefreiheit wegen. Denn hier geht es um mehr als nur den schnöden Alltag in einem gesellschaftlichen Subsystem mit postfeudalistischen und protooligarchischen Zügen. Konzept heißt gemäß Duden unter anderem, einen klar umrissenen Plan zu haben. Ist das so verkehrt mit Blick auf ein derartiges Mammutprojekt? Wie sich die documenta finanziert? Keine Ahnung, aber sollte auch nur ein Cent meiner Steuern in das Vorhaben fließen, so kann man erwarten, dass sich die Dame auf ihren Hosenboden setzt und gefälligst ihre Hausaufgaben macht, sprich: ein tragfähiges Konzept einer Ausstellung entwickelt und begründen kann, warum sie diesen oder jenen Künstler eingeladen hat und andere nicht. Was ihr Blick auf die Gegenwartskunst ausmacht, woran er sich orientiert. Und so weiter… Doch vielleicht brütet CCB etwas ganz anderes aus, und wir verstehen ihre Worte (noch) nicht. Alles denkbar, alles möglich, denn sie sagt ja auch, dass die documenta eigentlich keine Ausstellung ist.

Das Dumme an der Sache ist nicht, dass CCB gewagte Thesen in den Raum wirft. Das sollte zur d13 auf jeden Fall passieren. Allerdings sollten nicht die Pfade des Bewusstseins verlassen werden. Zum Verzweifeln ist’s bei dem absolut hirnrissigen Vergleich zwischen dem Konzept einer Ausstellung wie der d13 und Facebook. Sie behauptet: „Hier überschattet das Konzept des Kommunizierens den Inhalt dessen, was kommuniziert wird, und schafft so narzisstische Störungen in der Gesellschaft.“ Der Vergleich zwischen dem Konzept einer Kunstausstellung und der scheinbaren Funktions- und Wirkweise einer Internetplattform verbietet sich. Außerdem ist diese FB-Interpretation sachlich falsch. Der formalisierte Rahmen, der die Kommunikation über das Internet erlaubt, ist letztlich flexibel genug, um ein enormes Quantum herkömmlicher Kommunikation zu gestatten. Eben jene unterstellten narzisstischen Störungen ereignen sich bei bereits Veranlagten, aber nicht in Form einer direkten, monokausalen Konsequenz, wie es CCB suggerieren möchte. Diese Hinrichtungsargumente, die gerade nicht argumentieren, wollen der Technik eine Schuld zuschreiben, die verkennt, dass es keinen Schuldigen gibt, selbst Herr Zuckerberg ist keiner. Was CCB hier übertreibt, ist falsch verstandene Medientheorie der frühen Neunziger. Wer also möchte von offensichtlich ignoranten, ganz deutlich uninformierten Pseudokünstlern eine Ausstellung im Format der documenta serviert bekommen? Was kann denn da erscheinen? Vielleicht ist es de facto so, dass man als Kurator der Kasseler Über-Veranstaltung heute tatsächlich wie ein Künstler agieren muss. Vielleicht führt am Nordpol kein Weg vorbei. Vielleicht ist Kassel auch wirklich nicht der eigentliche Veranstaltungsort dieser Schau und vielleicht versteht man ferner den Humor dieser Kaste von künstlichen Kunstmultiplikatoren nicht mehr. Aber was aus dieser Wortblubberei zu lesen ist, das reicht, um einem die Lust zu verderben: einerseits am Betrieb, andererseits an der Ausstellung. Und das zu bemerken, ist keine Frage der Häufigkeit des Besuchs.




Fußgänger sehen mehr von der Welt – An der Uni Kassel existiert der einzige Lehrstuhl zur Spaziergangswissenschaft

Von Bernd Berke

Dortmund/Kassel. Heute schon spazieren gegangen? Ganz entspannt im Hier und Jetzt des Waldes? Gut so. Aber haben Sie gewusst, dass es eine Spaziergangswissenschaft gibt? Kein Scherz. Im hiesigen Fachjargon heißt sie Promenadologie, im englischen Sprachraum strollology.

Es begann in den 1980er Jahren. Damals beackerte der Soziologe Lucius Burckhardt (1925-2003) wohl als erster das neue Forschungsfeld. Typisch deutsch: Nicht einfach gehen, sondern übers Gehen nachdenken? Jedenfalls wollte er „die Umgebung in die Köpfe der Menschen zurückholen“. Sein Nachfolger als Dozent an der Uni Kassel war der Berliner Martin Schmitz. Er ist überzeugt: „Spaziergänge können helfen, unsere Städte bewusster zu planen.“

Promenadologie hilft Raumplanern und Architekten

Worum geht’s den Spazierforschem also? Um unsere Wahrnehmung, unseren Blick auf Landschaften, Städte und Dörfer. Mit den schnellen Verkehrsmitteln, so eine Grundannahme, hat sich unser Hinschauen verändert. Indem wir mit Autos oder Billigfliegern durch Gegenden hindurch oder über sie hinweg sausen, bemerken wir viele Details gar nicht und ignorieren hässliche Ecken.

So sehen Stadtplanungen denn auch häufig aus: kein Gespür mehr für Übergänge, Abstände, Nuancen und Details. Schmitz: „Selbst Architektur-Studenten sind auf diesem Gebiet oft unterbelichtet. Sie kennen nicht einmal das Umfeld ihrer Unis.“ Die Spaziergangswissenschaft will für „Entschleunigung“ sorgen. Wer langsam und entspannt geht, sieht mehr. Kurzum: Man will gezielte Hilfestellung geben für Architekten, Stadt- und Raumplaner. Schmitz: „Daraus können neue Impulse entstehen.“

Wie auch immer: Die Spazierforschung dürfte ein Neben- und Hilfsfach bleiben – mit allenfalls mittelfristigen, unterschwelligen Wirkungen. Es gibt Ansätze in der Forschung, den „Spazierwert“ von Regionen auf einer Skala von 1 bis 10 zu bewerten. Schmitz hält nicht viel von solchen Hitlisten. Sie verstellen vielleicht den Blick dafür, was man verändern kann.

Wenn der Weg gar nicht mehr zählt

Dabei ist genaues Hinsehen nötiger denn je. Denn neuere Entwicklungen, so Schmitz, lassen den genauen Blick noch mehr vergehen. Seit Navigationsgeräte weit verbreitet sind, interessiert meist nur noch die Ankunft am Ziel, nicht mehr der Weg – der wird ja schon ohne eigenes Zutun berechnet. Von Computer-Programmen wie Google Earth ganz zu schweigen, mit denen man virtuell blitzschnell an jeden Punkt der Erde gelangt. Wahrscheinlich kein Zufall, dass kürzlich der Kinofilm „Jumper“ so erfolgreich war: Da geht es just um „Teleportation“, also die Fähigkeit, sich sofort in jede Weltecke zu beamen. Gegenbewegungen gibt es freilich auch. Zu nennen wäre die Pilger-Mode im Gefolge von Hape Kerkelings Dauerbestseller „Ich bin dann mal weg“.

Die globale Mobilisierung hat weit reichende Folgen: Wenn man jederzeit überall sein kann, sieht es irgendwann überall ähnlich aus. Besonders die gleichförmigen Fußgängerzonen gefallen den Spazierwissenschaftlern nicht. Es klingt paradox, aber gerade diese Gehflächen wollen sie teilweise wieder durch Autoverkehr beleben.

„Durchmischung“ heißt das Zauberwort, mit dem Wohnen, Einkaufen und Arbeiten wieder näher zueinander rücken sollen. Solche Maßnahmen seien wirksamer, als wenn man (wie in Frankfurt oder Berlin) historische Häuserzeilen oder Stadtschlösser nachbaut, findet Schmitz.

Ihre Grundlagen holt die Promenadologie nicht zuletzt aus der Literatur. Vor allem im Roman sind Orte und Landschaften reine Kopfgeburten. Dieser Befund macht klar, dass auch Stadtbilder in erster Linie mit Phantasie zu tun haben. Sprich: Man kann sie sich für die Zukunft eben auch ganz anders vorstellen.

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HINTERGRUND

Lucius Burckhardt, Martin Schmitz

  • Der spätere „Erfinder“ der Spaziergangswissenschafft, Lucius Burckhardt (1925-2003) war in den 50er Jahren in der Sozialforschungsstelle in Dortmund tätig.
  • Er betrieb intensive Feldstudien zur Wohnsituation im Ruhrgebiet.
  • 1955 veranstaltete er in Dortmund den Kongress „Der Stadtplan geht uns alle an“.
  • In den 80ern entwickelte er an der Gesamthochschule Kassel das neue Fach.
  • Martin Schmitz  (1956 in Hamm geboren) studierte bei Burckhardt und verlegte später dessen Buch. In Kassel hat er den einzigen deutschen Lehrstuhl für Spaziergangswissenschaft inne.
  • Auch an der Uni Leipzig gibt es Seminare zur Spaziergangswissenschaft.
  • Der Künstler Gerhard Lang hat Aktionen im Sinne des Fachs veranstaltet: „Spazieren als künstlerischer Akt“.
  • Lucius Burckhardts Standardwerk: „Wer plant die Planung?“ Martin Schmitz Verlag, Berlin. 360 Seiten. 18,50 Euro.



Buergelmaschine: Mona Lisa trifft Krümelmonster

Das Problem kennt man nicht nur aus Kassel: Wenn Kunst selbst nicht mehr deutlich „spricht” (weil sie in „Konzepten” erstickt), dann müssen die Interpreten umso weitschweifiger reden. Allen voran der documenta-Chef Roger M. Buergel. Sein mit allerlei intellektuellem Lametta geschmückter Jargon beim Beschreiben der Kunst wird jetzt auf einer Internet-Seite trefflich verulkt.

Dem Manne fällt noch zu jedem Kunstprojekt eine sprachliche Wendung ein, die manchmal auf wolkige Art – so gut wie gar nichts besagt. Das hat auch die Leute des Blattes „Exot” (Zeitschrift für komische Literatur) dermaßen entnervt, dass sie ihre Computer mit den 50 geschwollensten Original-Phrasen gefüttert haben, die immer wieder neu zu irrsinnigen Sätzen komibiniert werden können. Das Resultat? Wohlfeil, aber vielfach auch witzig.

Das Verfahren im Netz ist simpel: Man lädt ein beliebiges Bild hoch, versieht es mit dem wirklichen oder einem Wunschtitel – und fordert per Mausklick die Deutung an. Und schon rattert sie, die zufallsgesteuerte „Buergelmaschine”, die jegliches Kunstwerk gründlich plättet – wie nur je eine Bügelmaschine.

Mehrere Nutzer haben Leonardos berühmte „Mona Lisa” eingestellt. Wir erfahren dazu im typischen Buergel-Sound, dieses Gemälde sei „die Projektion eines Gesellschaftskörpers im Sinne einer Gemeinschaft der Gleichen.” Passt nie und immer. Im zweiten Anlauf heißt es über dasselbe Bild, Leonardo versuche, „die Strukturen der digitalen Informationsgesellschaft zu verstehen.” Dieser Maler war eben weitsichtig.

