Glanzvoll und ohne Verstörung: Toshiyuki Kamioka triumphiert in Wuppertal mit Mahler

Toshiyuki Kamioka. Foto: Andreas Fischer

Toshiyuki Kamioka. Foto: Andreas Fischer

Man möchte Gustav Mahler widersprechen: Doch, doch, das Beste in der Musik steht in den Noten, wenn sie jemand wie Toshiyuki Kamioka zum Klingen bringt. Als Opernintendant so ärgerlich gescheitert, triumphiert er nach wie vor als Dirigent: Das Wuppertaler Publikum liebt und feiert ihn, wie jetzt nach dem Konzert mit Mahlers Dritter Symphonie in der Historischen Stadthalle. Und das nicht ohne Grund: Was in den Noten steht, erfährt unter Kamiokas temperamentvoller, aber stets bewusst auf den Punkt geführter Leitung eine glanzvolle Wiedergabe.

Bei einer oft als „monströs“ beschriebenen Riesen-Symphonie wie Mahlers Dritter braucht es eine klare Linienführung und eine deutlich konturierte Klang-Disposition, soll nicht die formal disparate Anlage in ein lärmendes Chaos münden. Kamioka hält mit dem Sinfonieorchester Wuppertal die nötige eiserne Disziplin: Exakt abgestimmt treffen Streicher und Bläser aufeinander, die gewaltigen Eruptionen vor allem des ersten Satzes schleudern ihre Klangschichten stets differenziert in den Raum, kein Notenrauch vernebelt, was sich in den Momenten strahlend-majestätischer Entfaltung – die Kamioka offenbar sehr liebt – oder in tintiger Verdüsterung ereignet.

Auch die verzerrten Schein-Zitate aus militärischem Geschmetter oder die grell-primitiven Melodiefetzen von Jahrmarktsmusik sprengen die klare Disposition nicht. Kamioka zeigt sich als Souverän, der auch über scheinbar chaotische Bewegungen seiner Klangtruppen einen napoleonisch kühlen Überblick wahrt und die glänzend auf ihn eingestimmten Sinfoniker zum Siege führt.

Überhaupt das Orchester: Es muss sich mit diesem Mahler vor der Konkurrenz der Klangkörper der Umgebung nicht verstecken. Schon die entschiedene Exposition der Hörner lässt keinen Zweifel am versierten Umgang mit schwierigem Material. Wenn die Holzbläser mit ihrem Unisono den Marsch höllisch einfärben, wenn das mit acht Mann besetzte Schlagwerk im Pianissimo seine Kraft bändigt, wenn die hohen Streicher flirrend helle Kontraste ohne Scharten und Kratzer präsentieren, weiß man das Mahler’sche musikalische Universum in guten Händen. Vor allem: Die Konzentration bleibt ungebrochen, bis in den ätherischen letzten Adagio-Satz, in der die Entrückung des Klangs bei den Streichern leuchtet, dynamisch sorgfältig gesteigert und intensiv gefüllt. Den ruhevollen Pianissimo-Beginn muss eine Streichergruppe erst einmal so gelöst und „empfunden“ realisieren!

Gustav Mahler auf einem Foto von 1909, zwei Jahre vor seinem Tod.

Gustav Mahler auf einem Foto von 1909, zwei Jahre vor seinem Tod.

Mahlers musikalisches Universum bindet vokale Elemente mit ein: Kathrin Göring zitiert die Worte des Alt-Solos aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ auf dem dunklen Klanggrund wie eine aus dem Irgendwo kündende Prophetin; die Damen des Wuppertaler Opernchors und die Knaben der Wuppertaler Kurrende bringen zum Ausdruck, dass Mahler mit dem Lied „Es sungen drei Engel“ aus „Des Knaben Wunderhorn“ zwischen bewusster Naivität und erhabener Schlichtheit pendelt – auch die Chöre bindet Kamioka konsequent in das Klangbild ein.

Ungeheures Lachen über die Welt

So ist also alles aus den Noten herausgelesen? Mit Sicherheit. Aber die Suche nach dem „Besten“, das Mahler so unbestimmt in seinem Wort anspricht, führt dann doch über Aufgeschriebenes hinaus. Und um das zu finden, hätte Kamioka ein paar Risiken mehr eingehen müssen. Mahler sagte einmal zu seiner Dritten, sie sei ein „ungeheueres Lachen über die ganze Welt“. Über diese abgründige, sarkastisch gewürzte Verunsicherung schwebt Kamiokas Deutung weit hinauf in die Sphären von Schönheit und ungebrochenem Glanz.

