Der Kindsmord als klingende Tragödie: Aribert Reimanns Oper „Medea“ im Aalto-Theater

Medea (Claudia Barainsky) hütet das goldene Vlies. (Foto: Karl Forster)

Medea (Claudia Barainsky) hütet das goldene Vlies. (Foto: Karl Forster)

Medea. Die Frau, die ihre Söhne ermordet. Die schöne, stolze, mythenumwobene Priesterin und Zauberin aus Kolchis (heute Georgien), Hüterin des goldenen Vlieses, die zu Göttern und Naturgewalten Kontakt hat. Wer erfasst ihre Tragödie, das schlimme Schicksal der liebenden Königstochter, die vom Argonautenführer Jason erst ausgenutzt, dann in die Fremde verschleppt, allein gelassen, betrogen und schließlich sogar verstoßen wird? Wer vermag die entsetzliche Tat zu begreifen, mit der sie sich am treulosen Gatten rächt?

Viele haben es über Jahrtausende hinweg versucht. Beginnend bei Euripides, der den Stoff 431 vor Christus in seinem Trauerspiel „Medea“ aufgriff, befassten sich zahlreiche Schriftsteller, Dichter, Maler, Komponisten, bildende Künstler, Filmregisseure und Tänzer mit diesem Mythos. Untrennbar mit ihm verbunden ist der Name der Sängerin Maria Callas, die Luigi Cherubinis Oper durch ihre grandiose Gestaltung der Titelpartie dem Vergessen entriss.

Einer der namhaftesten Komponisten unserer Zeit fühlte sich von Franz Grillparzers Drama „Medea“ inspiriert: Aribert Reimann, geboren 1936 in Berlin, einst Schüler von Boris Blacher, Träger des Ernst von Siemens Musikpreises sowie des „Faust“-Theaterpreises für sein Lebenswerk. Für seine gleichnamige Oper in vier Bildern, uraufgeführt am 28. Februar 2010 an der Wiener Staatsoper, extrahierte er selbst das Libretto.

Kampf um die Liebe, Kampf um die Kinder: Medea (Claudia Barainsky) und Jason (Sebastian Noack). (Foto: Karl Forster)

Im Essener Aalto-Theater, das Reimanns Werk jetzt neu in Szene setzt, erzählt der Komponist vor Beginn der Premiere höchstselbst von der Faszination am antiken Stoff. Er schwärmt von der Sprache Grillparzers, die ihn unmittelbar zu Musik inspiriert habe, und schildert seine langjährige Zusammenarbeit mit der Sängerin Claudia Barainsky, die am 28. Februar 2010 mit großem Erfolg die Uraufführung an der Wiener Staatsoper sang. Nach Produktionen in Frankfurt, Tokio und Berlin hat Essen nun erneut Claudia Barainsky für die Titelpartie engagiert.

Weiß Gott keine schlechte Entscheidung, wie sich am Premierenabend rasch zeigt. Barainsky, die bei der Ruhrtriennale 2006 als Marie in Bernd Alois Zimmermann „Die Soldaten“ glänzte, kennt keine Furcht vor dem aberwitzigen Koloraturgewitter, in das sie als Medea immer wieder ausbrechen muss. Sie schafft es, die für Reimann charakteristischen zackigen Gesangslinien mit Emotion anzufüllen, die Koloratur wie eine Waffe einzusetzen, wann immer die Figur der Medea sich in die Enge getrieben sieht.

Obgleich selbst von eher geringer Körpergröße, verleiht die Barainsky der Titelheldin ein staunenswertes Format. Sie wirft sich mit voller Wucht ins Spiel: nicht etwa als augenrollende Furie, sondern als leidenschaftliche Frau, die wieder und wieder gedemütigt wird. In der Regie von Kay Link, der in Essen bereits „Into the little Hill“ von George Benjamin in Szene setzte, erscheint sie schließlich wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

Medeas Söhne werden rasch von den Korinthern vereinnahmt. (Foto: Karl Forster)

Dazu tragen auch die Kostüme bei. Ganz in Rot gewandet, ist Medea die Fremde, die Außenseiterin gegenüber den Korinthern, die ihr in kühlem Aalto-Blau entgegentreten. Oft lauert sie wie ein Tier unter dem Königspalast des Kreon, ein asymmetrischer, einsehbarer Kubus, der auf hohen Stelzen steht und nur über Treppen zu erreichen ist (Bühne, Kostüme und Video: Frank Albert). Kay Link bewegt die Figuren so, dass Rangordnungen sofort augenfällig werden.