Ein biedermeierliches Idyll von Carl Spitzweg wird so „erklärt”: „Grundthese der klimaveränderungsgebeutelten Arbeit ,Der Bücherwurm‘ ist die lyrische oder sogar ekstatische Seite der Kunst.” Gut, dass es mal einer sagt. Auch das mit dem Klima.

C. D. Friedrichs romantischer „Wanderer über dem Nebelmeer” bleibt auch nicht ungeschoren: „Trotz der Partydekadenz des Kunstmarktes ermutigt Caspar David Friedrich (dazu), Betroffenheitskitsch zu aktivieren . . .”

Richtig abstrus wird es aber erst, wenn die User keine anerkannten Kunstschöpfungen, sondern populäres Bildwerk hochladen. Ein Porträt des Krümelmonsters etwa, das lauthals „Kekse!” verlangt. Dazu heißt es ganz beherzt: „Das Spannungsfeld von Konvention und Imagination der konsumistischen Arbeit ,Kekse!‘ ist das bloße Leben.” Man hat es doch immer schon geahnt, oder?

Ein Briefmarken-Doppelbildnis der alten Existenzialisten-Haudegen Käpt’n Blaubär und Hein Blöd haben wir bisher freilich nie zu würdigen gewusst – bis wir diese durchtriebene Auslegung gelesen haben: „Im Rahmen von Performances fordert Hein Blöd, die Formentypologie der Moderne zu vernichten (…) Das bestimmende Moment der Irritation der leisen und differenzierten Arbeit ,Käpt’n Blaubär‘ ist Jean-Paul Sartre.”

Maus, Ente und Elefant aus der „Sendung mit der Maus” erfüllen gleichfalls eine Mission: „Das Verhältnis von Unterwerfung und Freiheit auslotend”, will das Trio nämlich den „negativen Raum als Provokationsstrategie” zur Debatte stellen, und das auch noch in der „traumlosen Hölle des Realen”. Mauseken, wie haste dir verändert!

Natürlich können es manche nicht lassen und setzen Bildnisse unbekleideter Damen völlig ungeschützt dem deutenden Zugriff aus. Eines heißt vielsagend „Höhepunkt”. Die Deutung erhebt sich weit übers Fleischliche: „Triviale Erkenntnis der unterkomplexen Arbeit ,Höhepunkt‘ ist das Grundgefühl der Verlorenheit in Kassel.”




Wenn rohe Kräfte der Natur die Kunst verbessern – Der Mohn, der Reis und die zerstörte Skulptur: Klima betrifft auch die documenta

Von Bernd Berke

Nicht nur das Kino hat mit dem Wetter zu schaffen, sondern auch die bildende Kunst. Und wie! Bei der documenta in Kassel können sie Lieder davon singen.

Die erst seit einer knappen Woche laufende Weltkunstschau ist bereits mehrfach von ungünstiger Witterung betroffen. Vor allem die großflächigen Blickfänge wollen und wollen nicht gedeihen. Das vor dem Fridericianum ausgesäte Mohnfeld der kroatischen Künstlerin Sanja Ivekovic mag die ersehnten roten Blüten nicht herzeigen. Ständiger Regen hat die meisten Keime ausgewaschen.

Ganz anders gelagert ist das Problem im Falle des Reisfeldes am Schloss Wilhelmshöhe, angelegt vom Thailänder Sakarin Krue-On. Das hierfür dringend nötige Wasser versickert fruchtlos im porösen Boden. Jetzt will man notgedrungen von Nass- auf Trockenreis umstellen.

Hier wie dort ist Geduld gefragt, bis die Pflänzchen der Kunst endlich sprießen. .Doch damit nicht genug der klimatischen Sorgen.“ Der Chinese Ai Wei Wei (derjenige, welcher‘ 1001 Landsleute als lebendes Kunstwerk nach Kassel holt) hat auch eine turmförmige Holzskulptur gebaut, die von einem Kasseler Unwetter zum Einsturz gebracht .wurde. Da rufen wir „O wei!‘ und „Potzblitz“!

Ist es etwa absichtliche „Dekonstruktion“? 

Mit all diesen betrüblichen Informationen versehen, legte man sich schon mal passende Deutungen zurecht. Waltete hier nicht pure Absicht? Der schlaue, mit allen Wassern der Theorie gewaschene documenta-Chef Roger M. Buergel hatte doch bestimmt mal wieder „Dekonstruktion“ (sprich: gezielte Zerlegung) von Kunst im Sinn. Überdies besseres Mittel als Pannen und Schäden, um jeden Tag in die Presse zu kommen.

Ertappt, lieber Herr Buergel! Sie haben im Vorfeld einfach zu oft die besondere Schönheit unvollendeter Werke gepriesen, die sich im Lauf der Zeit verändern. Jetzt wissen wir, wie Sie das anstellen.

So phantasierte man sich in Glossenstimmung hinein und wollte gerade zu schreiben beginnen. Doch just da kamen die neuesten Zitate aus Kassel, die den ironischen Zugriff hinter sich lassen.

Ai Wei Wei denkt nämlich gar nicht daran, seine Skulptur wieder aufzubauen. Er glossiert den Vorfall selbst: „Das ist besser als vorher. Jetzt wird die Kraft der Natur sichtbar.“ Und er fügt im Hinblick auf einen konkreten Kaufinteressenten hinzu: „Der Preis hat sich soeben verdoppelt.“

Auch documenta-Chef Buergel, der gestern barfuß durch Pfützen watete und die Einsturzstelle besah, findet, dies alles sei „nur konsequent. Die Trümmer lassen jetzt jede Menge Assoziationen zu.“ Ja, warum dann nicht gleich so? Warum überhaupt anfangs intakte Arbeiten hinstellen? Na, wie gesagt: Damit es Schlagzeilen gibt.




Verlustmeldungen aus dem Schloss Wilhelmshöhe – „documenta XII“: Aktuelle Arbeiten schrumpfen neben Rembrandt und Rubens

Von Bernd Berke

Kassel. Wie sollen Besucher die documenta bewältigen? Ausstellungs-Chef Roger M. Buergel hat auch hierfür einen Rat: Lieber 20 Minuten still und innig vor einem einzigen Werk verweilen anstatt „wie ein rasender Reporter“ das komplette Aufgebot sehen zu wollen und nachher im Hotel zusammenzubrechen.

Das rechte Maß der Vernunft dürfte irgendwo in der Mitte zwischen beiden Verhaltensweisen liegen. Wenn man den Parcours im Aue-Pavillon beginnt, hat man zumindest schon mal die ärgste ästhetische Zumutung hinter sich. Nicht wegen der gezeigten Werke, die hier nur bedingt gedeihen können, sondern wegen des scheußlichen (gottlob temporären) Neubaus. Dieses monströse Gewächshaus hat zweifelhaften Baracken-Charme und verschandelt das Umfeld der historischen Orangerie. Drinnen herrscht bei Sonnenwetter Treibhausklima.

Trost und Balsam gibt’s vor allem in einigen Bereichen des Fridericianums, beispielsweise im Bannkreis einer famosen Installation der Brasilianerin Iole de Freitas. Mit einem windungsreichen Gebilde aus Stahlrohren und Plexiglas bringt sie ihren Raum geradezu tänzerisch zum Schwingen und Schweben. Auf Wiedersehen, Schwerkraft. Hier ist ein Stück vom Reich der Freiheit.

Fünf große Stätten hat diese Weltkunstschau. Man sollte gut und gern zwei Tage dafür einplanen, zumal das erstmals einbezogene Schloss Wilhelmshöhe etwas außerhalb liegt. Das zwangsläufig etwas ungerechte, meinetwegen vorläufige Fazit nach all den Rundgängen fällt zumindest zwiespältig aus. Über gar zu lange Strecken überwuchern (meist edle) politische Absichten das künstlerische Kapital. Nur wirklich starke Werke bestehen gegen die gedanklichen Frachten, die der Kunst hier vielfach aufgebürdet werden.

Weite Teile der documenta muten ziemlich spröde an, angestrengt buchhalterisch, zuweilen sogar verbissen. (Selbst)ironische Wendungen bleiben ebenso rar wie saft- und kraftvolle Schöpfungen. Geradezu schmerzlich wird dies im Schloss Wilhelmshöhe spürbar, wo man punktuell alte und neue Kunst miteinander konfrontiert. Neben den Gemälden eines Rembrandt oder Rubens schrumpfen die meisten aktuellen Arbeiten zu bloßen Verlustmeldungen. Da merkt man, wie gründlich das Menschenbild seither beschädigt worden ist. Wie soll man es nur zeitgemäß zurückgewinnen? An dieser Frage mühen sich heute die Allerbesten ab – allen voran Gerhard Richter, dessen vielschichtiges Mädchenbildnis „Betty“ (schon von 1977) in Kassel zu den Ikonen zählt.

Zurück zum Agitprop. Gegenüber dem Fridericianum kreist ein Karussell des Künstlers Andreas Siekmann, das auf reichlich plakative Art gesellschaftliche Ausgrenzung anprangert. Polizisten tragen hier als Pappkameraden gleich die glasklare Aufschrift „Violenzia“ (Gewalt) auf ihren Schutzschildern vor sich her. Auf wenig vorteilhafte Art wird auch Bundespräsident Horst Köhler als Agent der Geldmächte dargestellt – in seiner früheren Funktion bei der Weltbank. Köhler wird just heute zur documenta-Eröffnung erwartet. Doch sein protokollarisch vorgezeichneter Weg macht ums Karussell einen weiten Bogen…




All die tiefen Wunden dieser Erde – Die documenta XII versucht die Abkehr von eurozentrischen Perspektiven

Von Bernd Berke

Kassel. Wer wollte bestreiten, dass „wir“ der so genannten Dritten Welt vieles Übles angetan haben – von kolonialistischen Zeiten bis zur heutigen neoliberalen Herrschaft der Geldströme. Bei der Kasseler documenta XII kann man in zahlreichen Details nachvollziehen, zu welch desolaten Verhältnissen dies führt. Da bleibt, um ein documenta-Schlagwort aufzugreifen, meist wirklich nur das notdürftig „bloße Leben“ übrig.

Was einer Weltkunstschau bestens ansteht, ja geradezu zwingend ist: Etliche Beiträge kommen aus Indien, China, Südamerika und afrikanischen Ländern. Mehr oder weniger verbrämte eurozentrische Sichtweisen herrschen in der sonstigen Westkunstszene genug.

Beim weitläufigen Streifzug durch die ersten drei documenta-Schauplätze (Fridericianum, documenta-Halle, Aue-Pavillon) beschäftigt einen manche ausufernde Dokumentation zum weltweiten Elend, zur Zerstörung ganzer Lebensräume, zu allen Wunden dieser Erde  doch auch zu sämtlichen Arten der Gegenwehr und der Dissidenz.

Anwachsende Archive des Widerstands

Auch im Rückgriff auf die letzten Jahrzehnte werden gleichsam alle Möglichkeiten des Nicht-Einverstandenseins eingesammelt, so dass sich angehäufte „Archive des Widerstands“ ergeben – bis hin zu unscheinbaren, fotografisch festgehaltenen Aktionen eines Jiri Kovada, der in den 70er Jahren seinen Widerwillen gegen kommunistische Prager Zustände mit kleinsten Gesten auf der Straße anmeldete. Insgesamt scheint’s, als solle auf diese Weise ein Aufbruchsgeist wie von 1968 erneut heraufbeschworen werden.