Doch, doch, das Grelle, das Dissonante, das Gewalttätige ist präsent, ist von Kamioka gekonnt erfasst und ausgespielt. Aber der Hauch des sarkastischen Ingrimms, die flammende Verzweiflung, die brütende Depression, die sich furchtbar aufbäumende, in Erschöpfung verpuffende Energie – diese Extreme emotionalen Ausdrucks holt Kamioka nicht ein. Verstörung sollte nicht walten, aber die Mahler’sche Welt ist tief, tiefer noch als in den Noten gedacht…

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Das Vierte Sinfoniekonzert des Wuppertaler Sinfonieorchesters am 13. Und 14. Dezember in der Stadthalle präsentiert ein außergewöhnliches Programm mit Musik der polnischen Komponisten Karol Szymanowski, Mieczysław Karłowicz und Wojciech Kilar. Die Leitung hat Antoni Wit, Direktor der Warschauer Nationalphilharmonie. Info: www.wuppertaler-buehnen.de

Mehr Mahler in der Region gibt es am 20., 22, und 23. November in Düsseldorf: In der Tonhalle dirigiert Adam Fischer, neuer Chefdirigent der Sinfoniker, Mahlers Siebte Symphonie. Info: www.tonhalle.de . Im Februar gastiert das Mahler Chamber Orchestra mit der Zweiten Symphonie seines Namensgebers unter Daniel Harding in der Philharmonie Essen (19.), im Konzerthaus Dortmund (20.) und in der Philharmonie Köln (21. Februar 2016). Info: www.mahlerchamber.com




Götterdämmerung für die Gralswelt: „Parsifal“ in kontroverser Deutung in Wuppertal

Wuppertaler Bühnen: "Parsifal", Szene aus dem zweiten Aufzug mit Tilmann Unger und Kathrin Göring. Foto: Uwe Stratmann

Wuppertaler Bühnen: „Parsifal“, Szene aus dem zweiten Aufzug mit Tilmann Unger und Kathrin Göring. Foto: Uwe Stratmann

Was der Gral ist, das sagt sich eigentlich nicht. Der Junge, der sich da etwas abseits von den anderen Studenten an den roten Livreen der Türsteher vorbeidrückt, weiß es auch nicht. Er zuckt die Schultern: Eben doch nur ein Tor? Aber Thilo Reinhardt sagt es uns, im Laufe der fünf Stunden „Parsifal“ an der Wuppertaler Oper.

Der Gral ist demnach ein machterhaltendes Konstrukt, eine Gedanken-Chimäre, ein ideologisches Bücher- und Herrschaftswissen. Parsifal verbrennt am Schluss dieses Buch, den Speer und die Abschussvorrichtung für eine Panzerabwehrrakete gleich mit.

Da war er kurz vorher zurückgekehrt in eine verwüstete Welt (Kompliment für den Inspizienten Klaus Bjarne Kasch: Er hat die Materialschlacht im Griff). Er kommt wieder als UN-Blauhelm, also wohl als Friedensstifter, und feiert wie Christus mit der multiethnischen Soldatenschar ein Abendmahl. Brot wird gebrochen, Wein gereicht, und die traumatisiert zitternde Kundry darf auch mit an die Tafel, die aus zwei umgestürzten, zusammengeschobenen Spinden gebildet ist.

Begonnen hat alles in feinster Ordnung. Die Jungs, die für die Gralswelt vorgesehen sind, absolvieren eine High-End-Erziehung. Wir sehen vor uns die Sporthalle des Colleges (Bühne: Harald Thor, Kostüme: Katharina Gault). Trainer Gurnemanz scheucht die Schläfer hoch. Vor dem Fechten Lockerungsübungen: Schon in diesem Moment ist es einer Dame im Publikum zu viel. Diese Inszenierung habe doch wohl mit Wagner nichts zu tun, ruft sie ins Publikum, bevor sie die Tür geräuschvoll zuklappen lässt. Woher wollte sie das wissen? Denn an diesem Punkt war Reinhardts Exposition durchaus nachvollziehbar: Gurnemanz ist schließlich ein Erzieher, und dass im Vorhof des Grals eine Elite herangezogen wird, ist wohl nicht zu bezweifeln. Auch bei Wolfram von Eschenbach lernt Parzifal die Regeln des Hofes bei Gurnemanz.