Bis Medea im ersten Teil des Abends das goldene Vlies vergraben und Bekanntschaft mit den Korinthern geschlossen hat, bleibt das Geschehen auf der Bühne oft statisch. Aber der zweite Teil nimmt Fahrt auf: Beim Versuch einer Aussprache mit Jason und beim Kampf um die Kinder spitzt sich das Drama zu. Das Ensemble rund um die Barainsky muss stimmlich kaum weniger Virtuosität beweisen. Es hält sich höchst ehrbar: Als Kreons Tochter Kreusa brilliert Liliana de Sousa mit Melismen in klarer, absichtsvoll kalter Höhe. Empathie findet Medea bei ihrer Amme Gora, der Marie-Helen Joël Großherzigkeit und Wärme verleiht. Hagen Matzeit führt seinen Countertenor in nachgerade artistischer Manier, um die vertrackten Intervallsprünge zu meistern.

Ein kurzer Moment der Annäherung: Medea (Claudia Barainsky, l.) versucht sich zu adaptieren (Liliana de Sousa als Kreusa, r. ) (Foto: Karl Forster)

Auch Sebastian Noack (Jason) und Rainer Maria Röhr (Kreon) engagieren sich auf Äußerste, zumal der Komponist unter den Premierengästen ist. Aber gegen die starken Frauenfiguren wirken die beiden Sänger beinahe etwas blass. Der Tscheche Robert Jindra dirigiert die Essener Philharmoniker mit großer Kompetenz durch Aribert Reimanns dicht gewobene, dem Ohr oft sperrige Partitur. Eine Dauer-Nervosität, eine beinahe nervenzerrüttende Spannung tönt da aus dem Orchestergraben. Schockierend wirken die blockhaften Einsätze der Instrumentengruppen, insbesondere die brutalen Blech-Cluster, die das Bühnengeschehen häufig kommentieren. Die Essener Philharmoniker übernehmen eine sehr aktive Rolle in dem Drama, sind quasi der siebte Hauptdarsteller, der ständig mit den Sängern interagiert.

Am Ende erhebt sich das Publikum zu Ehren von Aribert Reimann von den Sitzen. An seinen „Lear“, den das Aalto-Theater vor 18 Jahren in der Inszenierung von Michael Schulz zeigte, mag mancher sich an diesem Abend auch erinnern.

(Termine und Informationen:https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/medea/)




Festspiel-Passagen II: Händels „Giove in Argo“ in Bad Lauchstädt mit Sinn fürs Komische

Jupiter, das wissen wir aus der antiken Mythologie und von Jacques Offenbach, war nicht zimperlich, wenn es um seine Amouren ging: Europa näherte er sich als Stier, Leda als Schwan, Danae als Goldregen und, naja, Eurydike sogar als dicke goldene Fliege. Zu Georg Friedrich Händels Zeiten waren die erotischen Histörchen um den Göttervater noch wohlbekannt, und so konnten sich die Besucher seiner Oper „Giove in Argo“ schon denken, was Jupiter im Nordosten der Peloponnes zu suchen hatte …

2014 herrscht in Griechenland allerdings Depression, und so verlegt Kay Link in seiner Inszenierung von „Giove in Argo“ für die Händel-Festspiele Halle die göttlichen Eskapaden in einen verödeten Flughafen. Im angegammelten Ambiente des Terminals, das Olga von Wahl auf die Bühne des historischen Goethe-Theaters in Bad Lauchstädt gebaut hat, treffen sich die an den Abfertigungsschaltern des Schicksals Gestrandeten: Iside, Tochter eines ermordeten Königs und dürstend nach Rache. Osiris, ägyptischer König, ihr Verlobter, getarnt als biederer Tourist Erasto. Calisto, Tochter eines Mörders und Tyrannen, ein blondes Girl aus einem teuren College. Und Licaone, der den König von Argos ermordet und damit alle Unbill entfesselt hat, ebenfalls auf der Flucht: mit silbernem Geldkoffer durch den Zuschauerraum und über die Bühne. Die Flüge sind alle gecancelt: Aus dem Terminal entkommt die nächsten drei Akte keiner.