Aber ergibt sich hier auch eine bewegende Ästhetik des Widerstands? Zuweilen schon, etwa bei Romuald Hazoumé (Nigeria), der aus alten Benzinkanistern ein monumentales Flüchtlingsboot gebaut hat und es als ebenso unabweisbar machtvolles wie mehrdeutiges Zeichen der Migration in den Raum stellt.

Von vornherein ausgemachte Feinbilder

Doch in einigen Fällen erschöpft sich das Protest-Potenzial in agitatorisch anmutender Wandzeitungs-Ästhetik. Da „stimmen“ von vornherein die Feindbilder, über die man sich offenbar gar nicht mehr verständigen muss. Die meisten Künstler freilich mühen sich ab mit peniblen Materialsammlungen oder mit Fragen nach der künstlerischen Darstellbarkeit politischer Vorgänge überhaupt. Viel Grübelstoff.

Die Schau ist denn auch weit entfernt von einer etwaigen „neuen Übersichtlichkeit“. Man wird kaum eine Kunstrichtung nennen können, die nicht in irgendeiner Form fürsorglich eingemeindet wird, zuweilen gar in ein und demselben Werk – so etwa bei Luis Jacobs schier endlosen Formen-Mutationen oder beim gigantischen, wahrhaft verwirrenden Auftritt der Cosima von Bonin in der documenta-Halle. Weiße Linien sind um ihre vielteilige Installation gezogen, damit man erkennt, was noch dazu gehört und was nicht.

Ein Netzwerk aus Kleidungsstücken

Und wie steht es mit dem angestrebten Dialog der verschiedenen Werke? Nun, oft wird man ihn herbeireden müssen. Irgendeine Verbindungslinie findet sich immer, notfalls durch intellektuelle Spökenkiekerei.

Die vielleicht schönste Raumabfolge der documenta überwältigt den Besucher auf sanfte, doch nachdrückliche Weise im altehrwürdigen Fridericianum. Zunächst trifft man ganz unvermittelt auf eine stille Choreographie der Tanz-Künstlerin Trisha Brown. Eine Gruppe junger Balletteusen bewegt sich wie in Zeitlupe über ein Netzwerk aus Kleidungsstücken. Sie schlüpfen mühselig herein und heraus. Das Wechselspiel aus körperlicher Anspannung und befreienden Momenten ergreift wohl jeden, der den Saal betritt. Mit anderen Worten: Der Raum ist wundersam erfüllt.

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AM RANDE

Stadtreinigung entfernt Kunstwerk

  • Zwei Tage vor der Eröffnung ist das erste Werk der documenta schon zerstört. Eine Arbeit der aus Chile stammende Künstlerin Lotty Rosenfeld fiel gestern der Kasseler Stadtreinigung zum Opfer, bestätigten die Ausstellungsmacher einen Bericht des Hessischen Rundfunks.
  • Rosenfeld hatte weiße Kreuze auf Straßen in Kassel gemalt. Die nicht informierten Stadtreiniger rissen aufgeklebte Markierungen ab und entfernten die Kreuze.
  • Rosenfelds Arbeit entstand in Anlehnung an eine eigene Aktion 1979 im damals noch diktatorisch von Augusto Pinochet regierten Chile.

 

 




Die Ratlosigkeit einfach aushalten – Was documenta-Chef Roger M. Buergel über „seine“ Weltkunstschau sagt

Von Bernd Berke

Damit das mal klar ist: Wir alle haben von Kunst keine Ahnung. Nicht nur interessierte Laien, sondern auch das werte Fachpublikum will documenta-Chef Roger M. Buergel (44) mit dessen ästhetischer Ignoranz konfrontieren. Auch sich selbst nimmt der Mann nicht aus. Kurz vor der Eröffnungs-Pressekonferenz, so bekannte er gestern, habe er sich noch einmal ganz ernsthaft gefragt: „Was mache ich hier eigentlich?“

Tja, was? Wie alle seine Vorläufer, so möchte auch Buergel die Weltkunstschau gleichsam neu definieren, als wären wir noch einmal in Gründerzeiten. Alles auf Null! Auf fast sämtliche Stars des Kunstmarktes (rare Ausnahme: Gerhard Richter) hat er verzichtet. Hintergedanke: Große Namen sind Schall und Rauch, sie würden nur vom Wesentlichen ablenken.

Und das heißt für diesen Ausstellungsmacher: Ungeahnte Beziehungen stiften zwischen den verschiedensten Kunstformen, auf dass uns das eine oder andere Licht aufgehe – nicht zuletzt mit politischen Folgen im Sinne einer grundsätzlichen Neubewertung. Die rund 480 Werke, denen somit einige Erwartung aufgehalst wird,  sollen nicht vereinzelt für sich stehen, sondern ihre Wirkungen im Auge des Betrachters vermengen, ja potenzieren.

Künstler, die dem Betrieb den Rücken gekehrt haben

Vorab garniert hat Buergel sein bewusst unscharf gehaltenes Konzept mit wolkigen Begriffen wie „Migration der Formen“ oder „das bloße Leben“. Arg verkürzt gesagt: Hier geht’s um formale Verwandtschaften quer über Kontinente und Epochen hinweg, dort ums völlig ungeschützte, ausgelieferte Dasein in Zeiten der Globalisierung.

In derlei weitherziger Auslegung lässt sich so manche Kunstrichtung unterbringen, gern auch im Rückgriff auf die Tradition – beispielsweise ein persisches Miniaturbild aus dem 14 Jahrhundert, das wiederum mit chinesischen Überlieferungen spielt. Auffällig: Etliche Arbeiten stammen aus den rebellischen 1960er Jahren, bevorzugt von Künstlern, die irgendwann dem Betrieb den Rücken gekehrt haben, um vorwiegend politisch zu arbeiten. Da hört man ‚was trapsen.

Doch vorsichtshalber hat Buergel schon mal ein weiteres Lernziel formuliert: Falls sie nicht aus noch ein wissen, sollen die Besucher eben „das Unentscheidbare aushalten“. Wird gemacht. Aber mal ehrlich: Bildende Kunst hat man in Worten ohnehin noch nie vollends ausschöpfen können. Sonst wäre das ganze Bildermachen ja witzlos.

Die Gefährtin ist als Kuratorin mit dabei

Erstmals wird eine documenta von einem Paar geleitet. Buergel hat seine Lebensgefährtin Ruth Noack als Kuratorin mit an Bord geholt. Sie beide haben erzählt, dass sie sich bei der Vorbereitung gelegentlich heftig gestritten haben. Doch es überwiegen wahrscheinlich die wohltätigen Synergie-Effekte.

Buergel trat gestern übrigens im orangefarbenen Langärmel-Shirt vor die kulturelle Weltpresse, fast hätte man’s für die Farbe eines Sekten-Gurus halten können. Tatsächlich haben Beobachter in der Szene schon vielfach „Pfingststimmung“ ausmachen wollen, sprich: Von dieser documenta erhoffen sich angeblich viele eine Art Erleuchtung.

Ai Wei Wei holt 1001 Chinesen

Noch jede documenta hatte ihre spektakulären „Hauptbilder“. Das Spektrum reicht von Christos“ aufgeblasener „Riesenwurst“ bis zu Jonathan Borofskys himmelstürmendem Mann, von Joseph Beuys` „ 7000 Eichen“ bis zu Walter de Marias in die Tiefe gebohrtem „Erdkilometer“. Was wird es diesmal sein? Vielleicht Peter Friedls ausgestopfte Giraffe (in einem palästinensischen Zoo bei Gefechten verendet). Vielleicht auch die in ästhetischer Absicht gepflanzten Mohn- und Reisfelder. Mit dem roten Mohn hapert’s jedoch noch.

Als Favorit darf jedoch der Chinese Ai Wei Wei gelten, der 1001 Landsleute nach Kassel holt. Bisher ist nur eine kleine Vorhut eingetroffen, Ende Juni kommen die Massen. Sie alle sollen sich in der Stadt umtun und das ihnen so fremde deutsche Leben und Treiben beobachten. Klingt doch spannend.

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HINTERGRUND

Alle fünf Jahre wieder

  • Die Kasseler documenta gilt weltweit als größte und wichtigste Überblicks-Ausstellung zur aktuellen Gegenwartskunst. Seit 1972 kehrt sie im Fünfjahres-Turnus wieder.
  • Die erste documenta gab es 1955. Gründungsdirektor war Arnold Bode, der die Schau 1964 erneut verantwortete. Diesmal heißt der Leiter Roger M. Buergel (Bild).
  • Weitere Leiter mit jeweils ganz eigenen Vorstellungen: Werner Haftmann (1959), ein 24-köpfiger „Kunstrat“ (1968), Harald Szeemann (1972), Manfred Schneckenburger (1977 und 1987), Rudi Fuchs (1982), Jan Hoet (1992), Catherine David (1997) und Okwui Enwezor (2002).
  • Die documenta XII ist ab Samstag, 16. Juni, bis zum 23. September geöffnet, täglich von 10 bis 20 Uhr.
  • Zentrale Ausstellungsorte: Fridericianum, documenta-Halle, Pavillon in der Karlsaue, Neue Galerie.
  • Tageskarte 18 Euro, zwei Tage 27 Euro, Dauerkarte 90 Euro, Schulklasse 6 Euro pro Kopf. Besucherservice / Führungen: Hotline o1805 / 11 56 11.

Fotostrecke: Mehr Bilder von der documenta auf der WR-Homepage




Ganz leise am Mythos vorbei – zweiteilige Kasseler Erinnerungs-Schau „50 Jahre documenta“

Von Bernd Berke

Kassel. Seit 1955 blüht in Kassel die Kunst. Buchstäblich. Denn die allererste „documenta“, die Arnold Bode damals aus der Taufe hob, war ein Anhängsel der Bundesgartenschau. Ein halbes Jahrhundert ist diese folgenreiche Premiere nun her. Da gilt es, der wechselvollen Historie zu gedenken. Aber wie soll man die bislang elf Ausgaben der Weltkunstschau übergreifend darstellen?

Es ist wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Jede documenta war ja – schon einzeln für sich betrachtet – ein immenses, widersprüchliches, schier uferloses Ereignis. Über 2000 (!) Künstler waren auf mindestens einer documenta vertreten.

Der in Bochum geborene Kurator Michael Glasmeier, eigens von einer Findungskommission bestellt, hat denn auch für die Schau „5O Jahre documenta“ erst gar nicht den Versuch einer Gesamt-Perspektive unternommen, sondern ist seinen Vorlieben gefolgt – mit rund 200 Arbeiten von 80 Künstlern. Logisch, dass Glasmeier nicht die spektakulären Aktionen der documenta-Geschichte wiederholen kann – von Walter de Marias Kasseler Tiefbohrung („Vertikaler Erdkilometer“) bis zu Christos aufblasbarer „Riesenwurst“. Doch der Kurator lässt gar zu viel Bescheidenheit walten, er nähert sich allzu sehr von den Rändern her und beschreitet dabei fast nur Nebenwege.