Elite-Erziehung im College: Thorsten Grümbel (Gurnemanz) und die Statisterie der Wuppertaler Bühnen. Foto: Uwe Stratmann

Elite-Erziehung im College: Thorsten Grümbel (Gurnemanz) und die Statisterie der Wuppertaler Bühnen. Foto: Uwe Stratmann

Das Bild des exklusiven Internats funktioniert: Bei der Spindkontrolle wird ein Pin-up-Girl entdeckt – und ein Teddy. Dessen Besitzer wird höhnisch gemobbt, bekommt unter den voyeuristischen Blicken seiner Kumpel den Hintern rituell versohlt: Weicheier haben keinen Platz unter künftigen Entscheidern. Sobald Gurnemanz den Rücken kehrt, kehren die das Tier hervor: Kundry, streng-ältliche Sekretärin in altmodischem Kostüm, den Aktenordner mit wichtigen Unterlagen verwaltend, wird ungeniert angemacht: Die jüngsten Berichte über Sex and Crime an englischen Elite-Internaten lassen grüßen.

Parsifal, so legt Reinhardt nahe, bleibt diese Welt fremd. Er schießt mit seinem Pfeil keinen Schwan, sondern den kraftvollsten Turner an, der ganz am Anfang sein Können an den Ringen demonstriert hat. Irritierend, aber schlüssig: Es ist sein erster, unbewusster Angriff auf diese Welt kanalisierter Gewalt und unterdrückter sexueller Kräfte. Die Schüler dagegen sehen während Gurnemanz‘ moralischer Tierschutztirade interessiert zu, wie sich der junge Mann im Blut windet.

Amfortas - das Opfer: Die Szene der "Gralsenthüllung" in Thilo Reinhardts Deutung von Wagners "Parsifal" in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Amfortas – das Opfer: Die Szene der „Gralsenthüllung“ in Thilo Reinhardts Deutung von Wagners „Parsifal“ in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Der Gral: Amfortas, ein Alt-68er mit wirren langen Haaren, ist das kostbar mit einem priesterlichen Mantel geschmückte Opfer. Einer, der einst einen Fehler gemacht hat. Er wird auf einem Blech wie ein Gekreuzigter montiert. Die ausgestreckten Arme, kunstvoll aufgeritzt, spenden das Blut, das livrierte Pedelle auffangen und den Rittern kredenzen. Die Schüler saufen derweil das Blut, das herabrinnt und sich am unteren Blechrand in einer Rinne sammelt. Ein verstörendes Bild ungenierter Brutalität. Champagner schwebt herab, ein Foto zur Erinnerung beendet das Ritual.

Wer bist du, grabender Greis? In Wuppertals "Parsifal" wird tief geschürft. Thorsten Grümbel (Gurnemanz) und Tilmann Unger, als Soldat zurückkehrend, im dritten Aufzug. Foto: Uwe Stratmann

Wer bist du, grabender Greis? In Wuppertals „Parsifal“ wird tief geschürft. Thorsten Grümbel (Gurnemanz) und Tilmann Unger, als Soldat zurückkehrend, im dritten Aufzug. Foto: Uwe Stratmann

Parsifals Erkennen durch den Kuss, so darf man annehmen, sprengt diese Welt aus den Fugen. Im dritten Akt sind die Spinde umgestürzt, Gurnemanz, ein grabender Greis, stählt jetzt seine Muskeln mit der Erdschaufel. In einem der Stahlschränke entdeckt er Kundry: Ihr Stöhnen, als sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtet, hat etwas von: „Oh mein Gott, wie seh‘ ich aus!“

Aber, ein Glück, der Ordner mit Kundrys Unterlagen hat das Unglück überstanden! Als gute Verwaltungskraft strebt sie danach, wenigstens die Papiere in Ordnung zu bringen: „Wie anders schreitet sie als sonst …“. Ein Zug alter Krabbler erscheint, versucht, sich noch einmal für das Ritual in Form zu bringen. Vergeblich: Parsifal pfeffert die Kultgegenstände ins Feuer: Speer, Buch, Rauchmantel vergehen. Götterdämmerung für die Gralswelt.

Auch wenn die Botschaft der Bilderflut, die Thilo Reinhardt und der immer wieder einfallsreiche Harald Thor entfesseln, am Ende doch ins Vordergründige abgleitet, bleibt die geistige Basis der Inszenierung bemerkenswert, ihre szenische Durchführung angemessen, auch wenn sich die Bilder kritisch befragen lassen: Blauhelmsoldaten stehen nicht unbedingt für das Mitleid, das Wagner aus christlichem und schopenhauerischem Gedankengut entwickelt hat. Auch die Konzeption der Figuren lässt zu viele Fragen offen: Titurel – der zuverlässige Martin Blasius – vielleicht der Vorsitzende des Schulträger-Komitees? – bleibt eine zu blasse Nebenfigur. Kundry verliert sich im dritten Akt im Ungefähren. Und Klingsor gewinnt nur schwerlich eine eigenständige Kontur, wird sehr funktional konzipiert.