Flughäfen sind heute, was Bahnhöfe für das letzte Jahrhundert waren: Schauplätze des Abschieds, der Flucht, der Heimatlosigkeit, zufälliger Begegnungen und unaufhaltsamer Abläufe. Eine passende Metapher also, um das komplizierte Netzwerk der Handlung, aufgespannt von einem Libretto, das ursprünglich von Antonio Lotti für Dresden vertont wurde, zu verorten. Händel hat es benutzt, um 1739 in London in Windeseile eine Oper aus der Feder zu schütteln. Mit ihr wollte er zwei neue Sängerinnen präsentieren und der Konkurrenz in Covent Garden die Stirn bieten.

Für das Komponieren neuer Musik blieb wenig Zeit: „Giove in Argo“ ist ein „Pasticcio“. Die Arien entnahm Händel aus neun eigenen und einer fremden Oper, zwei Serenaden und einem Oratorium. Immerhin sechs Arien sind neu, ebenso einer der acht Chöre, zwei Ariosi und die Secco-Rezitative. Letztere sind allerdings nur für den ersten Akt erhalten; die der beiden anderen schrieb der Rekonstrukteur des Werkes, John H. Roberts, neu.

Lange hielt man die Oper für nicht mehr aufführbar, bis Roberts 2001 die fehlenden Arien entdeckte: Sie stammen von Francesco Araia, Kapellmeister der italienischen Oper am Hof in St. Petersburg, und sind an Qualität und Wirkung den Händel’schen Arien gleichwertig. „Giove in Argo“ blieb dennoch selten gespielt: Die Inszenierung anlässlich der Händel-Festspiele in Halle ist – laut der Datenbank des Händel-Hauses – erst die zweite nach der modernen Erstaufführung in Bayreuth 2006.

Die Flughafen-Metapher macht es dem Regisseur dank der Kostüme Olga von Wahls möglich, die Machtverhältnisse zu verdeutlichen. Die Götter treten als Flugpersonal auf – ohne das der Passagier an die Erde gefesselt bleibt: Jupiter in Pilotengala in Weiß und Gold, Diana und ihr Damen-Gefolge in adrettem Fliegerblau mit engen Röcken und Schiffchen im Haar. Als Jupiter sein erstes Opfer Iside umgurrt, rückt das Stück aus dem Schema der „opera seria“ in die Nähe einer Offenbachiade des 18. Jahrhunderts: Der gefährliche Unernst der Avancen des Gottes entspricht der rührend pubertären, schockierend radikalen Entschlossenheit der Iside: Für ihre Rache ist sie sogar zum Sex mit einem Mann bereit, der ihr sonst von Herzen gleichgültig wäre.

Beim zweiten Opfer, der höheren Tochter Callisto in knallrotem Dress, kommt der Göttervater seiner Tochter Diana ins Gehege: Die hat mit ihren militärisch gedrillten Jungfrauen im Sinn, das Oberschicht-Mädel für Abstand von den Männern und „Keuschheit“ zu gewinnen – aus welchen durchsichtigen Gründen, zeigt der unverhohlene Annäherungsversuch der Göttin. Wenn nach dem Hin und Her der drei Akte nach gut drei Stunden die Lösung naht, hat das Finale etwas von der ironisch-abrupten Art Offenbachs: Jupiter bestimmt einfach, wie es zu laufen hat, macht aber die Rechnung ohne seine düpierte Tochter Diana: Die ersticht den Mörder Licaone durch die Kulisse und lässt den obersten Gott durch ihre Damen in der Versenkung verschwinden, als fahre Don Juan in die Hölle. Frauen-Power trägt den Sieg davon.