Das Ruhige und Unscheinbare

In ziemlich willkürlicher Zeit- und Stil-Mischung finden sich nun Kunstwerke, die einst auf irgend einer documenta zu sehen waren, im Fridericianum wieder. Da steht etwa eine Skulptur von Wilhelm Lehmbruck (documenta 1955) nah bei einer Videoarbeit von Bruce Nauman (documenta 1977). Die Werke bleiben einander häufig so fremd. Und vom (durch die Jahrzehnte gewachsenen) Mythos der documenta spüret man kaum einen Hauch.

Gewiss: Wahre „Ikonen“ sind heute schwer zu beschaffen, doch dieser Kurator sucht ohnehin allenthalben das Ruhige, Unscheinbare, eher unterschwellig Wirksame. Selbst Joseph Beuys und Claes Oldenburg wirken hier wie schüchterne Leisetreter.

»Diskrete Energien“ hat Glasmeier seine Auswahl genannt. Tatsächlich summiert sie sich zum eher stillen Gedenken. Sympathisch, dass da einer dem lauten Betrieb abgeneigt ist. Doch es fehlt eben die spezifische Aura. Eine vergleichbare Ausstellung hätte sich wohl auch andernorts ohne jeden documenta-Bezug bewerkstelligen lassen. Die historische Kärrner-Arbeit hat Glasmeier dem documenta-Archiv überlassen, das eine zweite Schau beisteuert: In elf Kojen geht man auf Zeitreise durch die documenta-Phasen.

Vom Geist der Zeit und des Ortes

Bemerkenswert, dass Fotos, Filme und Broschüren aus all jenen Jahren den jeweiligen Zeitgeist im Nachhinein bündiger fassen, als selbst prägnante Kunstwerke dies könnten. Hier geht es nicht so sehr um bestimmte Künstler, sondern um Leitideen, Geist und Design der Gesamtschauen, die von Kuratoren wie etwa Harald Szeemann, Jan Hoet oder Manfred Schneckenburger sehr verschieden geprägt wurden. In den Blick rücken das Atmosphärische, der Geist des Ortes, Skandale und Proteste, Mythen- und Legendenbildung, ja letztlich sogar zeittypische Kleidung und Haartrachten der Besucher. Ach, wie die Jahre vergehen!

„50 Jahre documenta“. Kassel, Fridericianum. Bis 20. November. Di-So 11-18, Mi/Fr 11-20 Uhr. Eintritt 8 Euro. Zweibändiger Katalog 38 Euro. www.fridericianum-kassel.de

 




Zehn Städte wollen ins große Finale – Vorentscheid um die Europäische Kulturhauptstadt

Von Bernd Berke

Die Spannung wächst: Welche zwei bis vier Bewerber um die Europäische Kulturhauptstadt 2010 wird die Jury ins Finale lassen? Seit gestern tagt die Kultusministerkonferenz in Berlin, hier soll heute das Votum verkündet werden. Die WR hat nachgeschaut, wie die zehn Kandidaten ihre Vorzüge im Internet darstellen. Verschiedene Gewichtungen fallen auf.

Fast alle Kommunen führen nicht nur ihre kulturellen Schätze, sondern auch ihr wissenschaftliches oder wirtschaftliches Potenzial ins Feld. Sie hegen vielfach die Hoffnung auf Geldsegen und neue Arbeitsplätze, falls sie das Rennen gewinnen. Zuerst aber muss investiert werden. Wir bleiben neutral und gehen streng alphabetisch vor:

Braunschweig bezieht bewusst die Region mit ein, darunter Wolfsburg mit dem Kunstmuseum und VW als Sponsor. Die Stadt rühmt sich ihrer Baudenkmäler, will zudem ihr (1960 abgerissenes) Residenzschloss neu errichten. Die Kunstakademie, das Festival „Theaterformen“ und Forschungsstätten gelten als Pluspunkte.

Bremen kann gewachsene Kultureinrichtungen vorweisen. Man empfiehlt sich außerdem mit dem bereits errungenen Titel „Stadt der Wissenschaft“, nennt Rathaus und Roland als Weltkulturerbe und plant eine weitläufige „Neuerfindung der Stadt“, sozusagen im kulturell geleiteten Laborversuch.

Historisches Erbe ist nicht alles

Essen hat im Gegensatz zu vielen Mitbewerbern keine historische Silhouette. Es ist folgerichtig, dass man sagt: Wir haben unsere Kultur nicht geerbt, sondern sie uns erarbeitet. Aalto-Oper, Philharmonie, Folkwang-Museum und Zeche Zollverein sind Flaggschiffe, Industriekultur und Einbeziehung der Migranten setzen spezielle Akzente. Die anderen Revierstädte (Ausnahme Bochum) gehen den Weg offenbar noch nicht so recht mit. Das mag sich ändern, falls Essen in die Endrunde kommt.

Görlitz ist mit 60 000 Einwohncni die kleinste Bewerberstadt, preist sich aber selbstbewusst als schönste Gemeinde Deutschlands an. Schwerpunkt ist der Brückenschlag in die polnische Nachbarkommune Zgorzelec. Dies soll der EU in Brüssel, wo 2006 die endgültige Entscheidung fallen wird, als „europäische Vision“ einleuchten.

Halle will die Neugestaltung einer Stadt, die sich in einem Schrumpfungsprozess befindet, beispielhaft vorführen. Garten-Landschaften sollen wachsen, Plattenbauten menschenwürdig umgebaut werden. Kunst soll vor allem den Flusslauf der Saale zieren.

Karlsruhe wirbt für sich als Standort der Medienkunst, vor allem aber als Sitz desBundesverfassungsgerichts und somit Stadt des Rechts. Ob diese Setzung eine kulturell orientierte Jury überzeugt, wird sich zeigen.

Kassel stellt die alle fünf Jahre hier zelebrierte Weltkunstschau documenta insZentrum (deren Konzept man „weiterdenken“ will) und möchte Dialoge der Religionen stiften. Von Migrations-Themen bis zu den Gebrüdern Grimm reicht das durchdachte Spektrum der Projekte.

Lübeck beruft sich aufs schmucke Stadtbild sowie auf „seine“ Nobelpreisträger Thomas Mann, Willy Brandt und Günter Grass. Zudem will man den Ostseeraum bis zum Baltikum ins Bewusstsein riicken. Auch hier eine weite (ost)europäische Perspektive.

Potsdam kommt gar nicht umhin, mit Schloss und Parkanlagen zu prunken. Auch die Nähe Berlins wird in die Waagschale gelegt.

Regensburg, das Spott mit Christoph Schlingensiefs Anti-Werbung und einer Brezel-Abwurfakttion auf sich zog, wirbt liebenswert bescheiden, u. d. mit Studententheater und Altstadt-Szene.

 

 

Keine leichte Aufgabe für die Jury! Bleibt zu hoffen, dass auch die ausgeschiedenen Städte ihre einmal gefassten Ideen vorantreiben werden.




Als Rembrandt aufblühte – Kasseler Ausstellung zum Frühwerk behandelt auch die leidige Echtheits-Frage

Von Bernd Berke

Kassel. Schönheit steigert Schönheit: Im herrlichen Ambiente von Schloss Wilhelmshöhe genießt man jetzt nicht nur den Blick über Stadt und Land, sondern drinnen zu allem Überfluss eine ebenso opulente wie detailfreudige Schau zum Frühwerk von Rembrandt (1606-1669).

Erstmals wird dieser Schaffensphase, als Rembrandt in seinen frühen 20ern lebte und als Genius gerade erst aufblühte, eine solch spezielle Schau zuteil. Zentral bleibt die Echtheitsfrage, es ist seit den Forschungen des Amsterdamer „Rembrandt Research Project“ ohnehin das Kardinalproblem. Da gab es manche „Abschreibung“ („Dies Bild stammt nicht von seiner eigenen Hand, sondern aus einer Werkstatt“), doch auch vorsichtige Wieder-Zuschreibungen. Ein Spannungsfeld.

87 Werke von Leihgebern is aller Welt, aber auch aus beneidenswertem Kasseler Eigenbesitz sind zu sehen. Damit keine unnötigen Zweifel aufkommen, werden Rembrandts gesicherte Schöpfungen vor blauem Grund, alle anderen auf braun getönten Wänden präsentiert. Für ein paar Werke müsste es allerdings bräunlich-blau sein…

Hinein ins volle Bilderleben: Im direkten Vergleich sieht man, wie sein Lehrmeister Pieter Lastman und Rembrandt selbst dasselbe Thema aufgefasst haben: „Die Taufe des Kämmerers“ (um 1612 Lastman, 1626 Rembrandt). Lastman war kein Stümper, er hat Rembrandt erste Wege gewiesen, doch der höchstbegabte Kraftkerl mochte wenig Rat annehmen.

Tatsächlich zeigt sich schon hier, wie er den Lehrer an Originalität übertrumpft. Schon jetzt vermag Rembrandt etwa textile Stoffe überaus delikat wiederzugeben. Zudem fällt sein Blick für handelnde Charaktere auf, der untrügliche Sinn für den wahren Moment. Und Rembrandt baut das Motiv in einer für ihn typischen Vertikal-Konstruktion auf.

Vergleich mit dem Rivalen

Lehrreich sodann die Gegenüberstellung mit dem Rivalen Jan Lievens, der gleichfalls bei Lastman gelernt hatte und zeitweise mit Rembrandt eine Ateliergemeinschaft betrieb. Rembrandt bevorzugt deutlich kleinere Formate als der Kompagnon. Doch in diesem eng begrenzten Bildraum steigert er (z. B. mit „Die drei Sänger“, um 1625) den Ausdruck ins Phänomenale, während Lievens bei aller formalen Könnerschaft letztlich dem Genrebild verhaftet bleibt. Rembrandts Gemälde aber haben eine „Seele“. Sie folgen einer Dramaturgie, die sich in Bildern wie „Christus vertreibt die Geldwechsler aus dem Tempel“ (1626) zur Dramatik steigert.

Auch ein Rembrandt ist nicht vom Himmel gefallen. Technische Fehler schlichen sich zumal in seine ersten Radierungen ein, hier war ihm Lievens anfangs voraus.

Rembrandt hat übrigens nicht in einem Zuge durchgemalt, sondern die Palette immer wieder neu aufbereitet und ein Bild aus lauter „Inseln“ gefügt. Und er hat (was Röntgenaufnahmen beweisen) nachgebessert, so auch bei „Judas bringt die 30 Silberlinge zurück“ „(1629). Atemberaubend nun die subtilen Lichtreflexe. Mit „Der Apostel Paulus am Schreibtisch“ (1629/30) haben wir jenen Meister, den die Kunstgeschichten preisen.

Nicht allen Epochen hat sein Malstil zugesagt. Früher fanden viele feinmalerisch orientierte Zunftgenossen den Pinselstrich zu „grob“. Tatsächlich erscheinen manche Partien bei nahem Hinsehen fast schon impressionistisch getuscht und „verhuscht“, doch gerade diese Kunst der Andeutung öffnet weite Phantasie-Räume.

Rembrandt hat immer wieder mit beiden Malweisen experimentiert – mal fein, mal rau. Es gab (so die Kern-These der Ausstellung) keine lineare Entwicklung. Mithin dürften einige Werke nun doch als eigenhändig, die aufgrund irriger Stil-Theorien bezweifelt worden seien, etwa das in Kasseler Besitz befindliche Bildnis „Büste eines Greises mit goldener Kette“ (1632). Wer will da wetten?