Symbol- und Gedanken-Raum: Klingsors Reich im Entwurf Harald Thors in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Symbol- und Gedanken-Raum: Klingsors Reich im Entwurf Harald Thors in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Der zweite Akt in einem weißen (Gedanken-)Raum lässt sich als innerer Reifungsprozess Parsifals lesen – mit Kundry als rotgewandeter Fantasiegestalt des herausfordernden Weibes, einer verschleierten Dame, die sich zum Schluss als Klingsor-Transe entpuppt, und einer bräutlichen Gestalt, die man als Erscheinung von Parsifals Mutter Herzeleide lesen kann. Dennoch: Szenisch kann Wuppertal mit Thilo Reinhardts Phantasmagorie weit eher punkten als Essen vor zwei Jahren mit Jochen Schlömers verqueren Konstrukten.

Das gilt für die Szene, nicht jedoch für die Musik: Hat Stefan Soltesz am Aalto-Theater ein weites Panorama musikalischer Subtilität eröffnet, bleibt Toshiyuki Kamiokas Lesart in Wuppertal auf schmaler Spur. Schon die rasche Eröffnung – Kamioka sucht nach einem modernen, entmystifizierten „Parsifal“-Klang – ist ohne Reiz phrasiert, mit einer zu langen Generalpause und befreit vom Blühen der Bögen.

Die sinnliche Magie der Klangmischungen Wagners wird reduziert auf rationale Blässe. Geheimnislos buchstabiert Kamioka wichtige Motive, auf das subtile Spiel des allmählichen Erblühens und Erblassens, Trennens und Verschmelzens des musikalischen Materials lässt er sich nicht ein. Im dritten Aufzug verlieren sich die Violinen dünn und klangarm; den spannungsvollen Weg zum Finale verfolgt Kamioka lapidar und glatt. An die großen Parsifal-Dirigate der Geschichte darf man nicht denken.

Der Tenor Tilmann Unger singt in Wuppertal den Parsifal. Das Foto wurde von den Wuppertaler Bühnen zur Verfügung gestellt.

Der Tenor Tilmann Unger singt in Wuppertal den Parsifal. Das Foto wurde von den Wuppertaler Bühnen zur Verfügung gestellt.

Auch die Sänger kommen zum guten Teil nicht über den Durschnitt hinaus; von der internationalen Klasse, die Kamiokas Stellvertreter Joachim Arnold angekündigt hatte, ist wenig eingelöst: Thomas Gazheli – er hat den Amfortas wie viele andere Wagner-Partien bei den Festspielen in Erl gesungen – bleibt rau, angestrengt, gefährdet in der Höhe. Thorsten Grümbel von der Deutschen Oper am Rhein strahlt als Gurnemanz weder szenische Autorität aus, noch kann er mit seinem verlyrisierten, zeitweise dünn und ungestützt klingenden Gesang überzeugen.

Andreas Daum (Klingsor), viel beschäftigt an der Wiener Volksoper, und Kathrin Göring (Kundry), im Wagner-Fach in Leipzig regelmäßig eingesetzt, gehören zur positiven Bilanz des Abends. Daum singt mit überlegter Präsenz; Göring neigt manchmal zur Härte, hat aber Emission und Vibrato tadellos unter Kontrolle.

Der Parsifal ist Tilmann Unger, jugendlich gutaussehend, der mit der Partie vor einem Jahr in Innsbruck debütiert hat. Der Tenor hat von Würzburg ausgehend seine Karriere geduldig aufgebaut; das zahlt sich aus: Sein Ton ist noch nicht ganz frei gebildet, aber die Stimme wirkt gesund und unangestrengt, hat eine dunkel-sinnliche Farbe und gestalterisches Potenzial.

Der Chor von Jens Bingert gibt sein Bestes – und das ist beachtlich. Dass er im Schlussbild auseinanderfällt, mag auch der Szene geschuldet sein. Dieser „Parsifal“ wird – wie schon im Premierenbeifall – Kontroversen auslösen. Das macht nichts: Wagner als Liturgie großbürgerlicher Kunstreligion hat sich längst überlebt, und Thilo Reinhardt bietet zumindest den Stoff, aus dem sich neue Ideen entwickeln.

Weitere Vorstellungen: 4. und 6. April. Info: www.wuppertaler-buehnen.de