Da Händel die Arien mit Bedacht auswählte, haben wir in „Giove in Argo“ eine Hitliste bezaubernder Musik von „Alcina“ bis „Teseo“. Und die Musik Francesco Araias in seinem großen Accompagnato „Iside, dove sei“ und der Arie „Ombra che pallida“ bewegt sich auf Augenhöhe mit Händel: Dessen Accompagnato des zweiten Akts eröffnet eine expressive Wahnsinns-Szene, mit der jede Sängerin brillieren kann, und die Händel mit grellen Dissonanzen selbst für Ohren des 21. Jahrhunderts musikalisch bezwingend aufrüstet.

Nun ist die Iside der Bad Lauchstädter Aufführung, Roberta Mameli, zwar eine höchst präsente Darstellerin, kann aber mit ihren gesanglichen Mitteln nicht überzeugen. Ihre Expressivität ergibt sich aus einer zweifelhaften Methode deklamierenden Sing-Sprechens, das aufs erste Hören wirkungsvoll ist, aber im Lauf des Abends eher verärgert als erfreut: Das beginnt bei einem mal kopfigen, mal in die Nase getriebenen Klang, führt sich fort über unklare Artikulation und endet bei dünnen, sentimentalen Piani. Von einer gleichmäßigen Bildung der Töne, einer stetigen Führung des Atems oder einer kontrollierten Emission – alles Grundforderungen des „Belcanto“ des 18. Jahrhunderts – kann keine Rede sein. Verwunderlich, dass „historisch informierte“ Dirigenten, die sich sonst um jede Darmsaite kümmern, mit einem solchen Gesangsstil zufrieden sind. Er hätte in der Tat eher seinen Platz in den Offenbach’schen Bouffes-Parisiens als im Theater Georg Friedrich Händels.

Erfolgreicher zeigt Natalia Rubiś als Einspringerin in der Partie der Callisto, wie solide Technik dem Ausdruck des Singens zuträglich ist: Mit ihrem hell timbrierten, schlanken Sopran lässt sie Staccati, punktierte Noten und elegante Figuren keck abspringen; erfüllt ihre Klagearie im dritten Akt mit feiner Wärme. Barbara Emilia Schedels harter, präziser Sopran, technisch fragwürdig, passt zur Figur der Diana als energischer Lesbe. Unter den Männern positioniert sich Krystian Adam als Jupiter – unter dem Decknamen Arete – vorteilhaft: Er lockert die anfangs angespannte Stimme, singt zunehmend geschmeidig, kann auch mit nuancierten Farben gestalten. Thilo Dahlmann (Erasto) artikuliert nicht sehr elegant, aber deutlich; Johan Rydh (Licaone) bietet festgefahrene, auf dem Atem gestoßene Töne.

Mit Werner Ehrhardt am Pult seines 2004 gegründeten Orchesters „l’arte del mondo“ stellen sich erlesenere Händel-Freuden ein. Ehrhardt pflegt einen gelasseneren, metrisch unangestrengten, freier schwingenden Klang als etwa Laurence Cummings in Göttingen. Lockere Tempi, ein nuanciertes Spiel der Streicher, entspannte Phrasierungen und angenehm saubere Bläser kennzeichnen das Ensemble. Ehrhardt entlockt seinen Musikern für jede Arie eine eigene, charakterisierende Färbung, schaut genau auf den Rhythmus, lässt auch Effekte nicht aus – etwa die düsteren Forte-Akzente der tiefen Streicher oder die dissonanten Blitze des zweiten Akts. Und auch der Chor, das mit vibratolos „weißen“ Stimmen singende Vokalensemble „l’arte del mondo“, findet einen locker schwingenden, rhythmisch aparten oder verdichtet dramatischen Klang.

Die Händel-Festspiele Halle haben mit „Giove in Argo“ wieder verdienstvolle Ausgrabungs-Arbeit geleistet. Die Regie Kay Links bricht mit Gespür für komische Nuancen das böse Spiel um Macht und Begehren auf, ohne ihm seine Brisanz zu nehmen. So gesehen könnte dieses Pasticcio das Händel-Repertoire durch eine ungewöhnliche Farbe ergänzen.