Satte Schlussakkorde setzen Vergleiche zwischen Rembrandt und dessen Schüler Gérard Dou sowie anderen Künstlern aus dem Umkreis. Ein Bild („Prinz Rupert…“, um 1631) haben Rembrandt und Dou wohl gar gemeinsam geschaffen. Auch saßen dieselben Modelle verschiedenen Malern, was die Zuordnung weiter erschwert. Eine Wissenschaft für sich. Aber bestimmt keine trockene.

Der junge Rembrandt – Rätsel um seine Anfänge. Schloss Wilhelmshöhe, Kassel. Bis 27. Jan. 2002. Tägl. außer Mo 10-17, Do 10-18 Uhr. Eintritt 12 DM. Katalog 58 DM.




Der Touristen-Schock als farbliche Erregung – Schloss Cappenberg: Mehmet Güler malt Bilder zur Begegnung der Kulturen

Von Bernd Berke

Selm-Cappenberg. Seit Mitte der 70er Jahre wohnt der Künstler Mehmet Güler (55) in Deutschland, doch das hiesige Leben hat in seinen Bildern keine Spuren hinterlassen. Statt dessen richtet er den Blick immer wieder in seine türkische Heimat. Dort vollzieht sich, was Güler zutiefst beschäftigt: der kulturelle Wandel, den Touristen aus Mittel- und Westeuropa herbeiführen.

Entscheidender Moment des Schocks in der umfassenden Güler-Retrospektive auf Schloss Cappenberg: Wie zu Salzsäulen erstarrt, stehen links die dunkel verhüllten Silhouetten einiger anatolischer Frauen. Durch die Bildmitte verläuft eine zittrig-erregte Trennlinie in Grün, der Symbolfarbe des Islam. Rechts räkeln sich, freizügig und nackt, Touristinnen am sonnenhellen Strand. Welch ein heftiger Kontrast beim Aufeinanderprallen der Lebensformen.

„Patent“ auf ein besonders flutendes Blau

Bezeichnend die häufig wiederkehrenden Bildtitel: „Umzingelt“ fühlen sich die Einheimischen auf etlichen Bildern, und es herrscht vielfach „Aufregung“. Doch ebenso oft erscheint die Reibung der Kulturen in milderem Licht. Dann lauten die Titel beispielsweise „Erste Begegnung“, „Beobachtung“, „Gespräch“, „Dialog“ oder – ganz gelassen – „Mit der Zeit“. Zweischneidig auch der Titel der gesamten Schau mit Bildern seit 1969: Demnach ist die Touristenschwemme eine „Friedliche Besetzung“, aus der Versöhnliches oder Produktives entspringen mag.

Mehmet Güler ist freilich weit davon entfernt, derlei Befunde platt realistisch abzubilden. Die Ereignisse bleiben bloßer Anstoß zur künstlerischen ‚I’at. Es geht um die widerstreitenden Gefühle zwischen ängstlicher Abwehr und Verheißung ungeahnter Freiheiten, die vom Kulturschock ausgelöst werden. In Gülers Bildern gerinnen diese Emotionen zu schieren Farb-Ereignissen. Figuren sind nur noch schemenhaft zu erkennen.

Dominieren im früheren Werk noch die erdigen Nuancen, so wogen später zunehmend starke Töne mit- und gegeneinander. Sie lassen auch etwas vom buchstäblich „Bewegenden“ jeder menschlichen Begegnung ahnen.

Der Maler hat seine Palette so verfeinert, dass manche gar vom speziellen „Güler-BIau“ sprechen. Wie er diese flutende Farbe herstellt, in der die Augen geradezu baden können, bleibt aber sein „Betriebsgeheimnis“. Jedenfalls sieht man im Cappenberger Schloss reihenweise Kostproben in allen nur erdenklichen Schattierungen. „Freude am Blau“ heißen diese Arbeiten zumeist. Auch hier ist die touristische Situation nur Ausgangspunkt des bildnerischen Vorgangs: All das Blau des Himmels und des Meeres leuchtet gleichsam aus sehnsuchtsvoller Ferne mit hinein in diese traumnahe Welt der Kunst.

Schloss Cappenberg, bis 13. Februar 2000. Eintritt frei, Katalog 45 DM.




Documenta-Splitter: Große Schau mit ein paar Macken

Von Bernd Berke

  • Kassel. Der Andrang zur documenta in Kassel ist riesengroß. Bereits am letzten Wochenende, als die Weltkunstschau gerade erst eröffnet war, strömten 18.000 Leute auf das Ausstellungsgelände, bis gestern waren über 40.000 da. Zeitweise mußten einzelne Gebäude geschlossen werden, sonst hätte man nur noch Besucher und keine Kunst mehr gesehen. Bis zum Schlußtag (20. September) dürfte man also den 1987 aufgestellten Rekord von 480.000 erreichen.
  • Auf der großen Wiese vor dem Fridericianum herrscht an sonnigen Tagen echte Volksfest-Atmosphäre. Das liegt nicht nur an den zahlreichen Imbiß- und Getränkeständen (einigermaßen zivile Preise), sondern vor allem daran, daß hier auch ein Forum für allerlei Weltverbesserer und Sonderlinge entstanden ist. In diese quirlig-bunte Szene mischt sich dann und wann auch eine Gruppe namens „DuKunst“ (Köln/Iserlohn), verpaßt Besuchern Goldstempel auf die Hand, verschenkt Reiskörner, erklärt documenta-Chef Jan Hoet für abgesetzt und läßt wissen, ein gewisser „Chez“ halte sich als Ersatz bereit. Auffallen ist alles.
  • Auf dem gleichen Platz ist meist auch der wohl gesprächsfreudigste aller documenta-Künstler zu finden: Mo Edoga, in Mannheim lebender Afrikaner, der dort aus Holzabfällen eine unübersehbar große Skulptur gebaut hat und Passanten sein Opus gern und genau erklärt. Unterdessen kam auch schon die Polizei zum (etwas ernsteren) Plausch vorbei, weil in dem Kunstwerk angeblich Teile öffentlicher Straßensperren „verbaut“ worden sind.
  • Weiterer Zwischenfall: Der Stand einer Gruppe namens „Atlantis“, die am Rande der documenta zu ökologisch gefärbten Kunstdiskussionen anregen wollte, ging in Flammen auf — Brandstiftung.
  • Für noch weit größeres Aufsehen könnte der Österreicher Wolfgang Platz sorgen, angeblich der einzige Künstler, der nach Eigenbewerbung bei Jan Hoet Gnade fand. Im September will Platz in Kassel eine seiner berüchtigten Performances (Zwischending von Körper-Kunst und Theateraufführung) zeigen. Man munkelt schon, Kassel werde noch lange davon sprechen – und daß es Platz‘ letzte Performance sein wird. Wer weiß, daß Platz bereits bei anderen Anlässen seine Unversehrtheit und sogar sein Leben „für die Kunst“‚ riskiert hat, fürchtet das Schlimmste.
  • Nichtraucher und Kultur-Puristen sind erbost: Als einer der Hauptsponsoren der documenta verdingt sich eine Zigarettenfirma, die ihre Markenpackung als „Sonderedition“ mit einem aufgedruckten Sinnspruch von Jan Hoet („Kunst bietet keine klaren Antworten. Nur Fragen.“) auf der Ausstellung anpreist.
  • Wem ein normaler documenta-Besuch zu schnöde ist und wer über entsprechendes Kleingeld verfügt, kann den sogenannten „documenta-V.I.P.-Service“ in Anspruch nehmen. Für 890 DM pro Nase wird man dann rundum betreut und braucht sich um Kleinigkeiten wie Eintrittskarten oder Hotel nicht mehr zu kümmern. Auch die Erfüllung „individueller Wünsche“ sei möglich, heißt es. Je nachdem, dürfte es dann noch etwas teurer werden.
  • Regionalpatrioten werden von der documenta enttäuscht sein. Kein im Ruhrgebiet oder Südwestfalen lebender Künstler gehört zu den rund 190 Auserwählten. Gerade mal einer ist in Dortmund geboren: Martin Kippenberger, der aber schon lange in Köln lebt. Damit könnte man sich denn auch trösten. Das Gros der deutschen Künstler wohnt immerhin in NRW, sprich Köln oder Düsseldorf. Na, bitte!

 




Visionen für die „documenta“ – Jan Hoet präsentierte in Kassel 186 Namen und ein vages Konzept

Von Bernd Berke

Kassel. „documenta“-Macher Jan Hoet ist schon ein seltener Mensch. Kaum einer vermag sich und andere so für das Abenteuer Kunst zu begeistern wie er, doch auch kaum einer redet sich dabei dermaßen ins Ungefähre und Vage hinein.

Der Belgier hat beinahe Qualitäten eines Erweckungs-Predigers: Mag man auch manchen Satz für abwegig halten, so fühlt man sich doch mitgerissen. Man weiß nur nicht so recht, wohin. Jan Hoet hätte denn auch gestern – statt seiner Visionen für die Weltkunstschau – ebensogut die „Merseburger Zaubersprüche“ vortragen können. Nicht nur die in großen Mengen nach Kassel geströmten Journalisten dürfen immer noch rätseln, wie „es“ denn in den 150 Tagen bis zur Eröffnung gedeihen wird.

Und das ist auch gut so, denn das wirkliche Ereignis ist ja die Begegnung mit der Kunst, nicht das vorschnelle Gerede darüber. Hoet verriet, daß jedem documenta-Gebäude eigenes Recht widerfahren solle. So werde etwa das altehrwürdige Fridericianum, das die „Potenz der Vergangenheit“ verkörpere und „männliche“ wie „weibliche“ Bauteile in sich vereinige, mit entsprechender Kunst bestückt. Bruce Nauman zum Beispiel werde dort für das „maskuline Element“ der Kunst einstehen, während Marisa Merz und Louise Bourgeois für „femininen“ Kontrast sorgen. Die neue documenta-Halle (Ersatz für die Orangerie) gleiche hingegen einer Kirche. Die Halle, die am 28. Februar endgültig eingeweiht wird (ein religiöser Begriff, der hier trifft), soll also offenbar ein geheiligter Kunst-Ort sein.

Am liebsten schwärmt Jan Hoet: von der neuen „Akropolis“ (sprich: documenta-Halle) oder auch vom Kasseler Königsplatz, der nunmehr herrlich rund in der Mitte des vereinten Deutschland liege. Es blieb anderen vorbehalten, auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen. So machte Kassels Oberbürgermeister Wolfram Bremeier einen (so wörtlich) „wahlkampfergebnis-gefährdenden“ Gestaltungsstreit um eben jenen Königsplatz aus. Er ließ auch durchblicken, daß die Spendierwilligkeit der Politik schon auf die Probe gestellt worden sei. Immerhin beträgt der Etat der 9. documenta 15,6 Mio. DM (davon 6,6 Mio. DM Zuschüsse), die documenta-Halle hat rund 23 Mio. DM gekostet. Vor fünf Jahren reichten noch 10,2 Millionen DM. Einen Teil der Kosten will man vom 13. Juni bis 20. September durch verdoppelte Tages-Eintrittspreise (20 statt 10 DM) wieder „einspielen“.

Jan Hoet legte immerhin die komplette Liste der 186 documenta-Künstler vor. Man wird zwar nicht Namen, sondern Werke beurteilen müssen, doch ein paar Dinge fallen auf: viele weniger bekannte Namen, was die Sache spannend macht; mit den ehemals „Wilden“ hat Hoet überhaupt nichts im Sinn, zudem sind recht wenige Osteuropäer vertreten. Außerdem: Da Größen wie Ulrich Rückriem, Sigmar Polke, A. R. Penck und Gerhard Richter dabei sind. fällt das Fehlen zweier deutscher Namen um so mehr auf: Georg Baselitz und Anselm Kiefer. Befragt, welchen Grund es für Kiefers Nichtteilnahme gebe, beschied Hoet lakonisch: „Meinen Grund!“

Es wird die erste documenta „nach Beuys“ sein. Hoet dazu: „Ich habe keinen neuen Beuys gesucht. Aber fast alle beteiligten Künstler sind durch Beuys‘ Gedanken hindurchgegangen“. Insofern sei der Verstorbene doch höchst präsent. Im Verlauf der Pressekonferenz kam es zu zwei kleinen Zwischenfällen: Ein Hamburger Künstlerduo knallte im Namen einer „neuen Freiheit“ mit Schreckschußpistolen in die Luft, ein weiterer Hanseat legte Hoet einen hochhackigen Schuh hin und orakelte: „Hätte van Gogh Damenschuhe gemalt, wäre er nicht verrückt geworden.“ Wann hat man schon einmal so ein großes Presseforum…

Zum guten Schluß gab Jan Hoet der deutschen Kunstkritik noch einen Denkzettel mit: Hierzulande fahre man auf den vielen Autobahnen meist geradeaus. Ähnlich stehe es mit der Beurteilung von Kunst. Auch da wolle man immer gleich zum Ziel.




documenta 8: Zitate haben Konjunktur

Von Bernd Berke

Vom „Zeitgeist“ über die „Westkunst“ bis „von hier aus“ – an großen Überblicken zu neuesten Kunst-Stimmungen war in den letzten Jahren kein Mangel. Kassels „documenta“, mythenumwobenes Resümee im Fünfjahresabstand, gerät durch solche Trendschauen ins Gedränge. Die „documenta“ hat’s schwer, ihren Platz zwischen Museum und Kunstmarkt zu behaupten oder gar wegweisende Trendmarkierungen zu setzen.

Vollends zur Zwickmühle gerät die Situation, weil die documenta für das abgelegene Kassel ein enormer Wirtschaftsfaktor ist. Dem Ausstellungsetat von rund 7,7 Mio. DM stehen erhoffte Mehreinnahmen von rund 20 Mio. DM in Hotel- und Gaststättengewerbe gegenüber.

Der Erfolgszwang kann auch den künstlerischen Leiter der documenta nicht unberührt lassen. So mußten Manfred Schneckenburger und sein Team eine publikumswirksame Leitlinie finden: Die Rückkehr der Kunst zu gesellschaftlichen und geschichtlichen Bezügen, der Aufbruch in Richtung Öffentlichkeit und Nützlichkeit – unter solchen Markenzeichen soll das Spektakel bis zum 20. Septembe 400 000 Schaulustige aus aller Welt anlocken.

Das süffige Konzept verliert sich jedoch in einer beispiellosen Vielfalt von künstlerischen Stilformen und Qualitäten, einer „neuen Unübersichtlichkeit“ fürwahr. Alles scheint moglich, viele Künstler bedienen sich im angehäuften Repertoire der Kunstgeschichte nach Belieben, theatralisch-plakativ aufbereitete Zitate haben Konjunktur. Politisch interpretierbare Kunst bildet nur einen Strang.

Die „Wilden“ fehlen – kein Lüpertz, kein Penck, kein Immendorff. Rigoros ist dieser Bruch mit der documenta 7 (1982), deren Auswahl einem beherzt-einseitigen Bekenntnis zur neoexpressiven Heftigkeit und zur auratischen Würde der Kunst gleichkam. Statt dessen geht man jetzt – besonders in der „Orangerie“ – sehr forsch aufs Publikum zu. Das dort ausgebreitete Design sowie die Architektur-Modelle sind in der Mehrzahl gefällig-unverbindliche Spielereien, die – zieht man zum Vergleich die apokalyptischen Visionen (Beuys, Robert Morris, Helmut Schober u. a.) im „Fridericianum“ heran – schon zynisch wirken: Spielen bis zur Katastrophe?

Mehr noch: Manche Künstler lassen sich anstecken. Design und freie Kunst entwickeln sich aufeinander zu; Designer streben nach Ausdruck jenseits der Funktion, einige Künstler hingegen nach Nutzanwendung. Nicht jeder entgeht dabei der Gefahr einer Auslieferung ans flott (über)inszenierte Schmankerl.

Die Installationen in Auepark und City sollen sich gegen die verbaute Stadt behaupten. Das gelingt ausgerechnet jenen Künstlern am besten, die die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens einbeziehen: Ulrich Rückriem, der sich mit einem Haus für seinen Stein dem Platz verweigert und Norbert Radermacher, der ironisch zwei kleine Vasen auf die monströsen Pfeiler eines Parkhauses postiert.

Zumindest als Idee großartig ist eine vieldiskutierte Arbeit dieser documenta 8: lan Hamilton Finlays vier Guillotinen sollen die Achse zwischen einem Barock- und einem Klassizistik-Bau als historischen Ort erfahrbar machen.

Derlei sinnfällige Einlassung auf Geschichtlichkeit kann nicht durchweg bescheinigt werden. Eher täppisch etwa scheinen mir Arheiten z.B. von Ugo Dossi, der mit Elektro-Tricks einen schalen Mythenzauber („Brennender Dornbusch“) entfacht, oder vom Giuseppe Penone, der in überdimensionale Blumentöpfe Gewächse plaziert – eine nette Saaldekoration für den nächsten Parteitag der „Grünen“.

Natürlich gibt es – Manfred Schneckenburger zum Trotz – auch auf dieser documenta 8 wieder „Kunst über Kunst“. Ein schlagendes Beispiel liefern die Exilrussen Komar/Melamid, die mit ihrem frechen Mammut-Puzzle „Yalta“ die ganze Kunstgeschichte aufrollen. Auch Nam June Paiks Video-Beitrag über Joseph Beuys oder Mark Tanseys akademisch anmutende Malerei gehören hierher. Andere Künstler vergewissern sich überlieferter Mittel, so etwa der Israeli Zvi Goldstein, der Formen des russischen Konstruktivismus aufgreift oder Siah Armajani, der das herkömmliehe Vokabular der Architektur neu buchstabiert.

Zwiespältig jene Arbeiten im Zeichen der Nützlichkeit: Thomas Schüttes „Eis-Tempel“, Reminiszenz an französische Revolutionsarchitektur im Dienste des Eisverkaufs, besticht noch durch ironische Brechung. Scott Bartons Freiluft-„Ottomane“ hingegen ist schlichteste Minimalkunst.

Im Dickicht der Vielfalt kann man sich aber doch immer wieder in Kunst-Abenteuer verstricken, die man in solcher Fülle letztlich nirgendwo sonst findet und die die Fahrt nach Kassel lohnen. Nur zwei Beispiele: Marie-Jo Lafontaines faszinierende Videowand ..Stählerne Tränen“, die die Rhythmen von Körperstählung und Gewalt in erhellende Beziehung setzt, und Richard Baquiés „Amore mio“, ein Straßenkreuzer als sezierte Wunschmaschine.

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Erschienen in der WR-Wochenendbeilage




documenta 8: Der Hunger nach Bildern scheint vorerst gestillt

Von Bernd Berke

Kassel. Das weltweit diskutierte „Museum der 100 Tage“, die 8. Kasseler documenta, öffnet heute die Pforten. Während die documenta 1977 vornehmlich der Selbstreflexion gewidmet gewesen war und „Kunst über Kunst“ in den Vordergrund gestellt hatte, legte die Weltkunstschau 1982 den Akzent auf expressive Stile (Stichwort „Neue Wilde“) und folgte einem Konzept der „Kunst über Künstler“.

So sieht es jedenfalls der künstlerische Leiter der neuen documenta, Manfred Schneckenburger (48). Mit dem von ihm verantworteten Fünfjahres-Resümee, so Schneckenburger, melden sich die Künstler in der Wirklichkeit zurück. Kein neuer Stil habe sich als Schwerpunkt aufgedrängt, sondern eine neue Haltung: Die Kunst beziehe sich wieder verstärkt auf die „historische und soziale Dimension“. Statt der Nabelschau auf Formstrukturen zu frönen, wage man wieder öfter Metaphern und Bilder, die auf unsere Wirklichkeit verweisen.

Schon ein erster Rundgang zeigt, daß mit derlei Schlagworten nicht die Rückkehr zur Politkunst oder zu simplen Vermittlungsformen gemeint sein kann. Das gesellschaftliche Moment der allermeisten Arbeiten kommt, falls überhaupt, oft erst über vertrackte ästhetische Bezüge oder Denkumwege zum Vorschein. Die .„Brücke zum Publikum“, die man laut Schneckenburger diesmal schlage, erweist sich oft genug als Zickzack-Strecke, manchmal gar als Holzweg.

Die absolute Ausnahme bildet ein Künstler wie Hans Haacke, der im „Fridericianum“ eine Installation errichtet hat, die man zunächst für einen schnöden Reklamepavillon hält, die sich aber sehr schnell als direkte Kritik am Gewinnstreben deutscher Großkonzerne in Südafrika erweist. Relativ problemlos ist der Zugang auch noch zu den Bildern eines Leon Golub, der Gewalt und Unterdrückung ohne Umschweife thematisiert.

Vielfach dominieren negative Utopien

Schwieriger wird es schon bei einigen Hauptwerken dieser documenta. lan Hamilton Finlays vier Guillotinen, die auf einer Blickachse in Richtung eines Schlosses liegen, eine Qualität von Schönheit und Schrecken darstellen und durch Inschriften auf den französischen Revolutionsberserker Robespierre Bezug nehmen, verlangen schon genaueres und längeres Hinsehen, sind interpretationsbedürftig. Ähnliches gilt für die Arbeit des Chilenen Alfred Jaar, der mit „1+1+1″ der Frage nachgeht, wie Kunst die politische Wirklichkeit darstellen, ja überhaupt erst auf die Füße stellen kann. Vielfach dominieren freilich negative Utopien, katastrophische Szenen, die weniger zum Nachdenken denn zum Horror gereichen.

Eins zeigt sich als Tendenz recht deutlich: Der vielbeschworene „Hunger nach Bildem“ ist einstweilen gestillt. Die documenta 8 hat aus der Not eine Tugend gemacht und die Flucht in die dritte Dimension ergriffen: Architektur (Modelle von „idealen Museumsbauten“), Design sowie Skulpturen und Objekte im städtischen Raum spielen eine Rolle wie nie zuvor. Zusammenfassend könnte man sie als selbstbewußte Interventionen der Kunst ins Reich der Wirklichkeit ansehen. Einfacher ausgedrückt: Es geht um Kunst, die sich nützlich machen will und manchmal auch Unterhaltungswerte nicht scheut.

Insgesamt wird man jedoch den Eindruck nicht leicht los, daß dieselben Arbeiten, unter einem anderen Konzept-Blickwinkel als dem Schneckenburgers betrachtet, sich auch ganz anders deuten ließen. Aber auch das gehört ja zum Spannenden an der Kunst, daß sie jeder Interpretation immer um mindestens einen Schritt voraus ist.

Übrigens: Dem verstorbenen Joseph Beuys, ohne den man sich eine documenta noch immer nicht vorstellen kann, ist ein eigener, zentraler Raum im gräßlich restaurierten Fridericianum gewidmet. Erstmals ist dort seine Endzeit-Vision „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“ authentisch zu sehen.

„documenta 8″. Kassel (u. a. Fridericianum, Orangerie, Innenstadt, Auepark, Karlswiese). 12. Juni bis 20. September, täglich 10 bis 20 Uhr, Freitag/Samstag 10 bis 22 Uhr-Tageskarte 10 DM, Dauerkarte 80 DM. Katalog (3 Bände) 90 DM, Kurzführer 12 DM. Führung durch die gesamte Ausstellung 6 DM pro Person. Führungsdienst/Information: Tel. 0561/77 3104




„documenta 8″: Zurück zur historischen Bedeuteung – Konzept für die Weltkunstschau im Sommer ‘87 steht

Von Bernd Berke

Kassel. Grob gesagt: In den 70er Jahren hat die Kunst in theorielastigen „Selbstgesprächen“ ihre eigenen Mittel erwogen, in den frühen 80ern drängte sie mal wieder nach unverfälschtem Ausdruck. Und heute? „Die Kunst gewinnt wieder eine neue historische und soziale Dimension“ – mit dieser griffigen Formel versuchte gestern Manfred Schneckenburger, künstlerischer Leiter der „documenta 8″, sein Konzept für die „d 8″ zu umreißen.

Nicht Wahrnehmung und/oder deren Kritik, sondern Erinnerung stehe auf der Tagesordnung. Die „wilden“ Zeiten, so könnte man folgern, sind also vorbei; gefragt sind wieder Künstler, die sich in irgendeiner Form mit Gesellschaft und Geschichte auseinandersetzen.

Vom 12. Juni bis zum 20.September 1987 soll die Kunstwelt wieder nach Kassel blicken, um womöglich die neuesten Stimmungen im Westen zu orten. Keinen Stil will Schneckenburger auf der „documenta“ in den Vordergrund stellen, denn eine dominierende Richtung sei derzeit gar nicht auszumachen. Auch soll es keine Gliederung nach Themen und Gattungen geben, sondern jedes Werk „soll ein Kraftfeld sein“, die Schau als ganzes ein vielfältiger „Erlebnisraum“ (Schneckenburger). Ansprüche, die derzeit noch im luftleerenRaum stehen und natürlich erst durch die Ausstellung eingelöst werden können.

Fest steht: Es werden weniger Künstler zum Zuge kommen als je zuvor bei einer„documenta“. Schneckenburger nannte gestern die Zahl 120, zu denen noch rund 20 Designer kommen sollen. Dem Design und der Architektur soll diesmal ein besonderes Gewicht zukommen. So werden einige prominente Museums Architekten Gelegenheit erhalten, in „szenischen Inszenierungen“ ihre Vorstellungen vom „idealen Museum“ umzusetzen. Der Museumsbau gilt dabei als die beispielhafte Bauaufgabe der 80er Jahre.

Nachdem die „documenta 7″ in großen Teilen der Parole „Es wird wieder gemalt“ gefolgt war, sollen diesmal auch Skulpturen verstärkt präsent sein. Auf diesem Feld ist u. a. „Kritik an der verbauten Stadt“ angesagt. So soll etwa Richard Serra Kassels fehlende Urbanitat künstlerisch „kommentieren“. Weitere Schwerpunkte: „Performance“ (Grenzgebiet zur darstellenden Kunst) und Videokunst sollen nicht mehr nur Garnierung, sondern „Hauptgerichte“sein.

Gibt es auch keine Aufteilung nach Themen, so ist doch geplant, „schwergewichtige“ von „heiterer und spielerischer“ Kunst abzugrenzen, etwa dem Schema von E- und U-Musik entsprechend. Das weite Spannungsfeld zwisehen Mythos und Politik soll im „Museum Fridericianum“ erlebbar werden. Risiken wie Pathos und Monumentalität will Schneckenburger hier ganz bewußt eingehen. Immerhin nannte er einige Namen: Joseph Beuys, Anselm Kiefer, Robert Longo, aber auch „documenta-Neulinge“ wie Antony Gormley, Astrid Klein und Marie-Jo Lafontaine. Zum Leidwesen (nicht nur) Schneckenburgers verliert das „Fridericianum“, das zur Zeit zum ständigen Museum umgebaut wird, seinen unfertigen Charakter, mithin eine kunstförderliche Aura.

In der Orangerie und im Auepark soll es eher verspielt, mitunter auch ironisch und sogar dekorativ zugehen. Hier solfen u. a. Wechselwirkungen zwischen Kunst, Architektur und Design dargestellt werden.

350 000 bis 400 000 Besucher erhofft sich die „documenta GmbH“ (Etat: 7,15 Mio. DM). Damit die kulturbeflissenen Gäste aus aller Welt sich auch im abendlichen Kassel nicht langweilen, wird das Staatstheater seine Saison eigens um drei Wochen verlängern.




Kunst aus dem Flugzeug macht den Himmel zur „unendlichen Leinwand“ – Kassel: Bestandsaufnahme der tollkühnen „Malerei im Äther“

Von Bernd Berke

Kassel. Vor der Kunst kam die Reklame: Anno 1927 war der Himmel über Deutschland voller Werbeflugzeuge, die in Riesen-„Dampf“-Lettern den Namen eines Waschmittels ans Firmament schrieben. Im August desselben Jahres stiegen (laut Bordbuch) sieben Doppeldecker des Düsseldorfer Konzerns auch über dem Ruhrgebiet auf; kaum ein Dorf in Europa blieb verschont. Das Schauspiel setzte die Massen in Erstaunen.

Selbst in Berlin guckte man so verwirrt ins Blaue, das sogar Verkehrsunfälle deswegen passierten. Wie aus den werbenden „Himmelsschreibern“ später „Himmelsmaler“, also Künstler wurden, zeigt jetzt erste größere Bestandsaufnahme überhaupt, eine Ausstellung des Kasseler Kulturamts.

Der Flug zur Kunst ging in den 60er Jahren ab, als man allenthalben die Grenzen des Museums sprengen und sich dem Alltag annähern wollte. Auf der Suche nach einer „unendlichen Leinwand“ durchpflügten etwa die Vertreter der „Land-Art“ ganze Äcker und Wüstenstriche. In diesem Umfeld kam auch die „Sky-Art“ (Himmelskunst) auf. Ältere Ahnen hat diese Kunstrichtung in den Futuristen und deren Bewunderung für grenzenlose Dynamik und Mobilität des Industriezeitalters.

Die mitunter bizarren Kondensstreifen ziviler und militärischer Donnervögel legten die Idee nahe, solche Zeichen ganz bewußt und nach ästhetischem Plan zu entwerfen. Gezeichnete Konzepte, die diese ansonsten sehr flüchtige Kunstrichtung dingfest machen, sind es vor allem, die neben vielem Foto-Dokumenten die Kasseler Schau ausmachen. Aber auch Comics sind zu sehen: Donald Duck, der Teufelskerl, bringt es – „rrroaaarrr!“ – sogar fertig, einen riesigen weißen Delphin ins Blau zu zaubern.

Die echten Himmels-Maler, das leuchtet ein, wollen „Kunst für alle“, wollen eine demokratische Kunst ohne „Schwellenangst“. Was sich „da oben“ künstlerisch tat und tut, ist in der Tat erstaunlich. Alle flugtechnisch denkbaren Figuren und Muster erschienen schon – günstige Wetterlage vorausgesetzt – am Himmel, meist von Piloten nach Künstlerplänen, seltener von tollkühnen Künstlern höchstselbst in den Äther gesetzt. Führend sind (wen wundert’s?) US-Amerikaner wie Steve Poleskie. Immerhin: Bei klarer Sicht will zur Ausstellungseröffhung am Samstag ein Deutscher (Jörg Steber aus Hamburg) seine Schleifen drehen.

Das Monopol auf Farbe haben immer noch die Militärs

Frappierend die Veränderangen, die die Himmelskunst den Bauten und Landstrichen angedeihen läßt. Durch einige richtig plazierte Himmelsstriche wirkt etwa der streng geometrisch abgezirkelte, altehrwürdige Kasseler Auepark samt Orangerie wie eine gigantische Science-Fiction-Landebahn. Oder: Der Schatten, den die dampfende Flugzeugspur zur Erde wirft, wird als „Boden-Zeichnung“ einkalkuliert. Wie Glücksräder lassen sich Steve Poleskies Konzept-Zeichnungen drehen, die gefährliche Kunst-Sturzflug-Situationen über Kasseler Gebäuden erlebbar machen.

Zahlreiche Arbeiten in der von Harald Kimpel aufgebauten Kasseler Ausstellung nehmen kritisch Bezug auf die militärische Durchdringung der Lüfte bzw. auf allfällige Vergitterung des Ausblicks (etwa durch Strommasten). Auch droben, so sieht man, ist die Freiheit eben keineswegs grenzenlos.

Apropos Militär: Luftwaffen wie die französische, die zu hohen Staatsfeiertagen die Farben der Trikolore aus Düsenmaschinen rinnen läßt, haben immer noch das Monopol auf Kolorierung am Himmel. Wie man es anstellt, daß die Farbpartikel sich nicht vom Dampf ablösen und auf entsetzte Zuschauer niederrieseln, haben die Künstler bis heute noch nicht herausbekommen. Einstweilen muß sich all ihre Kunstanstrengung also noch mit der Eigenfarbe des Himmels und draufgetupften Weiß-Effekten begnügen. Die ganz große Entfaltung der „Sky-Art“ steht daher womöglich noch bevor.

Ein Negativ-Kapitel ist der Umweltschutz. Zwar machen die Himmels-Maler inzwisehen ein großes Geheimnis aus der versprühten Mixtur, doch – so argwöhnt Ausstellungsmacher Kimpel – „ganz ohne schädliche Abgase wird es dabei wohl nicht abgehen.

Die originelle und seriöse Ausstellung (Kassel, Ständeplatz 16) dauert vom 9. August bis 14. September und ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Katalog kostet 20 DM.




Haßtiraden gegen die Kunst und Vandalismus bei der Kasseler documenta 7

Van Bernd Berke

Kassel. Das Team des Hessischen Rundfunks traute den Ohren kaum. Sechs Wochen lang hatte man ein „Mecker-Tonband“ auf der Kasseler documenta postiert. Was den Funkleuten beim Abhören der Bander entgegentönte, erinnerte vielfach an längst überwunden geglaubte Zeiten. Da verschaffte sich Besucherzorn mit Haßtiraden gegen ,,entartete Kunst“ Luft. Ein wütender Zeitgenosse wünschte sich die endgültige Aktion von Joseph Beuys: der Künstler moge sich doch vom hohen Dach des Fridericianums stürzen.

Bei den markigen Worten ist es nicht geblieben. Noch nie wurden auf der im Vier-Jahre-Rhythmus stattfindenden Kunstschau dermaßen viele Schäden durch mutwillige Zerstorung angerichtet wie diesmal. Vorsichtige Schätzungen beziffern den materiellen Verlust auf annahernd 100000 DM. Spektakulärster Fall: Ein Jugendlicher ging mit dem Stock auf eine Spiegelplastik Dan Grahams los. Das Kunstwerk ist nur noch als Torso vorhanden, denn weder die documenta GmbH noch der Künstler haben die Mittel für eine Restauration. Da die Plastik unter freiem Himmel stand und nicht bewacht war, winkten auch die Versicherungen ab.

documenta-Pressesprecher Klaus Becker hält die zahlreichen Zerstörungen nicht fur das Werk einzelner Psychopathen, sondern vermutet einen allgemeinen gesellschaftlichen Trend. ,,Die Einstellung zur Gewalt 1st durchweg laxer geworden.“ Auch Gewalt gegen Personen sei auf dieser documenta bereits einige Male vorgekommen. So wurden mehrere der 80 Kasseler Wärter, die die Kunst vor Unbill schützen sollten, von aggressiven Besuchern mit Fausthieben traktiert. Ohnehin konnen die eigens angeheuerten Studenten gegen die Zerstörungswut wenig ausrichten. Fast alle Schäden werden erst bemerkt, wenn die Verursacher längst über alle Berge sind.

Pressesprecher Becker: „Ich habe zwar kein Verständnis, wohl aber eine Erklärung fur diese Vorfälle. Eine ganze Reihe von modernen Kunstwerken besteht aus Alltagsgegenständen, etwa aus Kuchengerät oder Autoschrott. Vor diesen Werken steht man mit weniger Ehrfurcht als vor einem Rembrandt-Bild und deshalb langt mancher auch schon mal eher hin.“ Hinzu komme, daß sich die documenta 7 nicht mehr allzu betrachterfreundlich gebe, sondern ganz bewußt so konzipiert sei, daß das Kunstwerk einen Teil seiner musealen Eigenständigkeit wiedererlange. An das Publikum sei erst in zweiter Linie gedacht worden. Vermutliche Folge: Der Besucher wird mit seinem Unverständnis (wer ist schon Experte für moderne Kunst) alleingelassen und dies Gefühl schlägt häufig in Angriffslust um.

Am kommenden Wochenende ist ,,Halbzeit“ bei der doumenta 7. Der 6,9-Millonen-Etat ist zwar schon jetzt überschntten, doch hofft man, das Defizit durch einen neuen Besucherrekord wettzumachen. 162 000 Menschen sahen das Sektakel schon. Da die zweite Hälfte der Ausstellung erfahrungsgemäß noch mehr Zuspruch findet, hofft man bis zum Ende (28. September) auf 350 000 bis 400 000 zahlende Gäste.

Wären die Zerstörungen nicht, so könnte man von einer recht positiven Halbzeit-Bilanz sprechen. Die internatiole Presse lobte die Ausstellung teilweise über den grünen Klee. US-Journalisten zeigten sich besonders begeistert von den Arbeiten Anselm Kiefers und stellten das KasseIer Ereignis in ihrer Wertung turmhoch über die Biennale in Venedig. Unerbittliche „Verrisse“ gab es nur in wenigen Alternativblättern, die die Exponate elitär und realitätsfern fanden. Der Großteil der Besucher interessierte sich offenbar am meisten für Malerei, weniger für neuere Kunstformen wie Aktionen und Persformance.




Wo Könige Märchen erzählen – Kasseler Verlag publiziert mündlich überlieferte Geschichten aus aller Welt

Von Bernd Berke

Kassel, Ortsteil Nordhausen. Ein verwitterter roter Backsteinbau. An der Mauer ein unscheinbares, verblichenes Schild: „Erich Röth Verlag“. Nichts deutet darauf hin, daß hier Schätze gehortet werden. Zwar türmen sich keine Goldbarren, aber es fauchen, fleuchen und brummen so alltagsferne Wesen wie „Der blaue Drache“, „Der Vogel Mitternacht“ und „Der Bärensohn“. Die Rede ist von Märchen und von Büchern.

Verleger Diether Röth (58), der die Edition übernahm, hat am Kasseler Stadtrand so etwas wie eine zentrale Sammelstelle für Märchen aus aller Herren Länder eingerichtet. Röths besondere Methode: Er schickt Märchensammler in sämtliche Erdteile, wo die wun- dersamen Geschichten vor Ort mit dem Tonbandgerät so aufgezeichnet werden, wie sie aus dem Mund des Erzählers kommen. Und so – natürlich ins Deutsche übersetzt – werden sie auch abgedruckt. Bei der Übertragung in unsere Sprache wird streng darauf geachtet, daß die Frische des gesprochenen Worts nicht verlorengeht. Diether Röth: „Auf diese Weise bleibt die Lebendigkeit unmittelbaren Erzählens erhalten. Das wirkt anders als der trockene Stil von Grimms Märchen.“

Schon die Untertitel der so entstandenen Bücher klingen märchenhaft-abenteuerlich. Beispiele: „Reiter auf dem Elch. Erzählt von dem Berglappen Siri Matti“; „Aura Poku. Erzählt von König Anubli und Stammesältesten“; „Das Elefantenspiel. Erzählt von Häuptling Schungwitscha“.

In dem früher in Thüringen ansässigen Kleinverlag, der heuer 60 Jahre alt wird, erscheint demnächst der fünfzigste Band der Paradereihe „Das Gesicht der Völker“. Röth, der diese Märchenkollektion als sein Lebenswerk bezeichnet, ist ein Verleger alten Schlags. Er achtet nicht so sehr auf die Rendite, sondern produziert Bücher, die ihm selbst gefallen. Die vor ein paar Jahren anbrandende Folklore-Welle kam auch den Auflagenzahlen seiner Bücher (je nach Band zwischen 3000 und 5000) zustatten. Röth: „Ich habe mich aber nie nach solchen Moden gerichtet. Originalausgaben wie meine Märchenbücher müssen ,ausreifen‘ und können nicht kurzfristig auf den Markt geworfen werden.“

Ein Medienriese ist Röths Verlag mit dieser Philosophie nicht geworden. Druckort ist – aus Kostengründen – Budapest. Diether Röth beschäftigt in seinem Unternehmen lediglich drei Halbtagskräfte. Er ist sein eigener Graphiker, sein eigener Lektor. Er entwirft die Bucheinbände selbst und erstellt die Anmerkungen am Schluß jedes Bandes in Eigenarbeit. Auch sieht er sich außerstande, den Märchensammlern die Kosten für Reisen in ferne Gefilde zu erstatten. Daher sind es oft Entwicklungshelfer oder deren Ehepartner, die nebenbei auf Märchenjagd gehen.

Beispiel Marianne Klaar. Die 75jährige Freiburgerin ist Roths Spezialistin für griechische Märchen, ganz besonders für jene, die auf den griechischen Inseln erzählt werden. Durch langjährige Beschäftigung mit den Inseldialekten wurde sie zu einer von den Einheimischen akzeptierten Gesprächspartnerin. Diether Röth: „Sie gewann das Zutrauen der einfachen Bevölkerung eher, als es einem Athener möglich wäre. Der hätte nämlich nach Meinung der Inselbewohner zu gebildet gesprochen und dadurch Distanz geschaffen.“

Auf der Zykladeninsel Lesbos angelangt, ging Marianne Klaar nicht etwa zu Bürgermeistern, um sich von ihnen die besten Märchenerzähler empfehlen zu lassen. Nicht nur Könige und Häuptlinge erzählen in fernen Ländern die Märchen, sondern auch die einfachen Leute. Marianne Klaar mischte sich also unter Volk, nahm teil an dessen Alltag. Ihr Verleger: „Bei der Zubereitung von Osterfladen stellte sie sich absichtlich so ungeschickt an, daß man sie freundlich auslachte. So entstand ganz von selbst die Stimmung, in der man zu Scherzen aufgelegt ist, in der man Schwänke zum besten gibt oder eben Märchen erzählt.

Größere Schwierigkeiten hatte Gisela Borcherding, Frau eines Entwicklungshelfers, auf ihrer Märchensuche in Afghanistan. Sie mußte nämlich erfahren, daß sich auf den Märkten zwar Berufserzähler verdingen, die ihr Geschichten für Bares preisgeben, daß sie jedoch im Nu verstummen, sobald sich ein weibliches Wesen nähert. Teilzunehmen am öffentlichen Leben, und sei es nur, indem sie dem Märchenerzähler zuhört, ist der Frau im Islam verwehrt. Gisela Borcherding wandte Sich nunmehr an ihre Nachbarin oder an umherziehende Holzsammler, die es mit der Landessitte nicht so streng hielten. Mit einem Tonbandmikrophon freilich durfte sie längst nicht allen Gewährsleuten kommen. Manchen galt derlei EIektronik als „Teufelswerk“.

Was geschieht, wenn einem Märchenerzähler das Gedächtnis einen Streich spielt und er gar nicht das im Volk Überlieferte, sondern eine spontane Variante vorträgt? Bevor Diether Röth die Sammlungen publiziert, prüft er jedes Detail. Dabei zieht er dickleibige Wälzer zu Rate, in denen praktisch alle Märchenelemente, die je bekannt wurden, erfaßt sind – insgesamt über 2000. Für Röth, der seit 30 Jahren täglich mit Märchen zu tun hat und unter anderem Völkerkunde studierte, sind die Überprüfungen meist Routinesache. Einmal stutzte jedoch auch er: Ein griechisches Märchen lag in einer so seltsamen Fassung vor, daß es lange dauerte, bis Röth hinter die Ursache kam. Der Erzähler hatte, ohne böse Absieht, ein uraltes Märchen aus Hellas mit der Handlung einer Geschichte aus „1001 Nacht“ verwoben, letztere noch dadurch verfremdet, daß er sie einem in Griechenland erschienenen Groschenheft entnommen hatte. Überhaupt werden wohl Trivialheftchen und andere Massenmedien auch in entlegenen Ländern das Sammeln unverfälschter Märchen zunehmend erschweren.

„Vielleicht bleiben uns noch 10 Jahre“, grenzt Diether Röth den Wettlauf mit Zeit und Ziviliation ein. Ganz dringend sucht er daher noch Märchen aus der Karibîk und Märchen der nordamerikanischen Indianer. Da Eile geboten ist, bat Röth die UNESCO um finanzielle Unterstützung. Die Weltorganisation lehnte jedoch ab. Röth argumentiert, daß seine Buchreihe, aus der einiges auch schon ins Russische übersetzt wurde, das Verständnis für fremde Völker fördern könne und damit ein kleiner Beitrag zur VöIkerverständigung sei.

Heftig dementiert Diether Röth hingegen die Behauptung, daß Märchen nur für Kinder geeignet seien: „Manchmal ist das Gegenteil der Fall. In einigen, sehr sittenstrengen Ländern werden die Kinder sogar hinausgeschickt, wenn die Erwachsenen einander Märchen erzählen“.

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WR-Wochenendbeilage Weihnachten 1981